Welten-Nebel - Anja Buchmann - E-Book

Welten-Nebel E-Book

Anja Buchmann

4,9

Beschreibung

Einst lebten die Völker der Welt in Frieden und Eintracht miteinander, trieben Handel zum allseitigen Vorteil. Doch Gier und Missgunst stürzten sie in einen Krieg. Daraufhin beschlossen die Götter, die Völker voneinander zu trennen. Sie errichteten Barrieren aus undurchdringlichem Nebel und ließen die Völker einander vergessen. Die Handlung der Welten-Nebel-Tetralogie setzt über 3600 Jahre danach ein und beschreibt, wie die Völker wieder zueinanderfinden. Immer wieder müssen Angehörige der unterschiedlichen Völker den Göttern beweisen, dass die Menschen bereit sind, einander zu begegnen. Der Sammelband enthält die Romane "Töchter der Sechs", "Im Schutz des Nebels", "Weltenspiegel" und "Tochter aller Völker".

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Inhaltsverzeichnis

WELTEN-NEBEL

KARTEN

TÖCHTER DER SECHS

Prolog

Lehrzeit

Enthüllungen

Reise ins Ungewisse

Fremde Freunde

Getrennte Wege zum Ziel

Epilog

IM SCHUTZ DES NEBELS

Die Bewahrerin

Berührung mit fremden Gedanken

Zu zweit

Die Nebelquellen

Epilog

WELTENSPIEGEL

Ein ungleiches Paar

Entdeckungen

Dunkle Wolken

Hoffnung

Rückkehr

Epilog

TOCHTER ALLER VÖLKER

Wurzeln

Auf der Suche

Die wahre Bestimmung

Bewährungsproben

Am Ziel

Epilog

Nachwort

PERSONEN

ORTE UND BEGRIFFE

Lust auf mehr?

Die Autorin

Impressum

WELTEN-NEBEL

- 4 Fantasyromane von Anja Buchmann -

Die komplette Tetralogie

KARTEN

Cytria

Helwa

Martul

Elung

Atress

Weltkarte

TÖCHTER DER SECHS

Fantasyroman von Anja Buchmann

 Band 1 der Welten-Nebel-Tetralogie

Prolog

Die Geschichte der Sechs

Viele Jahrhunderte lang lebten die Cytrianer ein behütetes Leben unter dem Schutz der Götter. Doch nicht alle Menschen wussten dies zu schätzen, Neid, Hass und Gier wuchsen in den Herzen.

Die Götter waren betrübt über solchen Undank ihren reichen Gaben gegenüber, doch sie wollten die Menschen nicht vorschnell verdammen und ihnen eine letzte Chance geben.

Am Tag der Wintersonnenwende des Jahres 3582 erblickten sechs Kinder die Welt, die von den Göttern mit besonderen Talenten gesegnet wurden. Lange ahnten die Auserwählten nichts von ihren Fähigkeiten, doch die Götter leiteten ihre Schritte, auf dass die Prophezeiung wahr würde.

Es werden sechs sein,

unter den gleichen Sternen geboren,

sie werden zueinander finden

und ihre Macht wird groß sein.

Noch bevor die Sechs selbst etwas von ihren Gaben ahnten, sendete der Prinz Cytrias, den es nach Macht dürstete, Häscher aus, um sie zu finden. Getrieben von ihren Verfolgern oder durch Eingebungen der Götter ließen die jungen Menschen ihre Leben hinter sich und suchten ihre Wege durch Cytria. Nicht nur von den Männern des neu gekrönten Königs drohte ihnen Gefahr. Ihre erwachenden Gaben aber halfen ihnen, jedem Unheil zu entgehen.

Dem Heiler Tharet war es gegeben, den menschlichen Körper über die Grenzen der gewöhnlichen Heilkunst hinweg genesen zu lassen, während der Priesterin Yerina Macht über den menschlichen Geist gegeben war. Der Seemann Aden erkannte sein Talent in der Beeinflussung des Wassers, wohingegen die mit ihm reisenden Kunstschmiedin Carlynn Einfluss auf Steine und Metall nehmen konnte. Der Hirte Jeven aber konnte mit den Tieren kommunizieren und die Bäuerin Peria war Macht über die Pflanzen geschenkt. Doch auch wenn die Beschwernisse ihrer Reisen sie ihre Gaben erkennen ließen, so wussten sie doch nicht, warum sie ihnen gegeben waren.

Auf der Suche nach Antworten trafen die Sechs auf den Inseln der Seherin zusammen und ihnen wart die vollständige Prophezeiung enthüllt.

Es werden sechs sein,

unter den gleichen Sternen geboren,

sie werden zueinander finden

und ihre Macht wird groß sein.

Von den Göttern auserkoren,

um ihre Welt zu retten,

müssen sie ihre Kräfte vereinen,

dort wo die Linien der Kraft sich schneiden.

Wenn die Sonne im Winter sich wendet,

können nur sie verhindern,

dass für immer sie erlischt

und die Welt in Dunkelheit versinkt.

All dies wird geschehen,

im sechzigsten Jahr des sechzigsten Zyklus.

Sie machten sich auf, jenen Ort großer Macht zu finden. Nicht nur die Unsicherheit über dessen Lage ließ die Sechs am Erfolg ihrer Mission zweifeln. Die Machtgier des Königs hatte einen Bürgerkrieg heraufbeschworen, der die Reise noch gefährlicher machte.

Die Götter aber waren mit ihnen und halfen ihnen, ihr Ziel zu erkennen. Auf dem Weg retteten sie dem Soldaten Roji das Leben und gewannen in ihm einen Verbündeten.

Sie stießen auf eine Linie der Macht und folgten ihr in den geheimnisvollen Uralt-Wald. Auf einer Lichtung fanden sie den Ort, an dem sich die Linien der Macht schnitten. Am Tag der Wintersonnenwende stellten sie sich dem Urteil der Götter. Willens, ihre Gaben und gar ihr Leben hinzugeben, flehten sie die Götter um Gnade für die Menschen Cytrias an. Und die Götter gewährten ihnen diese Gunst. Doch noch bevor sie ihre Aufgabe unter der Leitung einer göttlichen Botin vollenden konnten, erreichte sie der König mit seinen Häschern. Doch dessen Plan, Aden zu töten misslang, da Roji sein Leben für Adens gab.

Die Sechs beendeten ihr Werk und Cytria ward gerettet. Seit jenem Tag zeugt der schwarze Steinwürfel am Ort des Geschehens von ihrem Erfolg.

Lehrzeit

Sommer 3606, Eiren

Peria hätte nie geglaubt, dass kleine Kinder so anstrengend sein konnten - allerdings fehlte es ihr auch an Erfahrung. Madia hielt sie jede Sekunde des Tages in Atem. Sie erforschte die Welt mit allen Sinnen, berührte alles und hinterfragte, was immer ihr neu war. Nie stand der Mund der Viereinhalbjährigen still. Alles, was auf Perias Farm vor sich ging, hatte sie der kleinen Madia schon erklären müssen, doch der Wissensdurst war ungebrochen. Manchmal beneidete Peria Jeven, wenn dieser nach seinen kurzen Aufenthalten auf der Farm wieder mit seiner Herde weiterziehen konnte. Dennoch wollte sie das Mädchen auf keinen Fall missen, wie einsam wäre ihr Leben ohne sie. Obgleich Madia nicht ihre leibliche Tochter war, liebte sie sie wie ein eigenes Kind. Seit Jeven ihr seine damals einjährige Tochter nach dem Tod ihrer leiblichen Mutter anvertraut hatte, war die Liebe von Tag zu Tag gewachsen.

Herbst 3606, Jal

„Roji, hör auf, deine Schwester zu ärgern!“

Der Dreieinhalbjährige, der nach jenem Soldaten benannt war, der sein Leben damals für das Leben von Aden gab, scherte sich jedoch nicht um die Worte seiner Mutter Carlynn. Er fuhr damit fort, seiner fünfzehn Monde älteren Schwester die Stöckchen und Steine zu mopsen, mit denen diese gerade versuchte, eine kleine Hütte zu bauen. „Mama, er soll weggehen, er macht mir noch alles kaputt.“

„Roji, komm mit in die Küche. Wir backen einen Kuchen. Und wenn du brav bist, darfst du die Schüssel auslecken.“

Dies ließ sich der Kleine nicht zwei Mal sagen. Schnell lief er zu seiner Mutter. Diese nahm ihn an die Hand, nachdem sie sich den jüngsten Spross der Familie, den vierzehn Monde alten Jaren, auf die Hüfte gesetzt hatte. Gemeinsam wandten sie sich dem Haus im Handwerkerviertel zu, das Carlynns und Adens Familie als Heim diente und das sie von Carlynns Vater zu Hochzeit erhalten hatten. Darija ließen sie spielend im Garten zurück. Wenn Carlynn sich beeilte und die Kinder ihr keinen Strich durch die Rechnung machten, würde sie den Kuchen fertig haben, bevor Aden von der Inspektion der Lagerhäuser am Hafen zurückkehrte. Dann, so hoffte sie, würde ihr Mann einige Stunden auf die Kinder achtgeben. Sie wollte unbedingt in die Werkstatt im Erdgeschoss des Hauses gehen und das am Vortag begonnene Schmuckstück fertigstellen. Mit drei Kindern war es nicht immer einfach, genügend Zeit für ihren Beruf als Kunstschmiedin zu finden. Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, ihren Beruf aufzugeben, um nur Hausfrau und Mutter zu sein, wie es verheiratete Frauen allzu häufig taten. Der ehemalige Seemann Aden war inzwischen ein erfolgreicher Händler, sodass sie auf ihren Verdienst nicht angewiesen waren, aber sie liebte ihre Arbeit einfach viel zu sehr. Die Werkstatt war bereits seit drei Generationen in Familienbesitz. Sie hoffte, dass später eines ihrer Kinder die Familientradition fortführen würde. Voller Liebe und Mutterstolz betrachtete sie zunächst die beiden Jungen und warf dann einen Blick auf Darija, deren roter Haarschopf ganz versunken über ihr Bauprojekt gebeugt war. Carlynn wandte sich dem Haus zu und trat gemeinsam mit den beiden Jungen durch die Hintertür ein.

Jahr 3606 Mond 12 Tag 21, Aaran

Die Oberpriesterin Yerina schaute sich im Tempel um. Die anderen Priesterinnen hatten die Vorbereitungen für die Zeremonie zur Wintersonnenwende abgeschlossen. Alles war zu ihrer Zufriedenheit, der in weißem Marmor gehaltene Tempelraum war gereinigt und neue Kerzen warteten darauf, bei Sonnenuntergang entzündet zu werden. Mit Einbruch der Dunkelheit würden sich alle Priesterinnen und auch die Anwärterinnen um den Heiligen Würfel versammeln. Unter den Augen zahlreicher Gläubiger würden die Priesterinnen den auf einer Ecke stehenden schwarzen Steinwürfel berühren und ein Dankgebet sprechen. Den Rest der Nacht würden sie meditierend verbringen.

Dies war das sechste Mal, dass im Tempel von Aaran diese Feierlichkeiten zu Ehren der Götter stattfanden, um der Dankbarkeit zum Jahrestag der Errettung Cytrias Ausdruck zu verleihen. Vor sechs Jahren war es Yerina und ihren Gefährten im Uralt-Wald gelungen, die Götter zu überzeugen, dass die Menschen nicht alle verderbt und böse waren. Das und die Bereitschaft der Sechs, ihre Kräfte und sogar ihr Leben hinzugeben, hatte die Götter dazu bewogen, von der Auslöschung der Menschen abzusehen.

Es war noch eine gute Stunde bis zum Sonnenuntergang, für Yerina wurde es Zeit, sich zu reinigen und in ein neues schwarzes Gewand zu kleiden. Plötzlich klopfte es. Anders als gewöhnlich waren die Tempeltore bereits am Mittag geschlossen worden, um die Vorbereitungen für die abendliche Zeremonie zu ermöglichen. Normalerweise war der Tempel von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang für die Gläubigen zugänglich.

Yerina öffnete das Portal einen Spalt und blickte in das wettergegerbte Gesicht einer alten Frau, die sichtbar außer Atem war. Noch bevor Yerina der Frau erklären konnte, dass der Tempel momentan geschlossen war, begann die Frau mit stockender, zittriger Stimme: „Oberpriesterin, bitte entschuldigt vielmals die Störung. Aber dies duldet keinen Aufschub.“

Am Gesicht und Tonfall der alten Frau erkannte Yerina die Dringlichkeit. Sie öffnete den Flügel des Tores etwas weiter und ein Schwall kalter, klarer Luft strömte in den Tempel. Erst jetzt entdeckte sie das kleine Kind, dass sich ängstlich an die Hand der Alten klammerte und das Gesicht in deren Kleidung vergrub. Das Kind war in einen offensichtlich zu großen Mantel gehüllt. Dennoch zitterte es. Yerina konnte nicht erkennen, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte.

„Kommt herein und erzählt mir, was geschehen ist. Das arme Kind friert ja.“ Die Alte schob das Kind durch das Tempeltor und trat selbst ein. Sie war noch immer sichtlich aufgeregt. Yerina legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und bat sie, ihr Anliegen vorzutragen. Sie erfuhr, dass das Kind – es handelte sich um ein Mädchen – der Grund für das zeitlich ungünstige Erscheinen der alten Frau war. Da es in der Nacht zuvor einen heftigen Sturm gegeben hatte, hatte die Frau die Strände um Aaran nach verwertbarem Treibgut abgesucht, welches gewöhnlich bei solchem Wetter angespült wurde. Dabei war sie auf einen großen Berg an Holztrümmern gestoßen. Nach ihrer Beschreibung handelte es sich dabei wahrscheinlich um ein zerschelltes Schiff. Unweit des Trümmerhaufens hatte sie dann ein Bündel entdeckt, das sie genauer in Augenschein nehmen wollte. Dabei hatte sie zu ihrem Entsetzen feststellen müssen, dass es sich dabei um ein kleines, vollkommen durchnässtes Mädchen handelte.

Das Kind war verstört gewesen, hatte unverständliche Worte gemurmelt und nicht auf das, was die Frau zu ihm sagte, reagiert. Zunächst nahm sie das Kind mit in ihre Hütte und gab ihm trockene Kleidung und etwas Essen. Widerspruchslos ließ das Mädchen alles über sich ergehen. Da die alte Frau aber keine Möglichkeit fand, mit dem Kind zu kommunizieren, hielt sie es für das Beste, die Kleine in den Tempel zu bringen. „Ich hoffe, ich belästige Euch nicht zu sehr mit dieser Angelegenheit. Wenn Ihr es wünscht, bringe ich das Kind in ein Waisenhaus.“ Mit diesen Worten schloss die Frau ihren Bericht.

Yerina hatte sich alles geduldig angehört. Die Umstände waren mehr als seltsam. War das Kind etwa mit dem kaputten Schiff angeschwemmt worden? Tausende Fragen schossen ihr durch den Kopf, aber die Klärung würde warten müssen, sie war ohnehin schon spät dran. Sie bedankte sich bei der Frau und gab ihr einige Münzen als Entschädigung für ihre Mühen. Sie versprach der Alten, sich um das Kind zu kümmern und bat sie, am nächsten Mittag wiederzukommen, damit sie weitere Einzelheiten erfragen konnte. Dann nahm sie das Kind bei der Hand und verließ den Tempel durch die rückwärtige Tür, die in den Tempelbezirk führte. Vorerst würde sie das Kind bei einer der Angestellten des Tempels lassen, da sowohl sie selbst als auch alle Priesterinnen und Anwärterinnen in weniger als einer Stunde mit dem Ritual der Wintersonnenwende beginnen mussten.

Gemeinsam mit anderen Gläubigen verfolgte Tharet aufmerksam die Rituale zur Wintersonnenwende. Wie jedes Jahr hatte er es sich auch diesmal nicht nehmen lassen, daran teilzunehmen. Als sich die Priesterinnen für den Rest der Nacht in Meditation versenkten, nutzte er die Zeit, die Ereignisse der letzten Jahre Revue passieren zu lassen und den Göttern für die zahlreichen glücklichen Fügungen zu danken, beginnend mit jenen Begebenheiten, die ihn damals mit den anderen fünf zusammengeführt und zu der Reise zur Rettung der Welt veranlasst hatten.

Vor etwas mehr als sechs Jahren hatte er in diesem Tempel Yerina kennengelernt. Damals war sie noch eine Anwärterin gewesen und hatte alles riskiert, um ihn vor gefährlichen Verfolgern zu retten. Danach waren sie zusammen aus Aaran geflüchtet, hatten Gefahren gemeistert und außergewöhnliche Macht bei sich entdeckt. Auf ihrem Weg waren sie auf Carlynn und Aden sowie Peria und Jeven getroffen, die wie sie über besondere Kräfte verfügten. Auf der Insel der Schwesternschaft der Seherin hatten sie dann auch den Grund für diese göttlichen Gaben erfahren: Sie waren auserwählt, Cytria vor dem Untergang zu erretten.

Ihre Mission war entbehrungsreich und beschwerlich gewesen, aber schlussendlich war es ihnen gelungen, die Gnade der Götter zu erringen. Seitdem hatten sie, in der sich nach dem Sturz des Königs veränderten Welt, ihren Weg gesucht. Während die anderen vier sich ins Private zurückgezogen hatten, waren Yerina und er aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt gewesen. Yerina brachte es bis zur Oberpriesterin und war somit die Führerin des geistigen Lebens Cytrias. Oft suchte er ihren Rat, wenn sein Amt als Vorsitzender des Regierungsrates, dessen sechsunddreißig gewählte Delegierte aus allen Provinzen die Geschicke des Landes leiteten, ihn vor Probleme stellte. Obgleich er selbst keine Entscheidungsbefugnisse hatte, war dies eine verantwortungsvolle Aufgabe.

Oftmals war es gar nicht so einfach, zwischen den vielmals widerstreitenden Interessen der unterschiedlichen Landesteile zu vermitteln. Zunächst hatte er gedacht, sein Amt wäre irgendwann nicht mehr nötig, da sich die neuen Regierungs- und Verwaltungsprozesse einspielen würden, doch dem war nicht so. Er verwand noch immer einen Großteil seiner Zeit darauf, Sitzungen zu leiten und die verschiedenen Instanzen der Verwaltung zu koordinieren. Auch wenn er sich der Wichtigkeit seiner Position bewusst und dankbar war für das Vertrauen, das ihm von allen Seiten entgegengebracht wurde, so sehnte er sich bisweilen doch nach einem Leben als einfacher Heiler in irgendeinem Dorf. Zumindest bis vor sechs Monden hatte er regelmäßig davon geträumt, Aaran den Rücken zu kehren. Jetzt standen die Dinge jedoch etwas anders und daran war Galica schuld. Sie war wortwörtlich in sein Leben gestürzt und hatte es radikal verändert. Als er in einer Frühsommernacht auf dem Heimweg vom Regierungsgebäude, dem ehemaligen Königspalast, zu seinem Haus in einem der einfacheren Stadtteile unterwegs war, war er von einem spitzen Schrei aus seinen Gedanken gerissen worden. Als er sich umgewandt und mit seiner Laterne in Richtung des Krachs leuchtete, sah er eine schmächtige Gestalt auf dem Pflaster liegen. Schnell eilte er zum Unglücksort. Trotz des schwachen Lichtes konnte er erkennen, dass die junge Frau ernsthaft verletzt war. Ihr einfacher Rock war mit Blut getränkt und ihr Gesicht und ihre bloßen Arme mit Kratzern und blauen Flecken bedeckt. Sie sah aus, als habe man sie verprügelt. Sie blickte in aus großen, dunklen Augen ängstlich an, bevor sie in seinen Armen das Bewusstsein verlor. Da die Wunden alle oberflächlich waren, schloss Tharet schnell, dass das Blut auf ihrem Rock von einer inneren Verletzung herrühren musste. Für ihn sah es ganz so aus, als habe sich ein Mann der jungen Frau brutal aufgezwungen. Die ganze schreckliche Wahrheit sollte er später erfahren.

Da er auf der Straße nichts für die Frau tun konnte, trug er sie im Eilschritt nach Hause, wo er all seine heilerischen Fähigkeiten eingesetzte, um sie zu behandelt. Besonders ihre Unterleibsverletzungen waren schwerwiegend. Später stellte sich heraus, dass eine vollständige Heilung unmöglich war, Galica würde wohl niemals Mutter werden können.

Ihre äußerlichen Wunden jedoch heilten gut und schnell. Auch fasste sie Vertrauen zu ihrem Retter und vertraute ihm ihre Leidensgeschichte an. Sie war Magd in einem Gasthaus gewesen. Der Wirt war stets grob und gewalttätig gewesen, doch in jener Nacht war er im Alkoholrausch noch weiter gegangen. Gemeinsam mit einem Freund hatte er Galica zunächst geschlagen und auf den Boden geworfen, um sich anschließend mehrfach an ihr zu vergehen. Dabei waren die Männer so brutal vorgegangen, dass sie schwere Verletzungen erlitten hatte. Als die beiden ihren Rausch ausschliefen, war es ihr schließlich gelungen, das Haus zu verlassen und zu fliehen.

Noch während Galicas Genesung sorgte Tharet dafür, dass sich ihre beiden Peiniger vor Gericht verantworten mussten. Er schüchterte die beiden Verbrecher ob seines Amtes so sehr ein, dass sie freiwillig gestanden. Somit blieb Galica eine Aussage vor Gericht erspart. Ihre Peiniger jedoch würden einige Jahre im Kerker verbringen und mussten ihr eine hohe Summe zahlen.

Obgleich sie dadurch vermögend genug war, um zu tun, was ihr beliebte, entschied sie sich, bei Tharet zu bleiben. Dies machte ihn sehr glücklich, denn schon während er sie geheilt hatte, war sein Herz für sie entbrannt. Dennoch wagte er es lange nicht, ihr seine Gefühle zu gestehen. Er redet sich ein, dies geschähe aus Rücksicht auf ihre traumatische Vergangenheit. Rückblickend musste er jedoch zugeben, es war lediglich die Angst vor Zurückweisung gewesen.

Dennoch wendete sich vor drei Monden alles zum Guten. Er kehrte ungewöhnlich früh heim und fand Galica weinend am Küchentisch vor. Er legte den Arm um sie und fragte: „Warum weint Ihr, was ist geschehen?“

Sie jedoch schob seinen Arm beiseite und erwiderte traurig: „Bitte lasst das. Ihr dürft es mir nicht noch schwerer machen.“

Er schaute sie wohl ziemlich verdutzt an, denn sie fügte hinzu: „Ihr wart so freundlich zu mir. Aber ich muss Euch verlassen.“

„Warum? Fühlt Ihr Euch hier nicht mehr wohl? Bin ich Euch irgendwie zu nahe getreten?“

„Ganz im Gegenteil.“ Die nächsten Worte fielen ihr sichtlich schwer. „Ich habe Gefühle für Euch entwickelt. Ich ... Ich habe mich in Euch verliebt.“ Während dieser Worte brach sie erneut in Tränen aus.

In diesem Moment konnte Tharet seine Gefühle nicht mehr zurückhalten. Überglücklich schloss er Galica in seine Arme und gestand ihr überschwänglich seine Liebe. Sogleich bat er sie, seine Frau zu werden.

Jedoch stimmte sie keineswegs begeistert zu, vielmehr sträubte sie sich und bat ihn, sie gehen zu lassen und zu vergessen. Erst nach einigem Zureden konnte er ihr den Grund dafür entlocken. Sie hatte sich darauf versteift, ihn nicht glücklich machen zu können, da sie ihm aufgrund ihrer Verletzung wahrscheinlich niemals würde Kinder schenken können. Es kostete ihn seine ganze Überzeugungskraft, ihre Bedenken zu zerstreuen. Bereits sechs Tage später waren sie verheiratet.

Nun war Galica sein ganzes Glück. Wann immer es ihm möglich war, verbrachte er seine Zeit mit ihr. Er hatte ihr auch angeboten, ihn zu der Zeremonie zur Wintersonnenwende zu begleiten, sie jedoch hatte angelehnt. Wahrscheinlich wusste sie, wie besonders diese eine Nacht für ihn war.

Die Stunden der Meditation waren wie im Flug vergangen. Schon näherte sich das Ritual dem Ende.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, sprach Yerina die rituellen Schlussworte und beendete damit das Ritual. Obgleich die nächtliche Meditation sie erschöpft hatte, blieb ihr keine Zeit, sich auszuruhen. Sie bahnte sich einen Weg durch die Gläubigen, die die Zeremonie die ganze Nacht verfolgt hatten, und schritt zum Hauptportal, um es zu öffnen. Dabei beobachtete sie aufmerksam die Menge. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie Tharet, der neben dem noch geschlossenen Hauptportal an der Wand lehnte. Bevor sie das Tor öffnete, bedeutete sie ihm mit einem Handzeichen zu warten.

Es dauerte eine Weile, bis sie alle Gläubigen, die der Zeremonie beigewohnt hatten, gebührend verabschiedet hatte. Als Oberpriesterin war sie eine der einflussreichsten Personen des Landes. Daher versuchten viele, ihr Wohlwollen und ihre Freundschaft zu erlangen. Nahezu jeder war ausnehmend höflich zu ihr, die sie doch nur ein Waisenkind war, das etwas Glück gehabt hatte. Sie war jedoch klug genug, sich nicht von Schmeicheleien und schönen Worten einwickeln zu lassen. Sie wusste, dass sie nur wenige wahre Freunde hatte und das waren jene, mit denen sie vor sechs Jahren unzählige Gefahren durchgestanden und Cytria gerettet hatte. Sie stand in regem Briefkontakt mit Peria und Jeven sowie mit Carlynn und Aden. Obgleich sie einander seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hatten, – durch ihre Arbeit und die kleinen Kinder hatte keiner die Möglichkeit gesehen, eine weite Reise zu unternehmen - standen sie einander nahe und nahmen regen Anteil am Leben der anderen. Auch traf Yerina sich, wann immer es ihre Pflichten erlaubten, mit Tharet. Er erzählte ihr von den aktuellen Entwicklungen in der Politik, sie gab ihm im Gegenzug nützliche Hinweise zur Stimmung und zu den Problemen des Volkes. Durch die seelsorgerische Arbeit erfuhren die Priesterinnen stets zuerst von Dingen, die die einfachen Leute umtrieben. Aber auch bei privaten Themen hatten sie stets ein offenes Ohr füreinander. Daher hatte sie auch entschieden, sich wegen des kleinen Mädchens zuerst an ihn zu wenden. Vielleicht konnten er und seine Frau die Kleine sogar aufnehmen.

Tharet hatte geduldig gewartet, bis alle Gläubigen und die meisten Priesterinnen den Tempel verlassen hatten und Yerina endlich Zeit für ihn hatte. Da er sie so gut kannte, hatte er an ihrem Gesicht ablesen können, wie lästig ihr all die Gespräche waren, die ihr aufgezwungen wurden. Er kannte solche Momente aus eigener Erfahrung. Jetzt kam Yerina auf ihn zu und umarmte ihn freundschaftlich. Sie fragte: „Hast du einen Moment für mich? Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.“

Auf dem Weg durch den Tempelbezirk erzählte sie kurz, was sich am Vorabend zugetragen hatte. Sie erreichten ihr kleines Haus, in dem eine der Wäscherinnen noch immer über das kleine Mädchen wachte, welches noch in tiefem Schlaf lag. Yerina ließ sie berichten, wie die Nacht verlaufen war. Viel konnte die Angestellte jedoch nicht erzählen. Das Kind hatte mit Appetit gegessen und ruhig geschlafen. Es habe weder besonders schüchtern noch verstört gewirkt, das einzig Seltsame war, dass es sie nicht verstanden und auch kein verständliches Wort herausgebracht hatte. Yerina bedankte sich bei der Frau und entließ sie. Danach setzten sie ihr Gespräch leise fort.

Kurze Zeit später rührte sich das Mädchen in Yerinas Bett. Sofort stand Tharet auf und ging zu ihm hinüber. Er sprach beruhigend auf es ein, während er es aufmerksam betrachtete und dann begann, den kleinen Körper auf Verletzungen hin zu untersuchen.

„Sie scheint mir vollkommen gesund zu sein. Ich würde sie auf ungefähr sechs Jahre schätzen, auch wenn sie eigentlich zu klein für ein Kind dieses Alters ist. Ihre Ohren sind in Ordnung, es ist vielmehr so, als würde sie unsere Sprache nicht sprechen. Warum dem so ist, kann ich nicht sagen. Ich würde ja vermuten, dass sie abgeschieden in der Wildnis aufgewachsen ist, aber sie zeigt keinerlei Scheu vor Menschen.“

Yerina fragte: „Könnte sie irgendeine angeborene Behinderung haben, sodass sie Sprache nicht verstehen kann?“

„Das wäre eine Erklärung, aber das kann ich erst beurteilen, wenn ich mehr Zeit mit ihr verbracht habe.“

„Das trifft sich gut, ich wollte dich ohnehin bitten, sie bei euch aufzunehmen, bis ihre Herkunft geklärt ist. Ich habe einfach nicht die Möglichkeit, mich ausreichend um sie zu kümmern. Natürlich kann ich verstehen, wenn du erst mit Galica darüber reden möchtest.“

„Nein, das ist schon in Ordnung. Galica wird sich freuen. Und ich habe die Gelegenheit, herauszufinden, was mit der Kleinen nicht stimmt. Ist dir schon aufgefallen, dass ihr Aussehen sehr untypisch ist. Soweit ich mich erinnere, habe ich noch nie jemanden gesehen, der so zart und feingliedrig ist und dabei braune Haare und braune Augen hat. Die Leute aus der Gegend von Aaran sind zwar zart, aber selten so klein und außerdem eher blond. Im Hochland gibt es viele Braunhaarige, aber keiner ist so zart. Ihr Aussehen gibt uns also keinerlei Hinweise auf ihre Herkunft.“ Das Mädchen, welches sich bisher einfach nur interessiert umgeschaut hatte, wurde langsam unruhig. Yerina bedeutete ihr mit Gesten, dass sie aufstehen könne, und zeigte ihr das Separee, in dem sich eine Waschschüssel und ein Eimer für die Notdurft befanden. Das Kind nickte verstehend und Yerina ließ es allein. Wenn es wirklich schon sechs Sommer gesehen hatte, wie Tharet meinte, so müsste es seine Morgentoilette alleine erledigen können.

Sie schellte und kurz darauf klopfte eine junge Priesterin an ihre Tür. Yerina trug ihr auf, Frühstück für drei Personen zu besorgen und sich anschließend um neue Kleidung für das kleine Mädchen zu bemühen. Das Kind trug noch immer die Kleidung, die ihr die alte Frau gegeben hatte.

Später saßen die drei bei einer üppigen Morgenmahlzeit. Während das Mädchen stumm aß, spekulierten Tharet und Yerina über seine Herkunft. „Die Frau, die sie gefunden hat, wird heute Mittag wieder in den Tempel kommen. Vielleicht lässt du dir von ihr die Fundstelle zeigen. Mit etwas Glück hat sie auch die Sachen noch, die das Mädchen trug. Vielleicht findest du so irgendwelche Hinweise.“

„Gut. Aber vorher werde ich das Mädchen zu Galica bringen. Du hattest eine anstrengende Nacht, du benötigst sicher etwas Ruhe. Ich werde mich um alles kümmern, was das Kind betrifft und dich natürlich über alle Neuigkeiten unterrichten.“

„Ich danke dir, dass du diese Bürde auf dich nimmst.“

„Ein Kind ist doch keine Bürde. Ich denke, sie wird sich bei uns wohlfühlen. Und du weißt ja, dass Galica und ich wohl niemals eigene Kinder haben werden.“

Yerina sah einen kurzen Schatten aus Trauer und Bedauern über Tharets Züge huschen.

Bald darauf verabschiedeten sie sich voneinander und Tharet brachte das Mädchen in sein neues Zuhause.

Winter 3607, Aaran

„Zada, komm essen.“ Galica stellte einen großen Topf mit dampfender Suppe auf den bereits fertig gedeckten Tisch. Tharet trat hinter sie und drückte ihr einen Kuss in den Nacken. Kurz darauf betrat ein kleines braunbezopftes Mädchen die Küche und setzte sich an den Tisch.

Während des Essens erzählte Zada fröhlich von ihrem Tag. Über Nacht hatte es geschneit und sie hatte mit den Nachbarskindern wild im Schnee getobt. Manchmal musste sie ihren Redefluss jedoch kurz unterbrechen, da ihr die richtigen Worte fehlten. Dabei hatte sie im letzten Jahr gewaltige Fortschritte gemacht. Als sie im letzten Winter zu ihren neuen Eltern gekommen war, hatte sie diese nicht verstanden und auch Zada konnte sich nicht verständlich machen. Aber Tharet war sehr geduldig gewesen und hatte ihr die Sprache Wort für Wort beigebracht. Nach und nach waren auch die anderen seltsamen Worte aus ihrem Kopf verschwunden, zu denen sie zuvor immer wieder gegriffen hatte, um sich verständlich zu machen, deren Sinn aber außer ihr niemand zu kennen schien.

Woher die Worte gekommen waren, wusste sie nicht. Als sie sich einigermaßen verständlich machen konnte, hatten ihre Eltern ihr diesbezüglich allerlei Fragen gestellt, aber sie hatte keine Antworten für sie. Ihr fehlte jedwede Erinnerung an Geschehnisse, die weiter als ein Jahr zurücklagen. Ihre erste Erinnerung war die an eine alte Frau und einen Strand. Sie hatte dort gelegen und es war so furchtbar kalt gewesen. Das Einzige, was sie aus ihrer rätselhaften Vergangenheit wusste, war, dass ihr Name Zada war.

Viel mehr hatte auch Tharet trotz intensiver Nachforschungen nicht herausfinden können. Er vermutete, dass sie mit ihren Eltern in einem Boot unterwegs gewesen war und dass sie aufgrund des schlechten Wetters Schiffsbruch erlitten hatten. Ihre Eltern waren dabei wohl umgekommen, sonst hätten sie bestimmt nach ihr gesucht. Dass Zada sich an nichts erinnern konnte, lag Tharets Meinung nach an dem Unfall. Als Heiler hatte er schon mehrfach mit solchen Fällen zu tun gehabt, wenn auch nie mit einem, bei dem das gesamte Gedächtnis ausgelöscht worden war.

Da ihre Herkunft nicht zu klären war, hatten Galica und Tharet sie mit Zustimmung der Oberpriesterin an Kindes statt angenommen und nun lebte sie schon ein ganzes Jahr bei ihnen. Ihren Geburtstag hatten sie auf den Tag der Wintersonnenwende festgelegt, da dies der Tag gewesen war, als man sie gefunden hatte. Außerdem war es auch der Geburtstag ihres Vaters und der Oberpriesterin Yerina, die für Zada so etwas wie eine Tante war.

Vor wenigen Tagen erst hatte sie zusammen mit dieser und ihren Eltern ihren siebten Geburtstag gefeiert. Ihre Mutter hatte extra einen Kuchen für sie gebacken und sie hatte einen neuen, wunderhübschen Mantel bekommen. Was für ein Glück sie doch hatte, so liebe Eltern zu haben.

Herbst 3611, Eiren

Obgleich sie noch keine zehn Sommer gesehen hatte, war Madia schon jetzt klüger und gelehrter als die meisten Bewohner der Insel. Doch ihr Wissensdurst war noch lange nicht gestillt. Peria hatte ihre liebe Mühe damit, dem Mädchen die geistige Anregung zu bieten, nach der es sie verlangte. Sie und Madias Vater Jeven investierten einen nicht geringen Anteil ihrer Einkommen in Bücher und Lehrer für Madia. Madia war ihnen dafür sehr dankbar, dennoch spielte sie mit dem Gedanken fortzugehen, um noch mehr zu lernen. Schon verschiedentlich hatte sie von der Insel Roteha gehört, der Insel der Gelehrten. Ihr großer Traum war es, dort in die Ausbildung aufgenommen zu werden. Nun schien sich die Gelegenheit zu bieten. Einer der Gelehrten von dort war auf Eiren, um neue Lehrlinge für die Insel zu finden. Madia war fest entschlossen, sich ihm vorzustellen. Es gab nur ein Problem: Sie war ein Mädchen und so wie die Priesterinnen nur Frauen ausbildeten, gab es auf Roteha nur Männer.

Sie hatte bereits mit ihrer Mutter Peria darüber gesprochen, aber die sah keine Chance, dass man für Madia eine Ausnahme machen würde, so klug sie auch sein mochte. Deshalb würde Madia versuchen, Peria heute für einen zugegebenermaßen etwas riskanten Plan zu gewinnen: Sie wollte sich als Junge ausgeben. Mit der richtigen Verkleidung würde ihr dies sicher gelingen. Da sie ihre Haare stets kurz trug, war sie schon des Öfteren für einen Jungen gehalten worden. Soweit sie wusste, trugen die Gelehrten auf Roteha weite Gewänder, unter denen sie später auch eventuelle weibliche Rundungen verbergen konnte. Sie hatte alles gut durchdacht, nun musste sie nur noch ihre Eltern überzeugen.

Anfangs war Peria keineswegs begeistert von dem Plan ihrer Tochter, als Junge verkleidet nach Roteha zu gehen. Aber das Mädchen hatte auf sie eingeredet, sich über die Ungerechtigkeit beklagt, dass Frauen die Bildung verwehrt wurde. Wenn sie erst einmal zu den klügsten Köpfen des Landes gehörte, würde sie ihre Verkleidung lüften und den Männern somit beweisen, dass Frauen ebenfalls Gelehrte sein konnten. Sie würde damit allen anderen Frauen einen großen Dienst erweisen. Haarklein hatte Madia ihr erklärt, warum ihr Plan glücken würde. Schließlich gab sich Peria geschlagen, denn ihr lag das Glück ihrer Tochter am Herzen. Auch wusste sie, dass Madia versuchen würde, ihren Plan auch ohne ihr Einverständnis umzusetzen. Gerne hätte sie ihre Entscheidung mit Jeven diskutiert, doch dieser war mit seiner Herde unterwegs.

Ihr Herz wurde ihr schwer, wenn sie daran dachte, dass sie ihrer Tochter gerade erlaubt hatte, von ihr fortzugehen. Sie war doch noch so jung. Vielleicht hatte sie Glück und auch der Gelehrte sah dies so. Üblicherweise begann die Lehrzeit erst mit zwölf Jahren.

Nur einige Tage später traf der Gelehrte im nahegelegenen Dorf ein. Glücklicherweise war Jeven am Vortag auf Perias Farm eingetroffen. Zwar hatte er Perias Entscheidung nicht infrage gestellt, aber dennoch fühlte sie sich wohler, dass sie diese mit Madias Vater hatte besprechen können. Da möglicherweise einer der Dorfbewohner wusste, dass das Kind von Peria und Jeven ein Mädchen war, hatte sich Madia alleine auf den Weg in das Dorf gemacht. Peria hatte ihr zuvor das blonde Haar noch kürzer schneiden müssen und Jungenkleidung genäht. Sie hatten verabredet, dass Madia den Gelehrten auf die Farm einladen sollte, wenn dieser sie in die Lehre nehmen wollte.

Peria und Jeven warteten ungeduldig auf die Rückkehr ihres Kindes, dass sich nun Mawen nannte und wie ein Junge aussah.

Ein bisschen mulmig war ihr schon gewesen, als sie sich am Morgen allein auf den Weg in das nächste Dorf gemacht hatte. Aber kaum, dass sie angekommen war und den Gelehrten auf dem Dorfanger entdeckt hatte, wurde sie ganz ruhig. Gedanklich ging sie noch einmal die Worte durch, die sie sich zurechtgelegt hatte. Außerdem rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie von nun an Mawen war.

Er ging selbstbewusst auf den Gelehrten zu. Er verneigte sich kurz und blickte ihn mit seinen grauen Augen unverwandt an. Dann hob er zu sprechen an: „Seid gegrüßt. Mein Name ist Mawen und ich möchte mich Euch vorstellen. Ich habe gehört, Ihr sucht Lehrlinge für die Insel Roteha.“

Der Gelehrte nickte. „Seid auch Ihr gegrüßt. Ich bin der Gelehrte Taleb. Wahrlich suche ich nach Lehrlingen. Jedoch muss ich Euch zunächst prüfen, um Eure Eignung festzustellen. Seid Ihr damit einverstanden?“

„Aber sicher. Ich bin bereit. Stellt Eure Fragen.“

„Gut, bitte setzt Euch.“ Taleb reichte Mawen ein Buch. „Bitte lest mir daraus vor.“

Mawen schlug das dicke Werk auf und begann, sicher und mit fester Stimme zu lesen. Er las mehrere Seiten, dann hieß der Gelehrte ihn, aufzuhören und das Gelesene mit eigenen Worten zusammenzufassen. Auch diese Aufgabe meisterte er ohne Probleme. Danach testete der Gelehrte sein Allgemeinwissen und seine mathematischen Fähigkeiten. Auch über seine Motivation, Gelehrter zu werden, musste Mawen Auskunft geben. Taleb schien mit allen Antworten zufrieden zu sein. „Sind Eure Eltern auch hier?“ „Nein, leider sind sie auf ihrer Farm unabkömmlich. Ich soll Euch jedoch herzlich einladen, sie dort zu besuchen.“

„Gerne nehme ich die Einladung an. Ich werde Euch nach Hause begleiten. Allerdings müsstet Ihr bis zum Abend warten, falls noch weitere potenzielle Lehrlinge auftauchen. Sagt, wie alt seid Ihr eigentlich?“

„Im Winter werde ich zehn Jahre alt.“

„Das ist wahrlich noch sehr jung. Für gewöhnlich beginnt die Lehre erst mit zwölf. Allerdings habt Ihr einen wesentlich reiferen Eindruck gemacht als so mancher Zwölfjähriger. Daher würde ich Euch gerne als Lehrling aufnehmen, sofern Eure Eltern wirklich einverstanden sind.“

„Habt Dank. Ihr ahnt nicht, wie viel mir das bedeutet.“

Jahr 3612 Mond 1, Roteha

Nachdem das Treffen des Gelehrten mit seinen Eltern zufriedenstellend verlaufen war, war Mawen am nächsten Morgen mit Taleb zusammen aufgebrochen. Zunächst waren sie noch zwölf Tage quer über Eiren gewandert, bevor sie sich nach Roteha eingeschifft hatten. Schon auf ihrer gemeinsamen Reise hatte seine Ausbildung begonnen. Nun war er seit drei Monden auf Roteha und jeden Tag begeistert von der Menge an Wissen, die an diesem Ort versammelt war.

Jahr 3612 Mond 12 Tag 21, Aaran

Weder Tharet noch Yerina hatten Zada in irgendeiner Weise beeinflusst. Das Mädchen hatte sich aus freien Stücken für den Dienst im Tempel entschieden. Yerina hatte ihre Motive geprüft und war zu dem Schluss gekommen, dass sie eine geeignete Kandidatin war. Da sie viel Zeit mit Tharets Ziehtochter verbracht hatte, hatte sie ab deren achtem Lebensjahr ein starkes Interesse an religiösen und spirituellen Dingen feststellen können. Stets hatte das Mädchen interessiert zugehört, wenn Yerina von Zeremonien und dem Alltag im Tempelbezirk erzählte, auch hatte es immer wieder Fragen diesbezüglich gestellt. Im Alter von zehn hatte Zada erstmals davon gesprochen, dem Tempel beitreten zu wollen. Dennoch hatten Tharet und Galica dafür gesorgt, dass sie auch andere Möglichkeiten der Ausbildung in Betracht zog. Nach Abwägung aller Optionen hatte sich an dem Wunsch des Mädchens jedoch nichts geändert.

Heute, an ihrem zwölften Geburtstag, würde sie als Anwärterin in den Dienst des Tempels treten. Am Abend, vor Beginn der Zeremonie zur Wintersonnenwende, würde das Ritual vollzogen werden. Galica half ihrer Tochter gerade, die Sachen für ihren Umzug in den Tempelbezirk zusammenzupacken. Ihr fiel der Abschied von ihrer Tochter schwer. Zwar konnten sie und Tharet Zada regelmäßig im Tempelbezirk besuchen, aber das Haus würde sich seltsam leer anfühlen ohne sie. Ein letztes Mal setze sie sich zu ihrer Tochter aufs Bett, um ihr das Haar zu flechten. Obwohl sie es eigentlich hatte vermeiden wollen, rollten Tränen über ihre Wangen. Nur mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen. Sie wollte nicht, dass Zadas Vorfreude auf den bevorstehenden Eintritt in den Tempel durch ihre Sentimentalitäten getrübt wurde. Schnell wischte sie mit dem Handrücken ihr Gesicht trocken. „Lass uns nach unten gehen und noch etwas essen, bevor wir zum Tempel aufbrechen.“

„Ja, Mutter.“ Bevor sie jedoch Zadas Schlafkammer verließen, schloss Galica ihr Kind noch mal fest in die Arme, löste sich aber schnell wieder von ihr, als ihre Gefühle sie erneut zu überwältigen drohten.

Jahr 3613 Mond 12 Tag 5, Jal

Wenn es ihre Art gewesen wäre, so hätte sie sicher vor Freude getanzt und gesungen, doch Darija war eher still und besonnen. Dennoch fiel sie ihrem Vater Aden voller Dankbarkeit um den Hals. Sie hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, doch ihm war es schlussendlich doch gelungen, einen Schiffbauer zu finden, der sie in Lehre nehmen wollte. Für gewöhnlich erlernten nur Jungen diesen Beruf und so war sie von mehreren angesehenen Schiffbauern abgewiesen worden. Nun war es Aden dank seiner guten Kontakte aber dennoch gelungen, ihr einen Ausbildungsplatz zu besorgen.

Sie war ihrem Vater dankbar, dass er ihr ihren Traum ermöglicht hatte. Ihre Liebe zur Seefahrt hatte sie schließlich von ihm geerbt, ihr handwerkliches Geschick hingegen hatte sie wohl ihrer Mutter zu verdanken. Im Schiffbau ließen sich diese beiden Eigenschaften ideal verbinden. Schon als sie ein kleines Kind war, hatte sie ihren Vater immer wieder angebettelt, mit ihm das Auslaufen der Schiffe aus dem Hafen von Jal beobachten zu dürfen, später hatte sie ihn mit Fragen rund um die Konstruktion gelöchert. Sie fand es faszinierend, wie die großen, oft schwer beladenen Handelsschiffe scheinbar mühelos durch das Wasser glitten. Obgleich sie auch die handwerkliche Arbeit ihrer Mutter bewunderte, so wollte sie doch lieber lernen, wie man diese Wunderwerke baute. Das Handwerk des Kunstschmiedes konnte auch einer ihrer beiden Brüder erlernen, um später den Familienbetrieb zu übernehmen.

Noch einmal umarmte sie ihren Vater. „Danke. Ich verspreche dir, ich werde die allerbesten Schiffe bauen. Mit denen werden deine Waren noch schneller und sicherer ans Ziel kommen.“

„Darija, heb dir deinen Enthusiasmus für deine Arbeit auf. Ich habe deinem zukünftigen Meister nämlich versprochen, dass du der beste Lehrling wirst, den er je hatte.“

„Aber wann darf ich anfangen?“

„Du wirst dich noch ein paar Tage gedulden müssen, deine Lehrzeit beginnt im neuen Jahr. Bis dahin, sei so gut, und hilf deiner Mutter. Sie kann bestimmt Hilfe in der Küche gebrauchen. Ich habe nämlich großen Hunger.“

Schnell lief Darija in die Küche, weniger um ihrer Mutter zur Hand zu gehen, sondern vielmehr, um ihr die großartigen Neuigkeiten mitzuteilen.

Jahr 3618 Mond 12 Tag 21, Aaran

Während sie Zada das braune Haar zu einem kunstvollen Zopf flocht, fragte sie sie ein letztes Mal, ob sie sich wirklich sicher war, dass sie dieses Leben wählen wollte. Wie jeder Anwärterin stand es Zada frei, vor der Weihe noch aus dem Tempel auszutreten. Da ihr Zada auch persönlich nahestand, hatte sie sich mit ihr besonders gründlich auseinandergesetzt. Obwohl Yerina sich bemüht hatte, Zada nicht gegenüber den anderen Anwärterinnen zu bevorzugen, so war die Ziehtochter von Galica und Tharet stets ihr persönlicher Schützling gewesen. Daher lag es ihr am Herzen, dass Zada keine Entscheidung traf, die sie später bereuen würde. Yerina wusste allzu gut, worauf eine Priesterin verzichten musste. Niemals würde sie eine Familie gründen, das Glück des Mutterseins erfahren. Auch wenn Yerina nie bedauert hatte, Priesterin geworden zu sein, so hatte sie das Familienleben von Tharet, Galica und Zada doch bisweilen mit Wehmut betrachtet. Auch das Glück, das sie aus dem Briefen von Carlynn und Aden sowie Peria und Jeven herausgelesen konnte, versetzte ihre manchmal einen leichten Stich.

Zada aber versicherte ihr, dass sie sich sicher war: Sie wollte Priesterin werden. Yerina hatte die Gewissheit, dass die junge Frau eine gute Priesterin werden würde.

Nachdem Yerina gegangen war, kleidete sich Zada ein letztes Mal in das graue Gewand einer Anwärterin. In der abendlichen Zeremonie würde sie die schwarzen Gewänder einer Priesterin erhalten. Im Anschluss würde sie das erstes Mal als vollwertiges Mitglied der Priesterinnenschaft am Ritual der Wintersonnenwende teilnehmen. Entgegen ihrer Erwartungen war sie keineswegs aufgeregt oder unsicher, sie fühlte eine große innere Ruhe.

Gemessenen Schrittes machte sie sich auf den Weg zum Tempel. Sie betrat ihn durch die rückwärtige Tür. Die Vorbereitungen für den Abend waren abgeschlossen und momentan hielt sich noch niemand im Tempel auf. Zada kniete nieder und begann zu beten. Sie bat die Götter um ihren Segen für die bevorstehende Weihe und ihr Wirken als Priesterin.

Auch bat sie darum, sie möge die Kraft haben, die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Sie war sich bewusst, dass das Amt der Priesterin ein verantwortungsvolles war. Ihre Aufgabe würde es sein, die Gläubigen zu einem Leben anzuleiten, welches ihnen das Wohlwollen der Götter einbrachte. Seit die Sechs die Welt gerettet hatten, arbeitete Yerina unablässig daran, ein neues Bild von den Göttern zu verbreiten. Zuvor waren die Götter als Schöpfer der Welt verehrt worden, die jedoch keine oder nur wenig Macht über das Leben hatten. Die Sechs aber hatten am eigenen Leib erfahren, dass die Götter nicht nur stille Beobachter waren, sondern fähig und willig waren, schlechtes Verhalten zu bestrafen und gutes zu belohnen. Daher waren die Lehren des Tempels nun viel mehr auf das tägliche Leben ausgerichtet. Immer wieder betonte Oberpriesterin Yerina, dass jeder mit einem achtsamen Leben mehr Gunst bei den Göttern erwerben konnte als mit regelmäßigen Besuchen im Tempel. Ein jeder sollte seinen Mitmenschen mit Güte und Liebe begegnen, die Natur schützen und von jeder Art von Gewalt Abstand nehmen. Die Regeln hatten anfangs eine radikale Neuerung dargestellt und nicht alle Menschen waren damit einverstanden gewesen. Einige hatten es als unangemessene Einmischung des Tempels in ihre Leben gesehen. Inzwischen hatten sich die Regeln jedoch als Bestandteil des Glaubens etabliert und hatten auch in zahlreiche geistliche Schriften Eingang gefunden. Dies bedeutete jedoch keineswegs, dass die Welt frei von Gewalt und Gier war. Während ihrer Ausbildung hatte Zada gelernt, dass es dunkle Flecken in der Natur eines jeden Menschen gab und dass es Anstrengungen und Disziplin erforderte, diese zu unterdrücken und nach den Regeln zu leben. Nicht alle Menschen waren dazu fähig oder willens.

Langsam füllte sich der Tempel mit Priesterinnen und Anwärterinnen, gleich würde ihre Weihe beginnen. Die Oberpriesterin trat zu ihr. „Seid Ihr bereit, Zada?“

Sie nickte und Yerina nahm ihre Hand und führte sie zum Heiligen Würfel. Die anderen Priesterinnen bildeten einen Kreis um sie und den schwarzen Würfel. Sie fassten einander bei den Händen und sprachen ein kurzes Gebet, in dem die Götter um ihren Segen für diese Zeremonie gebeten wurden. Dann erhob Yerina ihre Stimme: „Zada, Ihr seid heute hier vor die Götter getreten, um ihnen Euer Leben zu widmen und zu geloben, ihnen für den Rest Eures Lebens zu dienen aus vollem Herzen und mit ganzer Seele. Seid Ihr gewillt, nach den Regeln der Götter und unseres Glaubens zu leben? Dann gelobt es.“

„Ich gelobe es.“ Mit diesen Worten kniete Zada nieder.

Die Oberpriesterin legte ihr die Hände auf den Kopf und sprach die rituellen Worte der Weihe. Zwei Priesterinnen traten aus dem Kreis, zogen Zada das graue Gewand über den Kopf und streiften ihr ein schwarzes über.

Zada erhob sich und wurde von Yerina umarmt. Die Oberpriesterin küsste ihre Stirn. Danach traten die anderen Priesterinnen heran. Eine nach der anderen schloss sie in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, um sie im Kreise der Priesterinnen willkommen zu heißen. Damit war die Weihe abgeschlossen. Zada blieb jedoch nicht viel Zeit, die Ereignisse auf sich wirken zu lassen, denn sogleich wurden die Tempeltore geöffnet, um die Gläubigen einzulassen, die der Zeremonie zur Wintersonnenwende beiwohnen wollten.

Bisher hatte sie stets nur als Beobachterin an diesem Ritual teilgenommen, Anwärterinnen hatten keine aktive Rolle dabei. Daher war es schon etwas Neues für sie, obgleich sie es schon sechs Mal erlebt hatte.

Zu Beginn umrundete eine jede Priesterin den Heiligen Würfel und berührte alle sechs Seiten. Da sie die Jüngste war, war sie als letzte an der Reihe. Kaum hatte sie die sechste Seite berührt, ging ein Raunen durch den Tempel. Zunächst war sie irritiert, doch dann warf sie einen Blick auf den Würfel. Wo bisher nur glatte Flächen gewesen waren, zeigten sich nun seltsam fremdartige Zeichen, die die komplette Oberfläche bedeckten.

Die Oberpriesterin hob die Arme und bat um Ruhe. Das Ritual würde wie gewohnt fortgesetzt werden. Offensichtlich hatten die Götter ihnen ein Zeichen gesandt, dies wäre jedoch nicht die Zeit, es zu ergründen. Diese Nacht diente dem Dank an die Götter für ihre Güte.

Yerina war klar, dass gerade etwas Bedeutendes geschehen war. Dennoch hielt sie es für besser, die Zeremonie nicht zu unterbrechen. Sie wollte nicht noch mehr Verunsicherung bei den Gläubigen schüren. Eine Untersuchung würde bis zum Morgen warten müssen. Sie hoffte, dass die Veränderung dauerhaft war.

Am Morgen konnte sie es kaum erwarten, bis alle Gläubigen den Tempel verlassen hatten. Leider ergab die anschließende Untersuchung des Würfels nur wenig. Keine der Priesterinnen konnte einen Sinn in den fremden Zeichen entdecken. Auch die Befragung Zadas, unter deren Berührung die Symbole erschienen waren, ergab keine Anhaltspunkte. Zada hatte nichts Außergewöhnliches gespürt.

Yerina entließ die Priesterinnen in die wohlverdiente Ruhepause und blieb alleine im Tempel zurück. Immer wieder umrundete sie den Würfel, berührte die von den fremden Zeichen durchzogenen Flächen. Sie versuchte, eine Regelmäßigkeit zu entdecken. Tatsächlich gab es nur eine begrenzte Anzahl von Zeichen, die sich immer wiederholten. Bisweilen gab es auch Gruppen von Zeichen, die mehrfach auftraten. 'Wie Buchstaben!', schoss es ihr durch den Kopf. Demnach waren die Zeichen eine Schrift, die jedoch nichts mit der in Cytria verwendeten gemein hatte. Warum schickten die Götter ihnen eine Nachricht in einer fremden Schrift? Und was hatte Zada damit zu tun? Schließlich war sie es gewesen, die die Schrift hatte erscheinen lassen. Yerina war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, dass sie nicht länger allein war.

Obgleich sie zunächst mit den anderen Priesterinnen den Tempel verlassen hatte, war sie nach einer kurzen Pause und Stärkung dahin zurückgekehrt. Die seltsamen Zeichen hatten Zada keine Ruhe gelassen. Bei ihrer Befragung hatte sie nicht alles gesagt. Zwar hatte sie beim Berühren des Würfels wirklich nichts gespürt, aber als sie am Morgen die Zeichen betrachtet hatte, so waren sie ihr seltsam vertraut vorgekommen. Was immer da vor sich ging, es hatte etwas mit ihr zu tun. Jedoch konnte sie nicht genau sagen, worin die Verbindung bestand. Deshalb wollte sie den Würfel noch einmal in Ruhe betrachten. Als sie den Tempel betrat, hielt sie ihn zunächst für leer. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, bemerkte sie Yerina, die gedankenverloren auf den Würfel starrte. Vorsichtig näherte sie sich, um die Oberpriesterin nicht zu erschrecken. Jetzt schien diese Zada entdeckt zu haben. Sie nickte Zada kurz zu. Dennoch sprach sie sie nicht an, als Zada sich dem Würfel näherte und mit den Händen über die Zeichen strich. Das Gefühl der Vertrautheit verstärkte sich. Ohne es zu merken, begann sie Worte vor sich hinzumurmeln.

Nachdem sie sie bemerkt hatte, ließ Yerina Zada zunächst gewähren. Sicher war die junge Priesterin aus dem gleichen Grund wie sie hier: Sie suchte Antworten. Dann hörte sie Worte, die sie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gehört hatte. Zada war wieder in jene seltsame Sprache verfallen, die sie gesprochen hatte, als sie vor zwölf Jahren am Strand bei Aaran gefunden worden war. Schon lange hatte Zada die Worte, deren Bedeutung sie selbst nicht kannte, nicht mehr verwendet, schien sie vollständig vergessen zu haben. Nun aber sprudelten sie aus der jungen Priesterin heraus. Zada hatte die Berührung der Zeichen unterbrochen und sofort versiegten die Worte aus ihrem Mund. Sie wandte sich der Oberpriesterin zu: „Es ist seltsam. Mir ist, als hätte ich solche Zeichen bereits einmal gesehen.“

„Nun, die Wege der Götter sind bisweilen nicht leicht nachvollziehbar. Möglicherweise wollen sie uns prüfen. Was hatten die Worte zu bedeuten, die Ihr vorhin spracht?“

Zada schaute verwirrt. „Was meint Ihr?“

„Nun, als Ihr den Würfel berührtet, habt Ihr wieder die Sprache benutzt, auf die Ihr als Kind bisweilen verfallen seid.“

„Ich habe nicht gemerkt, dass ich sprach. Meint Ihr, es besteht ein Zusammenhang zwischen meinen Worten und den Zeichen auf dem Heiligen Würfel?“ „Ich vermute, dass es sich bei den Zeichen um Buchstaben einer uns fremden Sprache handelt. Vielleicht ist es gerade jene Sprache, die Ihr gesprochen habt, als wir Euch damals aufnahmen.“

„Nun, selbst wenn da ein Zusammenhang besteht, so wird uns das nicht bei der Lösung dieses Rätsels helfen. Schon als ich noch ein Kind war, ist mir die Bedeutung der Wörter abhandengekommen.“

„Dessen bin ich mir bewusst, Zada. Ich denke, wir werden Gelehrte hinzuziehen. Vielleicht können sie uns helfen. Ich werde noch heute einen Boten losschicken und darum ersuchen, dass man uns einen Gelehrten schickt, der die Schrift untersucht. Dennoch möchte ich Euch bitte, zu versuchen, Euch zu erinnern. Vielleicht fällt Euch die Bedeutung der Worte wieder ein. Möglicherweise seid Ihr der Schlüssel zu diesem Rätsel. Eure Verflechtungen in die Vorgänge und Eure ungeklärte Herkunft mögen ein Indiz dafür sein, dass die Götter Euch in dieser Sache eine wichtige Rolle zugedacht haben.“

Yerina sah, dass ihre Worte Zada verstörten und fügte hinzu. „Habt keine Angst, sollten Euch die Götter wirklich eine besondere Aufgabe zugedacht haben, so müsst Ihr sie nicht allein meistern. Ihr werdet von allen Seiten Unterstützung erfahren, dessen könnt Ihr sicher sein.“ Beschützend nahm sie die junge Priesterin in ihre Arme. „Ich denke, dies ist ein guter Zeitpunkt, Eure Eltern zu besuchen. Sicher wollt Ihr Euch mit ihnen über die Geschehnisse austauschen. Ich werde sie heute Abend ebenfalls aufsuchen und Euch danach zurück in den Tempel begleiten.“

Zada nickte dankbar und machte sich sogleich auf den Weg in die Stadt. Über ihr Gespräch war es Mittag geworden, gleich würde der Tempel wieder für die Gläubigen öffnen. Wenn sich die Gerüchte über die Geschehnisse der letzten Nacht so schnell verbreitet hatten, wie das gewöhnlich der Fall war, würde es einen großen Ansturm geben. Yerina hielt es für besser, heute vier statt der üblichen zwei Priesterinnen mit der Betreuung der Gläubigen zu betrauen. Allerdings würde sie ihnen einschärfen, keinerlei Vermutungen über das Erscheinen der Zeichen zu äußern und lediglich zu sagen, es sei das Wirken der Götter. Sie verließ den Tempel eilig, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen.

Jahr 3619 Mond 1 Tag 1, Jal

„Darija, wie Ihr wisst, beginnt heute Euer letztes Ausbildungsjahr. Bis jetzt habt Ihr all meine Erwartungen übertroffen, daher habe ich mir als Abschluss etwas Besonderes ausgedacht. Ich möchte, dass Ihr Euer eigenes Schiff baut.“

„Aber wir haben doch schon viele Schiffe gebaut.“ Dies entsprach der Wahrheit. Vom einfachen Fischerboot bis zum Handelsschiff hatte sie schon jeden geläufigen Schiffstyp gebaut. Natürlich nicht allein, ihr Meister hatte mehrere Angestellte und bei größeren Projekten arbeiteten sie mit anderen Schiffbauern zusammen.

„Da habt Ihr Recht, aber immer nach althergebrachten Plänen. Oft habt Ihr mich gefragt, warum bestimmte Dinge so und nicht anders gebaut werden. Bei Eurem eigenen Schiff könnt Ihr all dies ausprobieren. Ich denke, dass viele Eurer Ideen funktionieren könnten und ein von Euch konstruiertes Schiff könnte etwas völlig Neues sein.“

„Und was ist, wenn es nicht funktioniert?“

„Habt Vertrauen in Euch. Dieses Jahr habe ich mir vorgenommen, von Euch zu lernen.“

„Wie Ihr meint, Meister Brimp.“

Obgleich sie noch immer zweifelte, ob dieser Versuch glücken konnte, blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als sich dem Wunsch ihres Meisters zu beugen. Die letzten fünf Jahre war sie sehr zufrieden mit ihrer Ausbildung gewesen. Beinahe jeden Tag hatte sie etwas Neues gelernt. Es machte ihr Freude, zu sehen, wie Holz unter ihren Händen zu einem Teil eines Schiffes wurde.

Anfangs hatten viele der Schiffbauer gezweifelt, ob ein Mädchen der schweren Arbeit gewachsen war, doch sie hatte alle eines Besseren belehrt. Sie trug schwere Balken wie jeder Mann und ihre Geschicklichkeit übertraf inzwischen sogar die ihres Meisters. Die von ihr gefertigten Teile waren von überragender Passgenauigkeit. Sie hatte wohl wirklich die handwerklichen Fähigkeiten ihrer Mutter geerbt.

Jahr 3619 Mond 1 Tag 20, Roteha

Mawen unterbrach seinen allmorgendlichen Spaziergang auf einer kleinen grasbewachsenen Anhöhe, um eine Weile aufs Meer zu schauen. Seit er auf Roteha weilte, hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, seine freie Zeit draußen zu verbringen. Schließlich war er in der Natur aufgewachsen und ertrug es nicht, sich die ganze Zeit in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Wann immer es das Wetter erlaubte, stand auch das Fenster seines Studierzimmers weit offen. Von den anderen Gelehrten erntete er für dieses Verhalten meist Kopfschütteln. Viele von ihnen waren schon eine lange Zeit auf Roteha und kannten kaum mehr etwas anderes als Bücher, Schriftrollen und gelehrte Diskussionen. Nur wenige verließen die Insel regelmäßig, um neue Schüler zu finden oder durch das Land zu reisen, um neues Wissen zu erwerben. Die meisten begnügten sich mit dem über Jahrhunderte auf der Insel zusammengetragenen Wissen, dessen Menge insbesondere für Neulinge auch unendlich zu sein schien.

Obgleich es für Mawen, der erst seit sieben Jahren auf Roteha weilte, hier noch viel zu entdecken und erlernen gab, teilte er die Einstellung seines Lehrers Ruwen, dass regelmäßiger Kontakt zum Rest von Cytria absolut notwendig für die wissenschaftliche Arbeit war. Schon drei Mal war Ruwen in seiner Zeit als Mawens Lehrer für mehrere Monde auf Reisen gewesen. Bis jetzt hatte Mawen ihn jedoch nie begleiten dürfen. Schüler blieben in der Regel auf Roteha. Dies hieß, Mawen würde wohl noch fünf Jahre hier eingesperrt sein, denn anders als bei anderen Berufen betrug die Lehrzeit für Gelehrte zwölf statt der üblichen sechs Jahre. Aber dennoch hatte Mawen von Ruwens Reisen profitiert, denn stets war dieser mit spannenden Geschichten und neuem Wissen zurückgekehrt. Überhaupt war Mawen sehr glücklich, dass Ruwen ihn als Schüler angenommen hatte. Er ließ ihm weitgehend freie Auswahl zwischen all dem Wissen. Wohin auch immer sein Interesse ihn leitete, Ruwen versuchte all seine Fragen zu beantworten. Nichtsdestotrotz bestand er darauf, dass Mawen auch allerlei Grundlagen lernte, die für einen Gelehrten unerlässlich waren. So hatte Mawen in den vergangenen sieben Jahren allerlei Wissen über Mathematik, Natur und Geschichte aufgenommen.

Außerdem gab es da noch die Gelehrtensprache Zyn, die nur auf Roteha verwendet wurde. Anders als die Allgemeinsprache Cytrian wurde Zyn nicht gesprochen, sondern lediglich für wissenschaftliche Aufzeichnungen genutzt. Über den Ursprung dieser Sprache wussten selbst die Gelehrten nicht viel zu sagen. Man nahm an, dass die Sprache noch aus der Ära vor der Zeitenwende stammte, aber sicher war man sich da nicht. Jedoch war es den Gelehrten gelungen, die Sprache über die vergangenen Jahrtausende zu bewahren. Je länger sich Mawen mit dieser Sprache beschäftigt hatte, desto faszinierter war er gewesen. Zyn beruhte auf dem gleichen Alphabet wie Cytrian, war jedoch von einer Logik, die nicht durch Veränderungen im tagtäglichen Gebrauch aufgeweicht worden war. Wenn Zyn für Niederschriften wissenschaftlicher Erkenntnisse verwendet wurde, dann waren dabei keinerlei Freiheiten gestattet. Nur gelegentlich mussten neue Worte entwickelt werden, um neuen Entdeckungen und Entwicklungen Rechnung zu tragen. Doch auch dafür gab es sehr strenge Vorgaben. Daher waren neue wissenschaftliche Schriften kaum von älteren zu unterscheiden. Nach nur sechs Jahren hatte Mawen Zyn sowohl flüssig lesen und verstehen als auch schreiben gekonnt, was ihm viel Lob von Ruwen und den anderen Gelehrten eingebracht hatte. Überhaupt hatte sich sein Lehrmeister bis jetzt stets sehr zufrieden mit Mawens Fortschritten gezeigt.

Während Mawen aufs Meer schaute, zogen plötzlich Segel am Horizont seine Aufmerksamkeit auf sich. Das Schiff hielt unverkennbar auf Roteha zu. Daher entschied er, es wäre Zeit, in die Siedlung, in der die Gelehrten wohnten und deren Zentrum die große Bibliothek mit angeschlossenen Gemeinschaftsräumen bildete, zurückzukehren.

Da er seinen Lehrmeister in dem gemeinsamen Haus nicht vorfand, machte er sich auf den Weg in den großen Speisesaal. Wirklich hatten sich bereits die meisten Gelehrten zum Frühstück eingefunden. Bevor sich Mawen zu den anderen Schülern an die lange Tafel setzte, ging er hinüber zu seinem Lehrmeister und berichtete ihm von dem entdeckten Schiff. „Danke für die Nachricht, ich werde jemanden zum Hafen schicken.“

Nach der Morgenmahlzeit ging Mawen wie gewohnt in die Bibliothek und vertiefte sich in das Werk zur Geschichte Cytrias, welches ihm sein Lehrmeister empfohlen hatte. Wenig später aber wurde er in seiner Konzentration unterbrochen. Ein Gong läutete, was bedeutete, dass sich alle im großen Saal einfinden sollten.

Aus allen Winkeln der Siedlung strömten Gelehrte und Schüler in den großen Saal, wo sich die obersten Gelehrten, ein Dreiergremium, welches alle vier Jahre gewählt wurde und für die Verwaltung der Insel zuständig war, bereits eingefunden hatten. Neben ihnen saß ein fremder Mann, offenbar der Grund für die Zusammenkunft. Nachdem alle Platz genommen hatten, erläuterte der Vorsitzende den Grund der Zusammenkunft. Der Bote war aus der Hauptstadt Aaran gekommen, um im Auftrag des Tempels und der Oberpriesterin die Gelehrten um Rat zu ersuchen. In kurzen Worten schilderte der Bote, was sich in der Nacht der Wintersonnenwende im Tempel zugetragen hatte. Nun hoffte man, dass die Gelehrten bei der Entschlüsslung der fremden Schrift helfen konnten.

Die obersten Gelehrten baten um Vorschläge, wer für diese Aufgabe geeignet war. Zahlreiche Vorschläge wurden gemacht, doch einige Gelehrte lehnten es ab, Roteha zu verlassen. Nach einiger Diskussion wurde Ruwen vorgeschlagen. Seine Reiselust war bekannt und außerdem war er bewandert in Geschichte und religiösen Fragen. Ruwen stimmte zu und bat die obersten Gelehrten darum, dass sein Schüler Mawen ihn begleiten durfte.

Zunächst war das Gremium skeptisch, doch Ruwen argumentierte, dass Mawen eine sehr große Begabung gezeigt hatte, als es darum ging, Zyn zu lernen. Also war es beschlossen.

Jahr 3619 Mond 2 Tag 29, Jal

Es hatte fast zwei Monde gedauert, die Pläne für ihr erstes eigenes Schiff zu erstellen und zu zeichnen. Oft hatte sie tagelang über Kleinigkeiten gegrübelt, aber ihr Meister hatte sie davon überzeugt, dass ihr Plan nun reif für die Umsetzung war. Es würde nur ein kleines Schiff sein, ein Segler, der maximal zehn Personen und etwas Fracht transportieren konnte. Wenn ihre Überlegungen korrekt waren, würde man mit diesem Schiff aufgrund der besonderen Form der Segel auch bei wenig Wind zügig vorankommen. Auch bedurfte es nur einer seefahrerisch halbwegs geschulten Person, um das Schiff auf Kurs zu halten. Darija wusste von ihrem Vater, dass dies ein enormer Vorteil sein konnte. Noch einmal überprüfte sie ihre Zeichnung. Morgen würde sie im Holzlager die geeigneten Materialien auswählen.

Jahr 3619 Mond 3 Tag 1, Aaran

Nur drei Tage nach Eintreffen des Boten waren Ruwen und Mawen mit ihm aufgebrochen. Vor ihrem Aufbruch hatten beide Tag und Nacht in der Bibliothek verbracht, um geeignete Werke auszuwählen, die sich mit Schrift, Sprache und Religion beschäftigten. Die anderen Gelehrten und Schüler halfen, interessante Passagen zu kopieren, da Originalwerke nicht aus Bibliothek entnommen werden durften. Für das Sortieren der Aufzeichnungen hatten sie erst an Bord des Schiffes Zeit gefunden.

Nach einer zum Teil sturmgeschüttelten Schiffspassage erreichten sie nach etwas mehr als einem Mond am ersten Tag des dritten Mondes den Hafen von Aaran. Offenbar wurden sie bereits erwartet, denn kaum war die Laufplanke ausgelegt, lösten sich zwei in priesterliches Schwarz gekleidete Frauen aus dem Menschengetümmel am Hafen. Die beiden Priesterinnen begrüßten Mawen und seinen Lehrer freundlich und geleitetet sie zugleich durch das Gewirr der Gassen zum Tempel. Träger würden währenddessen das Gepäck entladen und zum Gästehaus der Regierung bringen, das sich in einem Nebengebäude des ehemaligen Königspalastes befand. Offensichtlich war nicht nur der Tempel an einer Erklärung für die seltsamen Zeichen auf dem Heiligen Würfel interessiert.

In der Weite der Landschaft Eirens aufgewachsen, hatte Mawen nie eine konkrete Vorstellung von einer Stadt entwickelt. Daher war in Aaran alles neu und aufregend für ihn. Sein Lehrer musste ihn mehrmals ermahnen, nicht vor lauter Staunen und Neugierde stehen zu bleiben. Für eine Besichtigung Aarans würde sich später sicher noch Zeit finden lassen.

Besonders überwältigt war Mawen von der Vielzahl an Menschen, die geschäftig durch die Straßen eilten. Auch war es ungewohnt laut und stickig. Wenn es in Städten immer so zuging, so konnte er nicht verstehen, warum Leute freiwillig hier lebten. Als sie nach einiger Zeit den Tempel erreichten und betraten, empfand Mawen die darin herrschende Ruhe als Wohltat. Zwar waren auch hier viele Menschen versammelt, aber die meisten waren in stille Gebete versunken, Gespräche mit den Priesterinnen waren nur sehr gedämpft zu vernehmen.

Die beiden Priesterinnen baten Ruwen und Mawen zu warten. Die Oberpriesterin würde sie gleich willkommen heißen. Die beiden nutzten die Wartezeit, um einen ersten Blick auf den Heiligen Würfel zu werfen. Im Gegensatz zu Ruwen kannte Mawen das zentrale Heiligtum Cytrias nur aus Erzählungen und von Zeichnungen. Leise erklärte ihm sein Lehrer, dass die Oberfläche einst vollkommen glatt gewesen war. Als Mawen den Würfel berühren wollte, hielt ihn Ruwen zurück. Es wurde nicht gern gesehen, wenn Gläubige den Würfel ohne Erlaubnis der Priesterinnen berührten.

„Erkundet ihn zuerst mit den Augen. Wenn Euch irgendwas auffällt oder plötzlich in den Sinn kommt, so teilt es mir mit. Wir haben es hier mit etwas vollkommen Neuem zu tun. Jeder Hinweis kann hilfreich sein.“

Mawen nickte verstehend. Seine Blicke wanderten zunächst über den Würfel als Ganzes, bevor er sich dem Relief aus Zeichen widmete. Schnell bemerkte er, dass es nur eine begrenzte Anzahl Zeichen gab. Ja, dies war unverkennbar eine Art von Schrift. Und er würde helfen dürfen, deren Sinn zu ergründen.

Seine Gedankengänge wurden durch seinen Lehrmeister unterbrochen, der ihm die Hand auf die Schulter legte. Soeben war die Oberpriesterin eingetreten.

Nach einigen Worten der Begrüßung lud Yerina den Gelehrten Ruwen und seinen Schüler Mawen ein, mit ihr zu essen. Sie war froh, dass die beiden endlich eingetroffen waren, um ihr bei der Lösung des Rätsels zu helfen. Durch einen Botenvogel, den der von ihr nach Roteha gesandte Mann mitgeführt hatte, war sie schon frühzeitig über die baldige Ankunft der beiden informiert gewesen.

Der speziell trainierte Wara war kurz nach dem Aufbruch von Roteha auf die Reise geschickt worden und schon vor einem Mond in der Vogelstation von Aaran eingetroffen. Die meisten Städte Cytrias verfügten über eigene Botenvögel. Diese fanden stets den Weg zurück in ihre Heimatstadt, wohin auch immer sie gebracht worden. Dieses schnelle und zuverlässige Kommunikationssystem war von unschätzbarem Wert für die Verwaltung Cytrias und die Regierung förderte den Ausbau des Netzes. Roteha jedoch verfügte über keine eigenen Botenvögel. Die Gelehrten lehnten es ab, weil sie nicht permanent von irgendwelchen Anfragen belästigt werden wollten. Außerdem war bisher keiner von ihnen willens gewesen, sich um Training und Pflege der Vögel zu kümmern. Daher musste jede Anfrage persönlich überbracht werden, was auch in diesem Fall wertvolle Zeit gekostet hatte. Nun aber war der Gelehrte eingetroffen und Yerina war zuversichtlich, dass er helfen konnte.

Schon einmal hatte sich Ruwen als hilfreich erwiesen, damals, als sie und ihre Gefährten nach dem Schnittpunkt der Linien der Macht gesucht hatten. Ohne Ruwens Wissen wäre ihnen die Rettung Cytrias nicht gelungen.

Auch Ruwens Schüler gab Anlass zur Hoffnung. Von Peria wusste Yerina, wie intelligent Madia beziehungsweise Mawen war. Sie musste sich bloß in acht nehmen, dass sie Mawens Geheimnis nicht versehentlich aufdeckte. Sie betrachtete Ruwens Schüler, der neben seinem Meister am reich gedeckten Tisch Platz genommen hatte. Seine Täuschung war wirklich perfekt. Hätte Yerina es nicht besser gewusst, sie hätte die Tochter ihrer Freunde mit dem kurz geschorenen blonden Haar, dem schlaksigen Körperbau und dem schmalen Gesicht wirklich für einen jungen Mann gehalten. Anders hätte er wohl die Gelehrten auch keine sieben Jahre täuschen können.

Nachdem sich ihre Besucher von Roteha bei Speis und Trank gestärkt hatten, kam das Gespräch von unverbindlichen Höflichkeiten schnell zum Grund ihrer Anwesenheit.

Yerina berichtete, unter welchen Umständen es zu der Veränderung am Heiligen Würfel gekommen war und was sie bis jetzt für Erkenntnisse gewonnen hatte. Leider war dies nicht besonders viel. Obgleich Zada sich bemüht hatte, konnte sie nichts über die fremde Sprache sagen. Zwar gab sie noch immer Brocken jener Sprache von sich, wann immer sie den Heiligen Würfel berührte, deren Sinn jedoch blieb ihr verborgen.

Andere Priesterinnen und auch Besucher des Tempels hatten zwar viele Vermutungen geäußert, doch wirkliche Ergebnisse hatte man in den letzten Monden keine erzielt.

Die kurze Begutachtung des Würfels hatte Ruwen und Mawen ausgereicht, um Yerinas Vermutung, dass es sich bei den Zeichen um eine Schrift handelte, zu bestätigen. Sie versprachen, nichts unversucht zu lassen, die Struktur und den Sinn jener Schrift zu ergründen. Yerina sicherte ihnen alle benötigten Mittel zu, bat sie aber, die genauere Untersuchung des Heiligen Würfels nur unter Aufsicht einer Priesterin durchzuführen. Auch wäre es notwendig, diese zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang zu tun, um den normalen Betrieb im Tempel nicht zu stören. Es kursierten schon genug Gerüchte darüber, was die Veränderung des Heiligen Würfels zu bedeuten hatte, weshalb eine allzu öffentliche Untersuchung zu vermeiden sei. Ruwen und sein Schüler zeigten sich zufrieden mit dieser Vereinbarung und wollten sich noch am selben Abend an die Arbeit machen.

Enthüllungen

Jahr 3619 Mond 4 Tag 2, Aaran

Über ihre Forschungen war inzwischen ein Mond vergangen. Sie hatten sechs Nächte benötigt, die Zeichen vom Würfel akkurat auf Pergament zu übertragen. Dann begannen sie, die vermeintliche Schrift zu untersuchen.

Schnell fanden sie ein Zeichen, das sich häufiger wiederholte als die anderen. Der schräge Strich stellte möglicherweise eine Worttrennung dar. Ferner fanden sie noch vierzig andere Zeichen. Fünf davon stuften sie als Satzschlusszeichen oder Trennungszeichen ein. Es blieben also noch fünfunddreißig, die für bestimmte Laute standen. Allerdings hatten sie keine Anhaltspunkte dafür, für welche, da sie überhaupt nichts über die fremde Sprache wussten. Seit sechs Tagen hatten sie keine Fortschritte mehr gemacht.

Mawens Laune verschlechterte sich allmählich. Sie hatten so hart gearbeitet und doch war eine Lösung des Rätsels unerreichbar weit entfernt. Auch fühlte er sich in dem Gästehaus der Regierung irgendwie eingesperrt, obgleich ihre Räume über eine komfortable Ausstattung verfügten. Außer seinen täglichen kurzen Spaziergängen in den ehemaligen Palastgärten und den anfänglich täglichen Besuchen im Tempel hatte Mawen das Gästehaus nicht verlassen. Von früh bis spät hatte er mit seinem Lehrmeister an der Enträtselung der Schrift gearbeitet. Als Mawen an diesem Morgen von seinem Spaziergang zurückkehrte, hielt Ruwen eine Überraschung für ihn bereit. Er saß bereits beim Frühstück, das ihnen wie immer von den Hausangestellten im Salon ihrer Zimmerflucht serviert worden war, und sein Gesicht zeigte ein schalkhaftes Lächeln, das doch recht untypisch für ihn war. Nur selten zeigte der Gelehrte, der bestimmt schon fünfzig Sommer gesehen hatte, Gefühle. Nur während seiner Arbeit ließ er sich bisweilen zu Gefühlsregungen hinreißen. „Was habt Ihr?“, fragte Mawen.

„Setzt Euch und esst. Wir haben einen aufregenden Tag vor uns. Wir nehmen uns heute mal frei. Ihr wolltet doch schon lange Aaran erkunden. Und etwas Ablenkung bringt uns vielleicht auf neue Ideen, wie wir unser Problem angehen können.“

Mawen war so überrascht, dass er nichts zu sagen wusste. Er setzte sich und aß mit Appetit. Heute würde er endlich Aaran entdecken können. Ob ein Tag dafür überhaupt ausreichen würde?