Verstoßene Träume - Anja Buchmann - E-Book

Verstoßene Träume E-Book

Anja Buchmann

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Beschreibung

Träume bedeuten eine ganze Welt! Die Magie Terrevés speist sich aus der Gabe eines Träumers oder einer Träumerin. Ohne sie ist die Welt dem Untergang geweiht. Zögernd und voller Zweifel nimmt die achtzehnjährige Liv ihre Bürde als nächste Träumerin an, doch die erschaffenden Träume bleiben aus. Stattdessen träumt der Berliner Student Aaron von der Welt, welche aus Träumen erwächst. Wird es Liv und Aaron gemeinsam gelingen, der Bedrohung durch die machtgierigen Wächter des Traums zu trotzen? Können sie Terrevé und dessen Magie wieder erblühen lassen?

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Seitenzahl: 225

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Verstoßene Träume

Verstoßene TräumePrologBestimmungRuhelosAufbruchSchlaflosEingeständnisseUnwiderstehlichMorgenschreckErkenntnisseAnruf/ungEnt/TäuschungVersetztKellAnkunftFluchtTraumlandReisemagieFremdGedankenschwerAlleinGemeinsamJunkfoodBeziehungenAndersIantheWagnisFamilieFortGefangenHoffnungBeistandPläneTrostMachtNeubeginnEpilogDie AutorinImpressum

Verstoßene Träume

Fantasyroman von Anja Buchmann

Prolog

TERREVÉ, Frühjahr vor 14 Jahren

Der Bach rauscht und tost ohrenbetäubend. Es ist das Schmelzwasser aus den Bergen, das mit aller Macht ins Tal hinabstürzt und selbst große Gesteinsbrocken polternd durch das Bett des sonst träge dahinfließenden Baches befördert.

In den Augen des kleinen Mädchens spiegelt sich dennoch keinerlei Ehrfurcht vor den Gewalten der Natur. Gleichmütig betrachtet das Kind die reißenden Wassermassen. Ganz nah steht es an der Wasserkante. Immer wieder spritzt Wasser auf die nackten rundlichen Beinchen. Obwohl der Morgen kalt ist, liegen Schuhe und Strümpfe im Gras.

Die goldenen Schuppen eines Fisches glitzern im Sonnenlicht und das Mädchen beugt sich vor, um nach ihm zu greifen. Die roten Zöpfe fallen im gleichen Moment nach vorne, in dem die Kleine das Gleichgewicht verliert.

Das Gesicht gerät unter Wasser und der kleine Körper droht, von der Strömung über die Steine geschleift zu werden. Hilflos rudert das Kind mit den Armen, schafft es aber nicht, auf die Füße zu kommen. Die Vögel schweigen und selbst das Blätterrascheln der hohen Waldbäume verstummt, während sie um ihr junges Leben ringt.

»Sie ist eine Träumerin. Du musst wirklich besser auf sie achten.« Liams Stimme wirkt vollkommen ruhig, lässt nichts von dem Gefühlssturm in seinem Inneren erahnen.

Er hat sich selbst zur Ruhe gezwungen, um Kind und Mutter keinen noch größeren Schrecken einzujagen. Die Kleine zittert ohnehin schon genug – ob vor Kälte oder Angst, kann er nicht sagen. Die Augen der jungen Frau hingegen sind vor Schreck geweitet, wandern unruhig zwischen seinem Gesicht und der nassen Tochter auf seinem Arm hin und her. Ihr Teint ist fast ebenso fahl wie der des Mädchens.

Wie hilflos und verletzlich sie wirkt. Er spürt eine nie gekannte Anziehung, möchte die Hand ausstrecken, um ihr beruhigend über das Gesicht zu streichen, weiß im gleichen Augenblick, dass er diesem Impuls nicht nachgeben darf.

»Gib sie mir!«, fordert sie ihn schließlich auf und streckt die Arme nach dem Kind aus.

Gerne käme Liam der Bitte nach, doch das Mädchen klammert sich mit aller Kraft an ihn. »Es ist wohl besser, ich trage sie nach Hause. Momentan scheint sie sich bei mir sicher zu fühlen.«

Die Frau nickt zögerlich und sagt: »Dann komm.«

Er kann ihr ansehen, dass sie viele Fragen hat, sich jedoch nicht traut, sie dem Fremden zu stellen. Nun, es wird noch genug Zeit bleiben, sie alle zu beantworten. Die Geschehnisse des Morgens lehren Liam, dass er Ianthe und deren Tochter fortan nicht mehr von der Seite weichen darf. Um ein Haar wäre das Mädchen ertrunken und mit ihm die Zukunft.

Bestimmung

Terrevé, August

»Vater«, ruft sie und läuft ihm eilig entgegen. Schon schließt er sie in seine starken Arme und wirbelt sie herum. Als er sie absetzt, gibt sie ihm einen Kuss auf die bärtige Wange. Es ist ihr Begrüßungsritual, solange sie denken kann, und bereits als kleines Mädchen hat sie es geliebt.

Inzwischen weiß sie längst, dass er nicht ihr Vater ist. Liam ist nicht einmal der Mann ihrer Mutter. Aber das spielt keine Rolle, ist er ihr doch stets ein Vater gewesen. Er wacht über sie, schützte sie vor allen Gefahren, die ungestümen kleinen Mädchen nun einmal begegnen können. Vor allem lehrte er sie, auf sich selbst achtzugeben.

Sie hatte mit Liam darüber gesprochen, unzählige Male schon. Immer dringlicher redet er auf sie ein. Ianthe weiß, dass er recht hat. Sie muss Liv endlich die Wahrheit sagen. Besser, sie erfährt von ihr, als dass sie völlig unvorbereitet davon überrascht wird. Die Gefahr dessen steigt von Tag zu Tag, sind es doch nur noch fünf Monate bis zu Livs achtzehntem Geburtstag. Jede Nacht können die Träume über ihre Tochter hereinbrechen. Und selbst wenn dies nicht geschieht, drei Monate allein würden die Vorbereitungen erfordern. Die Zeit drängt. Sie seufzt. Warum muss es so schwer sein?

So ernst hat Liv ihre Mutter noch nie erlebt. Was ist los? Fieberhaft überlegt sie, ob sie irgendetwas getan hat, was ihre Mutter verärgerte. Ist es die Freundschaft zu Chim? Glaubt Ianthe, dort gehe etwas Ungehöriges vonstatten?

Liv setzt sich auf den Rand eines Stuhls, angespannt, bereit, jederzeit aufzuspringen, bereit, sich zu verteidigen.

Liam scheint ihre Angespanntheit zu spüren, tritt hinter sie und legt ihr die Hände auf die Schultern. Weiß er, was ihre Mutter mit ihr besprechen will?

Endlich ergreift diese das Wort. »Liv, in weniger als einem halben Jahr ist dein achtzehnter Geburtstag. Wie du weißt, ist dies traditionell der Zeitpunkt, an dem junge Menschen über ihren weiteren Lebensweg entscheiden.«

Darum also geht es. Ein Teil der Anspannung weicht, sie lehnt sich zurück und antwortet: »Ich weiß, Mutter. Ich habe schon darüber nachgedacht.«

Ihre Mutter steht auf und geht unruhig im Zimmer umher.

»Soll ich?«, fragt Liam so leise, dass er kaum zu verstehen ist, doch Ianthe schüttelt den Kopf, dann spricht sie weiter: »Liv, mein Kind, die Entscheidung über deine Zukunft fiel bereits bei deiner Geburt.«

Was hat das zu bedeuten? Steht es nicht jedem Menschen in Terrevé frei, ein Leben nach den eigenen Wünschen zu führen? Sind sie nicht stolz auf diese Freiheit, rühmen sie sich nicht damit? Mahnen nicht die Alten immer wieder, dass eine Abkehr davon sie zurückfallen ließe in die graue Vorzeit?

Sie kommt nicht dazu, all diesen Fragen Ausdruck zu verleihen, denn ihre Mutter ergreift erneut das Wort. »Dir ist eine wichtige Aufgabe zugedacht und schon bald müssen die Vorbereitungen dafür beginnen.« Sie macht eine Pause, holt tief Luft. »Liv, du bist eine Träumerin!«

Eine Träumerin? Liv kennt die Legende von den Träumern, jedes Kind auf Terrevé kennt sie. Es ist nur ein Märchen; niemals konnte wahr sein, was über diese Menschen gesagt wird. Wie kann es das auch? Einzelne, die in der Lage sind, die Welt zu erschaffen, wie soll das möglich sein? Sie hebt eine Augenbraue. »Mutter, die Träumer sind ein Mythos. Alle sagen das.«

Ianthe sucht ihren Blick. »Weil sie es nicht besser wissen. Nur wenige kennen die Wahrheit, zum Schutz der Träumer.«

»Schutz wovor?«

Es ist Liam, der antwortet. »Alles zu seiner Zeit. Um das zu verstehen, musst du erst mehr über das Wesen der Träumer erfahren, über dein Wesen.«

Sie reißt die Augen auf. Meint er das ernst? Glaubt er ebenfalls, sie sei eine Träumerin? Liv ist unschlüssig, was sie denken oder fühlen soll. Unzählige Fragen schießen ihr durch den Kopf, der sich gleichzeitig seltsam leer anfühlt. Sie will allein sein, muss fort von den Blicken ihrer Eltern.

»Liv, bleib!«, bittet ihre Mutter.

Liam hebt die Hand. »Lass sie, gib ihr Zeit«, wendet er ein.

Es ist mehr als Zeit, was sie braucht. Von einem Augenblick zum anderen ist sie ihrer Identität beraubt. Sie ist nicht länger Liv, das rothaarige Mädchen aus dem Wald. Nun ist sie eine Träumerin. Noch hat sie keine genaue Vorstellung davon, was dies bedeutet, doch sie spürt ein Gewicht auf ihren Schultern ruhen, das zuvor nicht da gewesen ist.

Es ist jene Last, die ihr das Leugnen unmöglich macht. So sehr sie es sich wünscht, sie kann die Worte ihrer Mutter nicht als Lüge abtun. Mit jener Erkenntnis der Wahrheit kommt die Wut. Sie ist wütend auf Ianthe und Liam, die sie ihr ganzes Leben lang belogen haben. Sie knirscht mit den Zähnen. Zumindest muss sie annehmen, dass die beiden schon lange um ihre wahre Natur wissen. Denn plötzlich ergibt vieles, was sie taten, einen Sinn, allem voran Liams Part in ihrem Leben. Wenn er sie wirklich für eine Träumerin hält, so ist verständlich, warum er stets alles daran setzt, sie zu beschützen. Seine geheimnisvollen Reisen in der letzten Zeit stehen sicher im Zusammenhang mit der Rolle, die das Leben ihr zugedacht hat.

Wahrscheinlich ist ihre Mutter Ianthe nur die, die sie ist, weil Livs Bestimmung dies aus ihr gemacht hat. Zumindest kennt Liv keine andere Frau, die ihrer Mutter gleicht. Keine ist gleichermaßen gelehrt. So lange Liv sich zurückerinnern kann, hat sie Bilder vor Augen, in denen ihre Mutter über ein Buch gebeugt ist. Daher ist es für sie selbstverständlich, die Welt in allen Einzelheiten von ihrer Mutter erklärt zu bekommen. Bisher glaubte sie, diese umfassenden Kenntnisse nur dann zu benötigen, wenn sie sich entschiede, dereinst in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten; etwas, was sie in Betracht zog, jedoch schnell verwarf. Ihr Bezug zu Terrevé ist nicht vorrangig von gelehrter, theoretischer Natur, vielmehr hat sie stets den Eindruck, auf direkte, gefühlsmäßige Weise mit ihrer Umwelt verbunden zu sein. Sogar jetzt, im Zustand höchster Aufregung und Verwirrung, vermag sie, dies zu empfinden. Sie spürt, wie der Wald um sie herum mit geschäftigem Leben erfüllt ist, aber auch die Ruhe, die von den großen Steinen ausgeht, die das Bachbett säumen.

Sie nimmt auf einem jener Steine Platz.

Der Bachlauf ist seit jeher einer ihrer Lieblingsplätze. Sie genießt es, dem fließenden Wasser zuzusehen. Dieses Element, es ist so voller Widersprüche: Einerseits kann es Leben schenken, andererseits mit Leichtigkeit nehmen; es scheint so unbeständig und unstet, doch es besitzt die Kraft, Stein zu polieren, zu Sand zu zermahlen und alles fortzureißen, was sich ihm in den Weg stellt.

Heute scheint das Wasser ihrer Stimmung folgen zu wollen. Während sie nachdenklich dasitzt und in den Bach starrt, bilden sich dort immer wieder kleine Strudel und Verwirbelungen, die das Treibgut, Blätter und Ästchen, bald hierhin und bald dorthin werfen. Als dieses faszinierende Schauspiel ihre Aufmerksamkeit schließlich vollends gefangen nimmt, beruhigt sich der Strom allmählich. Im gleichen Maße, wie alle trüben Gedanken schwinden, nimmt das Gewässer seinen üblichen ruhigen Lauf wieder auf.

Er ahnte, dass er sie an diesem Ort fände, doch als er sie am Bach sitzen sieht, seufzt Liam trotzdem erleichtert auf.

Das Gesicht seines Schützlings kann er nicht sehen, aber er erkennt, dass es ihr den Umständen entsprechend gut geht. Das verrät ihm die Art, wie sie auf dem Stein sitzt, und ebenso die Ruhe der sie umgebenden Natur. Schon seit über einem Jahr spiegelt die Umwelt Livs Gefühle und ihr Befinden stark genug, dass er es erkennen kann, denn er weiß, worauf er achten muss. Vier Jahre lang hat er gelernt, ein Beschützer zu sein. Erst dann war das Leben der zukünftigen Träumerin in seine Hände gelegt worden. Vierzehn Jahre liegt das jetzt zurück und nicht einen Moment in dieser langen Zeit hegte er Zweifel an seiner Aufgabe. Dabei hatte er, wie Liv nun, keine Wahl, sondern war erwählt. Ein hartes Los in einer Welt, in der die Freiheit von allen Zwängen ein so hohes Gut ist.

Nicht ohne Wehmut denkt er an die Entbehrungen, die sein Leben bestimmten und noch immer bestimmen. Bedauern und Mitleid liegen deswegen in seinem Blick, mit dem er Liv betrachtet. Vielleicht ist er der Einzige, der ermessen kann, welch großes Opfer sie bringen soll. Er wird ihr helfen, so gut er es vermag.

Entgegen seinem Vorsatz, ihr Raum zum Nachdenken zu geben, tritt er an sie heran. Sie bemerkt ihn erst, als er direkt neben ihr steht. Mit traurigen Augen schaut sie auf und sagt: »Liam, du hättest nicht herkommen sollen.«

Sie nennt ihn bei seinem Namen, verwendet nicht Vater, wie sie es sonst tut. Er versteht. Sie ist klug, erkannte gewiss, dass er ebenso das Geheimnis vor ihr verbarg, wie ihre Mutter es tat. Wut und Ärger sind verständlich und er trägt sie ihr nicht nach. »Ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht«, antwortet er, bemüht, seine eigenen Emotionen aus der Stimme herauszuhalten.

»Als ob dich das interessieren würde. Für dich zählt nur, dass ich meine Bestimmung erfülle«, schleudert sie ihm entgegen.

Der Wind frischt spürbar auf. Er kann sehen, wie ein Frösteln durch Livs Körper geht. Ihm hingegen ist eher heiß als kalt, denn ihre Anschuldigung trifft ihn hart. Er liebt sie wie eine Tochter und er schämt sich dafür, sie hintergangen zu haben. »Es tut mir leid. Wir, deine Mutter und ich, dachten, wir handeln richtig. Da wir die Aufgabe nicht von dir nehmen können, wollten wir wenigstens dein Herz nicht allzu früh damit beschweren«, spricht er, hoffend, sie möge die Aufrichtigkeit seiner Worte erkennen und seine Entschuldigung akzeptieren, selbst wenn es noch zu früh ist, sie anzunehmen.

Sie schweigt, hat das Gesicht in die Hände gestützt und kaut auf ihrer Unterlippe. Er weiß nicht, ob er zu ihr durchgedrungen ist, daher unternimmt er einen weiteren Versuch. »Ich kann nachfühlen, was in dir vorgeht.« Er unterdrückt den Impuls, die Hand auszustrecken und ihr über das rote Haar zu streichen.

»Gar nichts kannst du. Jetzt lass mich allein.« Sie hört sich an wie das trotzige, häufig widerspenstige kleine Mädchen, das sie schon lange nicht mehr ist. Sie ist aufgesprungen. Es fehlt nur, dass sie wütend mit dem Fuß aufstampft. Er tut, was er schon damals immer tat, wenn sie so war. Er nimmt ihre zierliche Gestalt fest in die Arme, obwohl sie sich dagegen sträubt. Ihre Fäuste hämmern gegen seine Brust, doch er gibt sie nicht frei, hält sie sanft und gleichzeitig unnachgiebig.

Allmählich erlahmt ihr Widerstand. Es erstaunt ihn nicht, als sich ihre großen grünen Augen mit Tränen füllen, die sogleich ihre hellen, makellosen Wangen hinabkullern. Ihre heftigen Gefühlsausbrüche sind Teil ihrer Persönlichkeit und er ist es gewohnt, sie durch das Wechselbad ihrer Stimmungen zu begleiten. Behutsam streicht er ihr über das Haar, stimmt einen tiefen, melodischen Gesang an.

Das Lied versetzt sie viele Jahre zurück in ihre Kindheit und es erinnert sie zugleich an die schönsten und schrecklichsten Stunden ihres Lebens. Sie war drei oder vier Jahre alt, als ihr Schlaf durchdrungen war von Albträumen. Nacht für Nacht stand sie Todesängste aus. Wahrscheinlich hätte ihr kleines Herz wirklich irgendwann zu schlagen aufgehört, wäre Liam nicht gewesen. Er wachte an ihrem Bett und immer, wenn die düsteren Träume über sie kamen, war er bei ihr. Er wiegte sie in seinen Armen und sang für sie. Es waren jene Klänge, die sie einen friedvollen Schlaf finden ließen.

Mit der Zeit wurden die Albträume seltener, schwanden schließlich ganz und mit ihnen Liams Gesang. Das Gefühl der Geborgenheit, das sie damals in seinen Armen empfand, wird sie nie vergessen.

Bis heute weiß sie nicht, welch nächtliche Bilder in Kindertagen den Schrecken brachten, nun glaubt Liv plötzlich, sich zu erinnern: Sie ertrinkt, kämpft um ihr Leben in eben jenem Bach, den sie so sehr liebt.

»Es war nicht nur ein Traum«, spricht sie, mehr zu sich selbst denn zu Liam. Er scheint zu wissen, worum ihre Gedanken kreisen.

»Nein«, antwortet er und sie spürt, wie er leicht den Kopf schüttelt. »Es war eine echte Erinnerung, die dich quälte.«

»Du hast mich damals gerettet.«

»Ja, wie es meine Aufgabe war und noch immer ist.«

Die Szene wird zunehmend klarer. »Du hast damals zu Ianthe gesagt, ich sei eine Träumerin.«

»Also erinnerst du dich. Dann lass mich dir die ganze Geschichte erzählen, mit allem, was voranging und was nachfolgte.«

Sie hat keine Zweifel, dass er ihr nichts mehr verschweigen wird. Ist sie bereit für die Wahrheit? Bisher erscheint ihr alles noch unwirklich; je mehr sie erfährt, umso mehr wird es zur Realität. Sie ist unsicher, ob sie einwilligen soll, doch sie vertraut Liam.

Er hält sie noch immer umfangen, nun gibt er sie frei. Gemeinsam setzen sie sich auf einen der großen Steine, ihre Hände in seinen. Eine Weile noch schweigen sie still, dann beginnt Liam zu sprechen: »Unzählige Male habe ich mir vorgestellt, wie es sein würde, dir diese Geschichte zu erzählen. Jetzt weiß ich nicht, wo ich anfangen soll.« Er fährt sich mit der Hand über das blonde Haar, welches er im Nacken zusammengebunden trägt. »Wo beginnt diese Geschichte? Bei deiner Geburt? Bei meiner? Oder in dem Moment, als der erste Träumer seinen Schaffensprozess begann?«

Er macht eine Pause, denkt wohl ernsthaft über diese Frage nach, dann räuspert er sich und fährt fort: »Ich werde wohl dort beginnen, wo dein Leben anfing, das meine zu beeinflussen. Ich war damals ungefähr so alt wie du jetzt. Mein Leben lag verheißungsvoll vor mir. Ich wohnte am Ufer des Großen Sees, unweit von Wolkenstadt. Bei klarem Wetter konnte ich sogar ihre Türme sehen.«

Wolkenstadt. Livs Herz schlägt etwas schneller. Ihre Mutter erzählte ihr von diesem sagenumwobenen Ort, der jedoch trotz der Mythen, die sich um ihn ranken, ebenso real ist wie der Wald, in dem sie lebt. Die Stadt ist das Herz Terrevés. Es wird behauptet, dass ihre Türme bis in den Himmel reichen; daher der Name.

Sie zwingt sich, ihre eigenen Gedanken beiseitezulassen und sich auf Liams Erzählung zu konzentrieren.

»Mein Vater ist Fischer, meine Mutter Weberin. Sie stellt Stoffe her, die glitzern wie das Wasser in der Sonne, leuchten wie die Sterne, bunt sind wie eine Blumenwiese und so leicht, als wären sie aus nichts als Wind gefertigt. Aber ich schweife ab.

Die Tätigkeit meiner Mutter brachte es mit sich, dass wir regelmäßig Besuch von Händlern erhielten, die ihre Stoffe kauften. Jene Kaufleute waren es, die mir eine Idee davon vermittelten, dass es mehr auf Terrevé gibt als unsere kleine Siedlung am Ufer. Sie berichteten von den Wäldern, den Bergen, den weiten Ebenen und nicht zuletzt von Wolkenstadt. Je älter ich wurde, umso mehr wuchs mein Verlangen, all diese Wunder mit eigenen Augen zu sehen. Ich wollte Händler werden und durch die Welt ziehen.

Bevor ich alt genug war, erreichte mich der Brief, der alles verändern sollte.«

Er löst einen kleinen Beutel von seinen Gürtel, öffnet ihn und entnimmt ein vielfach gefaltetes Stück Papier, welches er ihr reicht. Behutsam entfaltet sie es und liest:

Liam vom Großen See,

auf Geheiß des Träumers bitten wir dich, dich unverzüglich auf den Weg nach Wolkenstadt zu machen. Eine große Ehre soll dir dort zuteilwerden.

Wir hoffen daher, dich bald im Weißen Turm begrüßen zu können.

Gezeichnet: Die Wächter des Traums

Er wartet, bis sie zu Ende gelesen und ihm den Brief zurückgegeben hat, dann ergreift er wieder das Wort. »Du kannst dir vorstellen, was für eine Überraschung das war. Hätte der Bote, der den Brief überbrachte, nicht auf mich eingeredet, ich hätte das Ganze als Scherz abgetan. Schließlich hielt ich, wie die meisten Menschen, die Träumer für eine Legende. Von den Wächtern des Traums hatte ich noch nie etwas gehört. Es war wohl etwas Abenteuerlust dabei, als ich mich entschied, der Aufforderung trotz aller Zweifel und Bedenken Folge zu leisten.

In Begleitung des Boten reiste ich nach Wolkenstadt. Dort, im Weißen Turm, erfuhr ich von meiner Bestimmung: Ich war auserwählt, die nächste Träumerin zu beschützen. Der Träumer Kell hatte nur wenige Tage zuvor erfahren, dass seine Nachfolgerin bald geboren werden sollte. Jetzt galt es, die nötigen Vorkehrungen zu treffen.

Du musst wissen, so groß die Gabe des Erschaffens bei den Träumern ist, sie können nicht beeinflussen, wann und wo sich ihr Nachfolger zeigt. Deswegen ist jeder zukünftige Träumer ein unersetzlicher Schatz, dem unter keinen Umständen etwas zustoßen darf. Solange die Träumer Kleinkinder sind, werden sie durch den besonderen Zauber der Unwissenheit vor allem Argen geschützt, aber irgendwann erlischt dieser Schutz. Dann kommen die Beschützer ins Spiel, die dafür sorgen, dass die Träumer lange genug leben, um ihrer Bestimmung zu folgen.

Als ich damals zum ersten Mal mit den Wächtern des Traums zusammentraf, wusste ich nichts von alledem. Ich war nur ein Siebzehnjähriger, dem man sagte, er müsse all seine Wünsche und Träume aufgeben und zum Wohle Terrevés eine spezielle Ausbildung durchlaufen.« Er macht eine Pause und sieht sie an. In seinen Augen erkennt sie etwas, was sie für Schmerz hält, vergangen und dennoch gegenwärtig. Jetzt ist sie es, die seine Hände umfasst.

»Es fiel mir nicht leicht, dies zu akzeptieren. Das erste Ausbildungsjahr haderte ich dermaßen mit meinem Schicksal, dass die Wächter mich keinen Moment aus den Augen ließen. Sie taten gut daran, denn hätten sie es getan, ich wäre ihnen davongelaufen.«

Er war damals in einer ähnlichen Situation, wie sie jetzt ist. Auch deswegen erzählt er ihr wahrscheinlich diese, seine Geschichte. Er hat nicht gelogen; wenn jemand verstehen kann, wie sie sich fühlt, dann ist er es.

Diese Erkenntnis lindert weder ihren Schmerz, noch mildert sie ihre Wut auf das Schicksal. Vielmehr verstärkt sie beides. Sie ist nicht die Einzige, der ein Leben aufgezwungen wird, das sie nicht will.

Liam nimmt ihre Gefühlsaufwallungen nicht wahr, ist in seiner Vergangenheit gefangen. Unbeeindruckt von dem, was um ihn herum geschieht, erzählt er weiter.

»Obgleich ich bis heute nicht verstehe, warum die Wahl ausgerechnet auf mich fiel, eines habe ich mit der Zeit erkannt: die Wichtigkeit meiner Aufgabe. Je mehr ich über die Träumer erfuhr, umso leichter fiel es mir, mich in mein Schicksal zu fügen.«

Wird ihr dies ebenfalls gelingen? Kann sie sich fügen? Will sie das? Sie horcht in sich hinein und muss feststellen, dass sie noch nicht genug über ihr künftiges Leben als Träumerin weiß, um diese Frage zu beantworten. Gern möchte sie Liam dazu befragen, doch sie will ihn nicht unterbrechen.

Er scheint ihre Unruhe jetzt zu bemerken und sagt: »Ich weiß, du möchtest mehr über die Träumer erfahren. Aber es ist nicht an mir, dir von ihnen zu erzählen. Diese Aufgabe obliegt Ianthe. Seit Jahren bereitet sie sich darauf vor.«

»Wusste sie schon bei meiner Geburt, dass ich eine Träumerin sein werde? Oder hat sie es erst von dir erfahren?«

»Sie weiß es erst, seit ich bei euch bin. Aber ich glaube, sie ahnte es schon früher. Zumindest war sie nicht sonderlich überrascht, als ich ihr die Nachricht überbrachte. Wahrscheinlich hat sie die Zeichen gesehen«, erklärt er.

»Welche Zeichen?«

»Es gibt Vorzeichen, die die Geburt eines Träumers ankündigen. Welche genau das sind, weiß ich nicht zu sagen. Dazu musst du deine Mutter befragen. Was meinst du, sollen wir zu ihr zurückgehen? Sie macht sich bestimmt schon Sorgen.« Sorgen, die ebenso in seiner Stimme schwingen.

Sie muss ihm zustimmen. Und bei allem Ärger, sie will nicht, dass ihre Mutter ihretwegen bekümmert ist. Außerdem beginnt es langsam, dunkel zu werden. Gerne hätte sie seine Geschichte in Gänze gehört, doch er scheint nicht geneigt, fortzufahren. Nicht jetzt. »Liam, versprichst du mir etwas?«

Er schaut sie fragend an. »Was?«

»Erzählst du mir deine Geschichte bei Gelegenheit bis zum Schluss?«

»Sie hat noch kein Ende. Erst wenn ich dich sicher in den Weißen Turm gebracht habe, wird meine Aufgabe erfüllt sein.«

Gemeinsam machen sie sich auf den Rückweg zur Siedlung, wo sie schon sehnsüchtig von Ianthe erwartet werden.

Noch am Abend hat Ianthe einige von Livs Fragen beantwortet. Das Mädchen weiß nun, was von ihr erwartet wird. Mit ihrem achtzehnten Geburtstag wird sie den Weißen Turm betreten. Von diesem Moment an wird sie die Träumerin Liv sein. Zunächst gemeinsam mit dem Träumer Kell, später dann alleine, wird sie Terrevé immer wieder neu erschaffen. Es werden ihre Träume sein, die die Blumen zum Blühen und die Sonne zum Scheinen bringen. Ihr wird es obliegen, den Frühling einzuläuten, die Wärme des Sommers zu schaffen, die herbstlichen Winde herbeizurufen und die Kälte des Winters vorzugeben.

Eine wahrlich große Aufgabe für einen Menschen, doch in ihr schlummert die Macht dazu. Es wird ihr glücken, so wie es allen anderen Träumern vor ihr gelungen ist. Daran hat Liam keinen Zweifel.

Liv schon. Das kann er ihr ansehen. Während sie Ianthes Ausführungen stumm lauschte, huschten Unwillen, Unglaube und übermächtige Zweifel über ihre Züge, vielleicht auch etwas Trotz. Er kann sie verstehen, kann ihr die Last ihrer Unsicherheit nicht von den Schultern nehmen. Worte taugen ebenso wenig dazu wie ein aufmunterndes Schulterklopfen. Alles, was er tun kann, ist für sie da zu sein, so wie er es schon die letzten vierzehn Jahre war.

Liv ist inzwischen zu Bett gegangen. Ianthe und er sitzen noch immer in der Küche. Er überlegt, ob er hinübergehen soll, um über den Schlaf seines Schützlings zu wachen, so wie er es einst getan hat. Jetzt, da sie um ihre Bestimmung weiß, ist es noch wahrscheinlicher als zuvor, dass sich die Träume vor der Zeit einstellen.

Ianthes Worte reißen ihn aus seinen Gedanken. »Was meinst du, wie hat sie es aufgenommen?«

Ianthes Frage mutet auf den ersten Blick seltsam an, müsste sie als Mutter die Reaktionen und Gefühle ihrer Tochter doch besser kennen. Liam weiß, dass er es ist, der Liv am nächsten ist. Das ist schon so, seit er in ihr Leben trat.

»Sie hat verstanden, was du ihr erklärt hast, und erkannt, welch wichtige Aufgabe ihr zugedacht ist. Das heißt nicht, dass sie es akzeptieren kann. Wir dürfen sie auf keinen Fall bedrängen, müssen ihr Zeit zum Nachdenken geben und für sie da sein, wenn sie irgendwelche Fragen hat.«

Während er diese Worte spricht, beschleicht ihn das ungute Gefühl, dass dies vielleicht nicht ausreichen wird. Dennoch bemüht er sich, zuversichtlich zu wirken. Er will Ianthe nicht beunruhigen.

Er unterdrückt im letzten Moment den Impuls, ihre Hände in die seinen zu nehmen, auf die großen Hilfe suchenden grauen Augen zu reagieren und Trost zu bieten. Es ist nicht die Zeit für solche Nähe. Ein paar Monate noch muss er stark sein, dann ist hoffentlich alles vorbei.

Ruhelos

Berlin, Dezember

Das schrille Piepen des Weckers reißt ihn nicht aus dem Schlaf. Seit Stunden schon liegt er wach. Er kann nicht sagen, was seine sonst so ruhige und tiefe Nachtruhe gestört hat, dabei grübelt er seit dem Erwachen unablässig darüber nach.

Schwerfällig befreit Aaron sich aus der Bettdecke, die ihn fast wie ein Kokon umgibt. Die kurze Nacht bringt es mit sich, dass er nicht mit dem gleichen Elan wie sonst in den Tag zu starten vermag. Aber das macht nichts, schließlich ist Sonntag. Warum hat er den Wecker gestellt? Wahrscheinlich vergaß er, ihn abzustellen.

In der Wohnung ist es nicht gerade warm. Als seine nackten Füße den kalten Boden berühren, möchte er sie am liebsten sofort wieder zurück ins Bett ziehen. Stattdessen streckt er sich und angelt seine Hausschuhe. Noch im Schlafanzug schlurft er in die Küche, um sich einen Tee zu kochen. Unter seinen Sohlen knirschen Krümel. Ein Kaffee wäre besser, doch den verträgt er auf nüchternen Magen nicht und wie so oft ist kaum etwas im Kühlschrank. Selbst verursachtes Elend. Wenn er nur nicht immer zu faul zum Einkaufen wäre. Er lässt den Teebeutel in eine große blaue Tasse mit der Aufschrift Der frühe Vogel kann mich mal! gleiten, brüht den Tee auf.

Während das grüne Heißgetränk beginnt, sein Aroma zu entfalten, springt Aaron schnell unter die Dusche. In der Wohnung über ihm rumpelt die Waschmaschine so laut, dass er es ungeachtet des rauschenden Wassers hören kann.

Er zieht sich an: Jeans, T-Shirt und Pullover. Er hat noch nie viel Aufhebens um seine Garderobe gemacht, das meiste sucht ihm seine Mutter aus. Hätte er einen Jogginganzug, er würde diesen anziehen, schließlich hat er nicht vor, die Wohnung an diesem Tag zu verlassen. Die einzige Sporthose, die er besitzt, ist kurz und stammt noch aus Zeiten des Schulsports. Mutmaßlich passt sie ihm nicht einmal mehr, hat er seitdem einige Kilo zugenommen. Nicht, dass er dick wäre, aber die Tendenz geht eindeutig eher in Richtung Waschbär- denn Waschbrettbauch. Seine Mutter liegt ihm immer wieder damit in den Ohren, er solle Sport treiben, überhaupt mehr unter Menschen gehen.

Auf dem Weg zurück in die Küche schaltet er den Computer ein. Der Teebeutel landet im Mülleimer auf den Überresten der Burger-Sause vom Vorabend. Mit der nicht mehr ganz heißen Tasse in der Hand lässt sich Aaron auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Die nächsten vier Stunden – so lange dauert es, bis er das Knurren seines Magens nicht länger ignorieren kann – verbringt er in den Fantasiewelten seines liebsten Multiplayer-Online-Rollenspiels.

Die Tiefkühlpizza ist schnell gemacht. Er schafft es, sie sich nebenbei in den Mund zu schieben, ohne die Tastatur mit Tomatensoße einzusauen. Nach der Unterbrechung gelingt es ihm nicht mehr, sich vollständig in die Spielewelt zu versenken. Drei Mal fällt sein Charakter, eine blonde Frau in einer Rüstung, die kaum mehr als ein Bikini ist, einem Monster zum Opfer, dann reicht es ihm. Es wird die unruhige Nacht sein, die hier ihren Tribut fordert.

Ein Blick auf die Uhr. Viertel vor zwei. Was könnte er mit diesem Tag noch anfangen? Er starrt auf den inzwischen schwarzen Bildschirm. Ganz schön staubig. Vielleicht sollte er putzen. Allerdings ist Mittagsruhe, da kann er den Staubsauger nicht anschmeißen. Manchmal hasst er sich selbst für seine Ausreden und seine Faulheit. Heute ist so ein Tag und daher beschließt er, zumindest schon einmal den Abwasch in Angriff zu nehmen.