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Schon als Kind ist Ihel sich der Tatsache bewusst, dass sie anders ist als die anderen Bewohner der atressischen Küstensiedlung. Ihre blaue Haut weist sie eindeutig als Elungerin aus. Doch sie kennt nur dieses Leben, ihre Mutter Peerin, halb Atresserin und halb Elungerin, siedelte schon vor Ihels Geburt in das Nachbarland über. Jahrelang glaubt Ihel, dies sei aus Kummer über den Tod ihres Mannes geschehen. Doch im Alter von siebzehn erfährt sie, dass ihr Vater weder tot noch elungischer Herkunft ist. Er stammt aus dem fernen Cytria. Sie macht sich auf, um ihn zu finden. Ihre Suche ist bald mehr als der Versuch, ihre Herkunft zu ergründen. Eine Prophezeiung lädt die Verantwortung für das Wohlergehen der Welt auf ihre Schultern. Wie gut, dass sie die Last nicht alleine tragen muss, sondern in dem Cytrianer Waylen einen Mann findet, der ihr nicht nur den Schutz seiner starken Arme bietet. „Tochter aller Völker“ bildet den Abschluss der vierteiligen Welten-Nebel-Reihe. Obgleich es empfehlenswert ist, die vorangegangenen Teile zu kennen, kann das Werk einzeln gelesen werden.
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Seitenzahl: 198
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Tochter aller Völker
Karten
Wurzeln
Auf der Suche
Die wahre Bestimmung
Bewährungsproben
Am Ziel
Epilog
Personen
Orte und Begriffe
Bonus: Die Geschichte der Sechs
Lust auf mehr?
Die Autorin
Impressum
- Fantasyroman von Anja Buchmann -
Welten-Nebel-Tetralogie Band 4
Der Wind trug den Geruch von Salz und Wasser, doch für Peerin war es die Verheißung von Freiheit und von einem neuen Anfang. Ihr Blick richtete sich gen Nordosten, in Richtung ihres Zieles. Im noch fremden Atress lag für sie nicht nur die Hoffnung auf eine neue Heimat, sie hoffte, dort auch die Beschwernisse und die Trauer, den Schmerz und die Enttäuschung der letzten Monde hinter sich lassen zu können.
Es war ihr nicht leicht gefallen, Elung den Rücken zu kehren, schließlich war es ihre Heimat. Andererseits aber erinnerte sie dort alles an Liwam, selbst alltägliche Begebenheiten hatten den Schmerz des Verlustes immer wieder hervorgerufen. Nach unzähligen vergossenen Tränen hatte sich endlich die Chance zur Flucht ergeben. Gegen alle Widerstände hatte sie sich einen Platz auf dem Schiff in Richtung Atress erstritten, hatte darauf bestanden, Teil der Expedition in das Nachbarland zu werden.
Als sie an Bord des Schiffes gegangen war, war eine große Last von ihr abgefallen. Sie war nun frei, musste sich endlich nicht mehr verstellen, musste ihre Gefühle nicht mehr verbergen. Nicht einmal ihre Eltern wussten um den wahren Grund für ihr Fortgehen, auch ihnen hatte sie verschwiegen, was sich zwischen ihr und Liwam ereignet hatte. Sie hatte um jeden Preis verhindern wollen, dass sie sich ihrer schämten, oder, was wahrscheinlich noch schlimmer gewesen wäre, Mitleid mit ihr empfanden. Sie war durch ihre eigene Schuld in diese Situation geraten, daher musste sie die Konsequenzen alleine tragen. Also hatte sie ihre Tränen verborgen, ihren Kummer hinter der Maske der Unbeschwertheit versteckt. Sicher hätte sie damit fortfahren können, bis der Schmerz irgendwann nachgelassen hätte, doch bei aller Selbstbeherrschung, vor einem Mond hatte sie feststellen müssen, dass es etwas gab, was sie nicht würde verbergen können, nicht vor ihren Eltern und auch nicht vor dem elungischen Volk.
Ihre Stellung als Prinzessin brachte es mit sich, dass ihr gesamtes Leben unter den Augen der Öffentlichkeit stattfand. Ihre Entscheidung, Elung zu verlassen, hatte sie daher nicht nur aufgrund ihrer eigenen Gefühle getroffen, sondern auch aus Rücksicht auf das Ansehen ihrer Eltern. Sie vermochte sich nicht einmal auszumalen, was geschehen würde, wenn herauskäme, dass sie, die Tochter von König Gelkan und Königin Bevan, ein uneheliches Kind erwartete.
Es war daher unumgänglich, fortzugehen. Hätte sie die Expedition nicht begleiten können, sie hätte einen anderen Weg ersinnen müssen.
Bis zu ihrer Abreise hatte sie es nicht über sich gebracht, ihren Eltern die Wahrheit zu sagen, hatte stets vorgegeben, ihr Forscherdrang triebe sie zu diesem Schritt. Ihre Tante Süylin war darin ihre größte Unterstützerin gewesen, hatte mit ihrer Fürsprache den Ausschlag für die Zustimmung ihrer Eltern gegeben. Dafür war Peerin ihr sehr dankbar.
Letztendlich aber wollte sie doch, dass ihre Familie die Wahrheit erfuhr. Unter Tränen hatte sie ihrer Mutter beim Abschied einen Brief überreicht, der alles erklärte. Sie hoffte, ihre Mutter würde Verständnis haben, sowohl für ihr Handeln als auch dafür, dass sie es ihr nicht hatte persönlich sagen können. Ihr hatte es einfach an der Kraft gefehlt, sich den Fragen ihrer Familie zu stellen, zu frisch waren die Emotionen gewesen, zu stark noch ihre Trauer.
Auch hätte das Wissen um die Wahrheit den Abschied mitnichten leichter gemacht. Die letzten Tage in Elung waren schwer für Peerin gewesen, immer wieder hatte sie ihren Entschluss verteidigen müssen. Besonders ihre Mutter Bevan hatte sie wiederholt gefragt, ob sie wirklich fortgehen wolle. Schließlich würde die Expedition nach Atress mindestens fünf Jahre dauern. Dabei hätte Bevan ihre Tochter doch am ehesten verstehen müssen, schließlich hatte auch sie sich vor dreißig Jahren aus Forscherdrang und Wissbegierde dazu entschlossen, ihre Heimat Atress in Richtung Elung zu verlassen, und damals war nicht sicher, ob es jemals gelingen würde, Schiffe zu bauen, die die Distanz zwischen Elung und Atress würden überbrücken können. Peerin dagegen würde mit dem nächsten Schiff zurückkehren können, wenn sie es sich anders überlegte.
Natürlich war dies für Peerin keine Option. Sie war fest entschlossen, sich in Atress ein neues Leben aufzubauen. Sie war sich sicher, beim Küstenstamm Aufnahme zu finden, schließlich stammte ihre Mutter von dort. Zwar hatte Peerin die für Elunger typische blaue Hautfarbe von ihrem Vater geerbt, doch da bereits seit mehr als fünfzehn Jahren Kontakt zwischen den Elungern und Atressern bestand, musste sie nicht befürchten, deswegen auf Ablehnung zu stoßen. Auch zeigte ihr muskulöser Körperbau deutlich, dass ebenfalls atressisches Blut durch ihre Adern floss. Ihre Mutter hatte sie die Sprache gelehrt, die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Start in ihr neues Leben waren gegeben. Mit diesem Umstand versuchte sie sich selbst immer wieder Mut zuzusprechen.
Dieser Mut war auch dringend nötig, denn je länger sie darüber nachdachte, umso bewusster wurde ihr, wie vage ihre Vorstellung von einem Leben auf Atress war. Weder wusste sie, womit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollte – als Prinzessin hatte sie schließlich keinen Beruf erlernt –, noch ob sie den Atressern wirklich willkommen wäre. Sicher, sie konnte mit Wissen über Elung aufwarten, konnte ihre Kenntnisse als Forscherin, die sie in der Zusammenarbeit mit ihrer Tante Süylin erworben hatte, anbieten, doch wusste sie nicht, ob dies für die Atresser wirklich von Interesse wäre. Vielleicht wäre es am Einfachsten, sich einen Mann zu suchen, der für sie sorgen würde. Ihre Zukunft lag im Ungewissen, doch für eine Umkehr war es zu spät, sie hatte alle Brücken zur Vergangenheit eingerissen.
Vor dem Eingang ihres Hauses sitzend, beobachtete Peerin, wie ihre Tochter mit den anderen Kindern der Siedlung Fangen spielte. Mit ihrer blauen Haut konnte Peerin sie stets gut in der Gruppe der sonst braunhäutigen Kinder ausmachen. Mit ihren fast sechs Jahren war Ihel sich ihrer Andersartigkeit durchaus bewusst, das hatte ihre Mutter schon bemerkt. Noch aber nahm sie keinen Anstoß daran, ebenso wenig wie ihre Spielkameraden. Irgendwann aber würde Peerin Ihel erklären müssen, warum sie nicht so aussah wie die Atresser. Insgeheim fürchtete sie diesen Tag, denn dann würde sie sich einer Vergangenheit stellen müssen, die sie stets zu vergessen suchte.
Als sie vor über sechs Jahren nach Atress gekommen war, war es nicht einfach für sie gewesen, sich einem Platz in der Gemeinschaft zu erkämpfen. Die Unterstützung ihrer Onkel, einer von ihnen war Anführer des Küstenstammes, war ausgeblieben, zu fremd war ihnen die Nichte aus der Ferne gewesen. Dass sie nun einen Platz im Leben gefunden hatte, war einzig ihrer eigenen Beharrlichkeit zu verdanken. Sie hatte sich nicht gescheut, einfache Arbeiten wie das Flicken der Fischernetze zu übernehmen, hatte stets tatkräftig mit angepackt. Erst als sie sich auf diese Weise bewiesen hatte, hatten die Menschen der Küstensiedlung auch zunehmend Interesse an ihrer Herkunft und ihrem Wissen über Elung und den Rest der Welt gezeigt. Bereitwillig hatte sie Auskunft gegeben und den Menschen viel Wissen vermitteln können. Zuvor hatte sich das einfache Volk kaum um die Vorgänge außerhalb seines Landes geschert, der Kontakt zu den Elungern hatte vorrangig über die Stammesführer der Atresser stattgefunden.
Auch wenn inzwischen mehr als fünfunddreißig Jahre vergangen waren, seit die vier Stämme der Atresser Frieden geschlossen und eine Zusammenarbeit vereinbart hatten, so spielte die Stammeszugehörigkeit noch immer eine große Rolle im Leben der Menschen. Die Stammesführer verfügten innerhalb ihrer Gebiete über großen Einfluss und sie waren es auch, die die Geschicke des Landes lenkten. Daher war es nicht verwunderlich, dass sie und ihre Familien diejenigen waren, an die sich die Abgesandten der Elunger bei ihren Forschungsreisen wandten. Vor Peerins Ankunft hatten sich die Menschen kaum für die Elunger interessiert, da sie darauf vertrauten, dass ihr Anführer den Kontakt in ihrem Interesse gestalten würde. Zumindest war das der Eindruck, den Peerin im Küstenstamm gewonnen hatte. Ob es sich bei den anderen Stämmen, dem Berg-, dem Wald- und dem Steppenstamm, ebenso verhielt, konnte sie nicht beurteilen, da ihr Schiff damals in der Küstensiedlung angelegt hatte und sie diese noch nie verlassen hatte.
Später, wenn Ihel etwas älter wäre, würde Peerin auch die anderen Stämme Atress besuchen, doch noch war sie mehr Mutter denn Forscherin. Ihre Tochter war ihr ganzes Glück. Entgegen ihrer Befürchtungen konnte sie ihr Kind lieben, ohne dabei ständig an seinen Vater denken zu müssen.
Bei ihrer Ankunft in Atress hatte sie vorgegeben, dass sie Elung verlassen hatte, um nicht stets an den Tod ihres Ehemannes erinnert zu werden. Es war ihr leichter erschienen, vorzugeben, der Vater ihres ungeborenen Kindes sei tot, als Missbilligung für die unstatthafte Liebe zu erfahren. Genauso wie die Elunger hatten auch die Atresser in dieser Hinsicht strenge Moralvorstellungen. Als Ihel sie vor ein paar Monden zum ersten Mal gefragt hatte, warum sie nicht wie alle anderen Kinder Vater und Mutter hätte, hatte Peerin auch ihr erzählt, ihr Vater sei gestorben. Jedoch hatte sie sich geschworen, ihrer Tochter irgendwann die Wahrheit über ihre Herkunft zu erzählen. Noch aber war sie zu jung, um es zu verstehen.
Ihel wusste kaum noch, worum es in dem Streit mit ihrer Freundin Hetra gegangen war, doch das, was diese ihr als Reaktion an den Kopf geworfen hatte, vermochte sie nicht zu vergessen. Hetra hatte Ihel gesagt, sie gehöre nicht hierher, sei ohnehin eine Fremde und kein Mitglied des Küstenstammes, sie solle dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen wäre.
Sie versuchte, sich ihre Verletzung nicht anmerken zu lassen und ging ohne eine Erwiderung. Als sie jedoch die Hütte erreichte, die sie zusammen mit ihrer Mutter bewohnte, brach sie in Tränen aus. Dabei hatte Hetra doch nur ausgesprochen, was sie insgeheim schon lange wusste: Sie war nicht wie die anderen, ihre blaue Haut wies sie eindeutig als Elungerin aus. Ihre Großmutter Bevan war zwar Atresserin, doch dieses Erbe zeigte sich lediglich in ihren grünen Augen. Dennoch, Ihel lebte schon ihr ganzes Leben hier, kannte Elung nur aus den Erzählungen ihrer Mutter, die jedoch eher selten darüber sprach, und so hatte sie sich stets als Atresserin gesehen. Vielleicht hatte sie sich in dieser Hinsicht selbst betrogen, möglicherweise war es wirklich an der Zeit, ihrer Herkunft mehr Bedeutung beizumessen. Schon zuvor hatte sie bisweilen den Versuch unternommen, von ihrer Mutter mehr über Elung, ihre Familie dort und auch über ihren Vater zu erfahren, doch Peerin war stets wenig mitteilsam und verschlossen gewesen, hatte es als unwichtig abgetan, da sie ja nun hier in Atress lebten und dies ihre Heimat war.
Ihre Mutter betrat die Hütte. Schnell wischte sie sich die Tränen ab. Da sie sich noch nicht dazu entschließen konnte, ihrer Mutter Fragen zu ihrer Herkunft zu stellen, war es besser, wenn diese keinen Grund hatte, ihre Tränen zu hinterfragen. Ihel beschloss, die Sache zunächst auf sich beruhen zu lassen. Sicher hätte Hetra den Streit und ihre Worte schon am nächsten Tag wieder vergessen und alles wäre wie zuvor.
Drei Tage waren seit dem Streit vergangen und Hetra und sie hatten sich wirklich wieder vertragen. Die Frage nach ihrer Herkunft aber ließ Ihel nicht mehr los. Wenn sie doch nur den Mut aufbrächte, ihre Mutter danach zu befragen. Falls sie es noch vor deren Abreise tun wollte, so musste sie es bald tun. Schon in einem Mond würde Peerin aufbrechen, um ein Jahr lang durch Atress zu reisen. Ursprünglich hatte Ihel mitkommen sollen, doch sie hatte kein Interesse daran gehabt und war alt genug, auch ohne ihre Mutter zurechtzukommen. Ihel teilte den Wissensdurst ihrer Mutter nicht, ihr war es ziemlich egal, wie es im Rest von Atress aussah, sie liebte ihre Heimat, die Küstensiedlung, die Strände, das Meer. Wieso musste sie wissen, wie der Waldstamm lebte, oder gar durch die Eintönigkeit der Steppe reisen?
Ihrer Mutter aber schien es wichtig zu sein, schon seit Jahren sprach sie immer mal wieder davon. Bisher aber hatte sie aus Rücksicht auf Ihel stets darauf verzichtet. Daher gönnte Ihel es ihr nun, dass sie endlich zu ihrer großen Reise aufbrechen konnte.
Eines der wenigen Dinge, die Ihel aus der Vergangenheit ihrer Mutter wusste, war, dass sie schon immer eine Art Forscherin gewesen war. Schon als sie noch in Elung gelebt hatte, hatte sie davon geträumt, Atress zu erforschen. Nicht zum ersten Mal drängte sich Ihel der Gedanke auf, dass ihre Geburt die Lebenspläne ihrer Mutter zerstört hatte. Es war nicht so, dass sie jemals das Gefühl hatte, ungewollt gewesen zu sein, ihre Mutter hatte sie stets mit Liebe überschüttet. Doch es war nicht nur die Sehnsucht ihrer Mutter nach der Erforschung des Landes, die ihr zu denken gab, sondern auch die Tatsache, wie wenig sie über die Vergangenheit sprach. Es war fast so, als bereute sie etwas. Etwas, woran sie nicht erinnert werden wollte. Vielleicht hatte es ja mit Ihels Vater zu tun. Ihre Mutter hatte nie viel über ihn gesprochen, daher wusste Ihel kaum mehr, als dass er tot war. Einmal hatte sie ihre Mutter gefragt, ob sie ihn geliebt hätte. Die Antwort war rätselhaft gewesen. Ein 'Ja, leider.', mehr hatte sie damals nicht zu hören bekommen. Ihels Meinung nach war dies nicht die Art, wie man über seinen verstorbenen Ehemann sprach.
Die Vorbereitungen für ihre Reise waren abgeschlossen, es gab keinen Grund, die Abreise weiter hinauszuzögern. Dennoch konnte Peerin sich nicht dazu durchringen aufzubrechen. Und sie kannte den Grund für ihr Zögern nur allzu gut. Auf keinen Fall konnte sie ihre Tochter zurücklassen, ohne ihr vorher die Wahrheit gesagt zu haben. Vielleicht hätte sie es schon viel früher tun sollen, Gelegenheiten hatte es genug gegeben, immer wieder hatte Ihel Fragen gestellt, über Peerins Leben auf Elung, über ihren Vater. Doch stets hatte Peerin ihre Tochter mit Lügen und kurzen Antworten abgespeist. Je länger sie mit der Lüge gelebt hatte, umso unvorstellbarer war es ihr erschienen, die Wahrheit zu enthüllen. Am liebsten hätte sie auch jetzt darauf verzichtet, doch sie liebte ihre Tochter zu sehr, um ihr dies anzutun. Immerhin war es möglich, dass ihr auf ihrer Forschungsreise durch Atress etwas zustieß. Dann würde Ihel nie erfahren, wer ihr Vater war und warum es ihr nicht vergönnt gewesen war, ihn kennenzulernen.
Als sie nach der Abendmahlzeit beieinandersaßen, überwand sie sich daher.
„Ihel, du weißt, ich werde bald für eine Weile fortgehen. Bevor ich aber aufbreche, muss ich dir noch etwas erzählen.“
Sie machte eine kurze Pause, wusste nicht ganz, wie sie beginnen sollte. Der gespannte Blick ihrer Tochter ruhte auf ihr.
Sie fuhr fort: „Zuerst aber muss ich dich um Verzeihung bitten, dafür, dass ich es dir erst jetzt erzähle. Auch wäre es mir lieb, du würdest mich ausreden lassen, bevor du Fragen stellst.“
Ihel nickte. Peerin wusste nicht, ob sie damit signalisieren wollte, dass sie ihr verzieh, oder ob es lediglich bedeutete, dass sie der zweiten Bitte entsprechen würde. Doch sie hielt sich nicht lange mit diesem Gedanken auf, war gewillt, endlich zum Kern der Sache vorzudringen. Sie holte nochmals tief Luft, dann sagte sie: „Ich habe dir stets erzählt, dass dein Vater noch vor deiner Geburt verstarb. Das entspricht nicht der Wahrheit. In Wirklichkeit verließ er mich, noch bevor ich wusste, dass es dich geben würde.“
Sie sah den fragenden Ausdruck im Gesicht ihrer Tochter. Um deren Fragen zuvorzukommen, sprach sie schnell weiter: „Sicher fragst du dich, wie dies möglich ist. Nun, wir waren nicht verheiratet und ich war für ihn wohl nur ein Abenteuer. Wir hatten nur einige gemeinsame Tage und Nächte, dann verschwand er spurlos. Er ließ mich mit einem gebrochenen Herzen zurück, denn obwohl ich ihn nur kurz kannte, hatte ich mich in ihn verliebt.“
Sie merkte, wie hart ihre Worte klangen. Sie ließen Liwam in einem schlechten Licht erscheinen. Dabei hatte sie sich vorgenommen, so neutral wie möglich über die Geschehnisse vor inzwischen fast siebzehn Jahren zu sprechen. Ihel sollte kein allzu schlechtes Bild von ihrem Vater bekommen. Um ihren Aussagen die Härte zu nehmen, fügte sie hinzu: „Natürlich wusste Liwam, so heißt dein Vater, nichts von meinen Gefühlen. Vielleicht glaubte er, auch ich wäre nur an einem Abenteuer interessiert. Möglicherweise hielt er es für nicht möglich, dass ich, eine Prinzessin, wirklich eine Beziehung mit ihm anstrebte.“
Ihel konnte wohl ihre Neugier nicht länger bezähmen, denn sie platzte mit einer Frage heraus: „Aber welche Frau lässt sich schon mit einem Mann ein, wenn sie nicht vorhat, ihn zu heiraten? Er musste doch wissen, dass sich keine Frau leichtfertig einem Mann hingibt. Ihr Ruf wäre für immer zerstört.“
„Nun, diese Ansicht vertreten die Menschen in Elung und Atress, doch das heißt nicht, dass es überall so ist. Du musst wissen, dein Vater stammt nicht aus Elung. Ich habe dir doch bereits erzählt, dass es noch weitere Länder in den Weiten des Ozeans gibt. Liwam kam aus einem von ihnen, aus Cytria. Er war nur Gast in Elung. Ich muss zugeben, dass ich nicht weiß, was ihn nach Elung getrieben hatte. Er sprach die Sprache Elungs nur recht unvollkommen, sodass wir uns kaum verständigen konnten.“
Peerin musste sich eingestehen, wie seltsam sich das anhörte. Sie erklärte ihrer Tochter gerade, dass ihr Vater ein Ausländer sei, von dem sie kaum mehr wusste als seinen Namen, und mit dem sie sich eingelassen hatte, obgleich sie sich nicht einmal richtig mit ihm hatte unterhalten können. Rückblickend betrachtet hatte sie sich damals ziemlich dumm verhalten. Somit war sie selbst schuld an ihrem Schicksal.
So hatte sie es noch nie gesehen. Anfangs war der Schmerz über das Verschwinden Liwams zu groß gewesen, dann war sie damit beschäftigt gewesen, mit der ungewollten Schwangerschaft fertig zu werden. Nachdem sie Elung den Rücken gekehrt hatte, hatte sie sich bemüht, die Vergangenheit zu vergessen. Doch jetzt, nach all den Jahren, konnte sie zurückschauen, ohne dass Gefühle ihr Urteilsvermögen trübten. Jetzt endlich konnte sie ihre eigenen Fehler erkennen. Nicht länger konnte sie ihren Schmerz, den sie hatte durchleiden müssen, allein Liwam anlasten. Ihr Anteil daran war nicht zu leugnen.
Sie schwieg schon eine ganze Weile. Ihel wurde unruhig, gleich würde sie sie mit Fragen bestürmen. Vorher wollte sie aber ihre Geschichte beenden. „Für dich ist dies alles sicher schwer zu begreifen. Auch ich habe kaum eine Erklärung dafür, was mich damals trieb, mich auf ihn einzulassen. Es waren wohl meine Gefühle, die mich alle Vernunft vergessen ließen. Ich muss zugeben, dass ich fasziniert war von dem fremdländischen Aussehen deines Vaters. Er war nicht besonders groß, nicht größer als ich, hatte blondes Haar und braune Augen. Seine Haut hatte einen sanften Olivton. Anders als die Männer Atress war er schmal, was seiner Erscheinung eine gewisse Eleganz verlieh. Vielleicht sehen alle Männer seines Landes so aus, doch in Elung war seine Erscheinung etwas Besonderes und ich war nicht die einzige Frau, die ihm schöne Augen machte.
Jedenfalls habe ich mich in ihn verliebt. Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, begann ich, mich im Geheimen mit ihm zu treffen. Ich dachte, er empfände ähnlich. Daher war ich am Boden zerstört, als er plötzlich verschwand. Um mir selbst und meinen Eltern die Schmach zu ersparen, durfte natürlich niemand von der Liebschaft wissen, und so war ich mit meinem Schmerz und meiner Trauer allein. Als ich dann bemerkte, dass ich schwanger war, blieb mir keine andere Wahl, als Elung zu verlassen. Ich überredete meine Eltern, eine Expedition nach Atress begleiten zu dürfen. Schon zuvor hatte ich mich sehr für die Erforschung der anderen Länder interessiert, ich habe in dieser Hinsicht meiner Tante Süylin nachgeeifert. Sie und ihr Mann Rihnall waren damals, vor mehr als fünfundvierzig Jahren, die ersten Elunger, die Atress besuchten.
Atress bot mir die Möglichkeit, mir fern der Erinnerungen ein neues Leben aufzubauen. Auch konnte ich dich hier großziehen, ohne dass jemand um die Umstände deiner Zeugung erfahren musste.“
„Aber hättest du nicht irgendwann von der Expedition zurückkehren sollen?“
„Ich habe deinen Großeltern einen Brief hinterlassen, in dem ich den wahren Grund für meinen Wunsch enthüllte, Elung zu verlassen. Sie rechneten nicht mit meiner Rückkehr.“
Was ihre Mutter ihr soeben eröffnet hatte, war einfach unglaublich. Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf. Sie brauchte einen Moment, um ihre Gedanken zu ordnen. Auch wenn ihre Mutter sie jahrelang belogen hatte, Ihel zürnte ihr deswegen nicht. Sie konnte ihre Gründe verstehen. Sie hatte sie schützen wollen, schließlich hörte niemand gerne, dass der eigene Vater die Mutter im Stich gelassen hatte. Und sicher hatte Peerin auch sich selbst schützen wollen. Trotzdem so viele Jahre verstrichen waren, hatte Ihel geglaubt, noch immer einen Funken Schmerz in ihren Worten mitschwingen zu hören. Wie groß musste ihre Trauer gewesen sein, als sie damals Elung verließ? Es musste ihr schwergefallen sein, ein Kind zu lieben, dass sie stets an diesen Schmerz erinnerte. Ihel konnte ihr für die Liebe, die sie ihr gegeben hatte, wohl kaum jemals genug danken. Sie umarmte ihre Mutter, hielt sie eine Weile umfangen. „Danke, dass du es mir gesagt hast. Ich kann kaum ermessen, wie schwer es dir gefallen sein muss. Darf ich dir trotzdem noch ein paar Fragen stellen?“
„Natürlich.“
„Was kannst du mir noch über Liwam erzählen?“
„Leider kaum etwas. Wir konnten uns ja kaum unterhalten. Die paar Brocken der elungischen Sprache, die er während seines Aufenthaltes gelernt hatte, waren für ein richtiges Gespräch nicht ausreichend. Doch das ist ohnehin ziemlich egal, wenn man verliebt ist. Ich habe nicht einmal versucht, ihn auszufragen, mir hat es gereicht, einfach bei ihm zu sein. Ich kann dir also nichts aus seiner Vergangenheit berichten, kann nur sagen, was während der fünf Monde geschah, die er auf Elung weilte. Als er ankam, schien er genau zu wissen, wo er sich befand. So hat es mir zumindest meine Tante Süylin berichtet, die die ganze Zeit über engen Kontakt zu ihm hatte. Ich selbst lernte ihn erst nach drei Monden kennen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Süylin schon viele Stunden mit ihm verbracht und viel von ihm gelernt. Er hatte ihr eine seltsame Sprache beigebracht, die sich Zyn nennt. Angeblich ist dies die Sprache, in der sich früher die Menschen der unterschiedlichen Länder unterhielten. In dieser Sprache unterhielten sie sich dann, tauschten sich über die anderen Länder aus. Liwam hatte neben seinem Heimatland Cytria auch Kenntnisse über Helwa, das Land, das in der Mitte der Karte liegt. Im Gegenzug erhielt er von Süylin Informationen über Atress und Elung.
Ich lernte Liwam kennen, als ich Süylin besuchte. Ich war sofort fasziniert von ihm und es dauerte kaum mehr als einen Mond, bis wir unsere Liebschaft begannen.“
„Wenn deine Tante Süylin sich mit ihm unterhalten konnte, warum hast du sie dann nicht über ihn ausgefragt?“
„Es erschien mir im Rausch der Gefühle unwichtig. Außerdem wollte ich nicht, dass sie Verdacht schöpfte.“
„Aber sie weiß mehr über ihn als du?“
„Ja, so ist es wohl. Warum fragst du?“
„Nun, ich habe überlegt, ob ich vielleicht nach Elung reisen und sie nach ihm ausfragen könnte.“
„Zu welchem Zweck?“
„Er ist immerhin mein Vater. Ich möchte mehr über ihn erfahren.“ Das war nur die halbe Wahrheit. Eigentlich ging es ihr nicht nur darum, mehr über ihn zu erfahren, sie spielte mit dem Gedanken, nach ihm zu suchen. Dies aber wollte sie ihrer Mutter nicht offenbaren. Diese würde ohnehin versuchen, es ihr auszureden. Da ihr die Idee gerade erst gekommen war, war ihr Plan noch nicht ausgereift genug, um ihn gegen die Einwände Peerins zu verteidigen.
„Was erhoffst du dir davon?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich habe schon eine ganze Weile das Bedürfnis, mehr über meine Herkunft zu erfahren. Versteh mich nicht falsch, ich bin dir dankbar, dass du mir erzählt hast, was du über ihn weißt, doch das reicht mir nicht.“
Ihre Mutter nickte verstehend.
„Ich kann das verstehen, aber ich weiß nicht, ob dies möglich ist. Eine Reise nach Elung ist möglicherweise nutzlos, denn meine Tante Süylin dürfte inzwischen an die siebzig Jahre alt sein, ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch lebt.“
„Selbst wenn nicht, vielleicht gibt es Aufzeichnungen über Liwam. Außerdem leben meine Großeltern eventuell noch, dann könnte ich sie kennenlernen. Oder deine Geschwister, meine Tanten und Onkel. Ich bin ebenso Elungerin, wie ich Atresserin bin, auch wenn ich dieses Land noch nie gesehen habe. Ich möchte es kennenlernen. Ich weiß, dass du eigentlich Atress erkunden willst, doch du könntest mich stattdessen doch nach Elung begleiten. Nach so vielen Jahren stellen die Fehler deiner Vergangenheit sicher kein Problem mehr dar.“
Sie redete noch eine ganze Weile auf ihre Mutter ein, doch diese wollte nichts davon wissen. Immer wieder betonte sie, dass Ihel wohl zu viele Hoffnungen an eine Reise nach Elung knüpfte. Außerdem war es keineswegs so einfach, dorthin zu gelangen. Zwar verkehrten inzwischen gelegentlich Handelsschiffe, doch diese nahmen nur selten Passagiere an Bord, und wenn doch, dann handelte es sich dabei um Abgesandte der atressischen Stämme, die zum König Elungs reisten.
Auch wenn Peerin nie vorgehabt hatte, jemals wieder nach Elung zurückzukehren, so hatte sie dennoch die Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern aufmerksam verfolgt. Seit einigen Jahren nahm das Handelsaufkommen deutlich zu. In diesem Jahr hatten schon drei Handelsschiffe aus Elung die Küstensiedlung angesteuert. Neben Waren brachten sie auch Informationen aus Peerins alter Heimat. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie ihrer Familie Briefe übersenden können, doch das hatte sie nie über sich gebracht. Da nie jemand versucht hatte, sie zu erreichen, nahm sie an, dass ihre Familie nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.
Das war auch der Grund, warum sie ihrer Tochter die Reise nach Elung ausreden musste. Sie wollte nicht, dass das Mädchen dort auf Ablehnung vonseiten ihrer Verwandtschaft stieß. Doch Ihel war hartnäckig und so versprach sie, mit ihr nach Elung zu reisen, wenn sie von ihrer Reise durch Atress zurückkehrte. Sie argumentierte, dass es auf ein Jahr mehr oder weniger nicht ankäme und dass sie gerne Atress sehen würde, bevor sie, möglicherweise für immer, nach Elung zurückkehrte.
Ihel war einverstanden, Peerin aber hoffte, ihr Versprechen nicht einlösen zu müssen. Sie würde ihre Reise durch Atress so sehr wie möglich ausdehnen. Wenn sie Glück hatte, würde Ihel sich während dieser Zeit in einen der jungen Männer der Siedlung verlieben. Mit ihren siebzehn Jahren war sie zwar noch recht jung, doch keinesfalls zu jung dafür. Wenn sie erst einen Partner hätte, würde sie gewiss nicht mehr nach Elung reisen wollen.