Im Wartezimmer des Himmels - Mary Higgins Clark - E-Book

Im Wartezimmer des Himmels E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

Sterling Brooks hat sich sein Leben nach dem Tod anders vorgestellt. Anstatt es sich im Paradies gutgehen zu lassen, sitzt er seit Jahrzehnten im Wartezimmer des Himmels. Als der himmlische Rat ihn auf die Erde zurückschickt, damit er sich endgültig für einen Platz im Paradies würdig erweisen kann, setzt er alles daran, der kleinen Marissa zu helfen. Während die Wunschliste anderer Kinder ellenlang ist, hat diese nur einen großen Wunsch: Das Weihnachtsfest mit ihrem Daddy und ihrer Großmutter zu feiern. Diese haben sie nämlich vor einem Jahr allein zurückgelassen und weder Marissa noch Sterling ahnen, was hinter diesem mysteriösen Verschwinden steckt.

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Das Buch

Eigentlich hoffte Sterling Brooks schon auf seinen Einzug ins Paradies – aber nun muss er doch noch einmal auf die Erde zurück, um dort vor dem Weihnachtsfest noch einen Menschen glücklich zu machen. Da trifft er die kleine Marissa, die im Rockefeller Center völlig verzweifelt ihren Vater und ihre Großmutter sucht und sich nichts sehnlicher wünscht, als Weihnachten mit ihren Lieben zu verbringen.

Eine wunderbare, gefühlvolle Weihnachtsgeschichte über ein bezauberndes kleines Mädchen und die Sehnsucht der Menschen nach Vergebung.

Die Autorinnen

Mary Higgins Clark gehört mit ihren vierundzwanzig Romanen zu den meistgelesenen Autorinnen von Spannungsliteratur. Ihre Bücher stehen weltweit regelmäßig ganz oben auf den Bestsellerlisten. Sie lebt mit ihrem Ehemann in New Jersey.

Carol Higgins Clark hat bereits fünf Kriminalromane veröffentlicht. Sie lebt in New York City.

Mary und CarolHiggins Clark

Im Wartezimmer des Himmels

Aus dem Amerikanischenvon Marion Balkenhol

Ullstein

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Neuausgabe bei Refinery Refinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Dezember 2016

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2007 © 2003 für die deutsche Ausgabe Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG. © 2002 für die deutsche Ausgabe Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG / Ullstein Verlag © 2001 by Mary Higgins Clark and Carol Higgins Clark Titel der amerikanischen Originalausgabe:He Sees You When You’re Sleeping (Scribner, New York) Published by arrangement with the original publisher, Simon & Schuster, Inc. Umschlaggestaltung: ZERO Media GmbH, München Titelabbildung: © FinePic® E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-96048-058-7

Wir widmen dieses Buchden Opfern der Tragödievom 11. September 2001,den Familien und Freunden,die sie liebten,und den Rettern,die ihr Leben aufs Spiel setzten,um ihnen zu helfen.

Es gibt nichts Schlimmeres, als mit anhören zu müssen, wie ein großes Fest vorbereitet wird, wenn man weiß, dass man nicht dazu eingeladen ist. Noch schlimmer ist es, wenn die Party im Himmel stattfindet, dachte Sterling Brooks. Man hatte ihn seit sechsundvierzig Jahren nach irdischer Zeitrechnung im himmlischen Warteraum schmoren lassen, direkt vor dem Himmelstor. Jetzt vernahm er den himmlischen Chor bei der Generalprobe für die Lieder, die das bevorstehende Weihnachtsfest einleiten würden.

»Vom Himmel hoch …«

Sterling seufzte. Das Lied hatte ihm immer gefallen. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und schaute sich um. Dicht gedrängt saßen die Menschen in Kirchenbankreihen und warteten darauf, vor den Himmlischen Rat zitiert zu werden. Menschen, die gewisse Dinge zu verantworten hatten, die sie in ihrem Leben getan – oder nicht getan – hatten, ehe man sie in den Himmel einließ.

So lange wie Sterling hatte dort niemand gesessen. Er kam sich wie ein Kind vor, dessen Mutter vergessen hatte, es von der Schule abzuholen. Für gewöhnlich gelang es ihm, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, doch neuerdings fühlte er sich häufig einsam und verlassen. Von seinem Fensterplatz aus hatte er viele Bekannte aus seiner Zeit auf der Erde vorbeiziehen sehen – schnurstracks in den Himmel. Gelegentlich registrierte er schockiert oder auch ein wenig sauer, dass einige von ihnen nicht gezwungen waren, eine Zeit lang im himmlischen Warteraum zu verbringen. Sogar der Typ, der bei der Einkommenssteuer gemogelt und beim Golf einen falschen Punktestand angegeben hatte, schritt selig über die Brücke zwischen dem himmlischen Warteraum und dem Himmelstor.

Als er jedoch Annie erblickt hatte, war er zutiefst erschüttert gewesen. Vor ein paar Wochen war die Frau vorbeigeschwebt, die er geliebt, aber nicht geheiratet hatte, die Frau, die er stets hingehalten hatte. Sie sah so hübsch und jung aus wie damals, als sie sich kennen lernten. Er lief zur Rezeption und erkundigte sich nach Anne Mansfield, der Seele, die gerade am Aussichtsfenster vorbeigeflogen war. Der Engel schaute in seinem Computer nach und hob die Augenbrauen. »Sie ist vor ein paar Minuten gestorben, an ihrem siebenundachtzigsten Geburtstag. Als sie die Kerzen auspustete, erlitt sie einen Schwindelanfall. Was für ein beispielhaftes Leben sie geführt hat! Großzügig. Entgegenkommend. Sozial. Liebevoll.«

»War sie verheiratet?«, fragte Sterling.

Der Engel tippte etwas ein und verschob den Cursor, wie der Mann am Flugschalter auf der Suche nach der Reservierungsbestätigung. Der Engel runzelte die Stirn. »Sie war ziemlich lange mit so einem Depp verlobt, der sie ewig hinhielt, und es brach ihr das Herz, als er plötzlich starb. Ein Golfball hatte ihm den Schädel durchschlagen.« Der Engel drückte noch einmal auf den Cursor und schaute zu Sterling auf. »Oh, Verzeihung, das sind ja Sie.«

Sterling war kleinlaut zu seiner Bank zurückgeschlichen. Seitdem hatte er viel nachgedacht. Zugegeben, er war durch seine einundfünfzig Jahre auf Erden gerauscht, ohne je Verantwortung zu übernehmen. Stets war es ihm gelungen, sich von allem fern zu halten, was unerquicklich war oder Sorgen bereitete. Ich habe Scarlett O’Haras Leitspruch übernommen »Morgen ist auch noch ein Tag«, gestand er sich ein.

Nur damals, als er auf der Warteliste der Brown University stand, hatte ihn über längere Zeit Angst geplagt. Seine Freunde von der vorbereitenden Privatschule hatten dicke Briefe von den Colleges ihrer Wahl erhalten, die sie in ihren Reihen willkommen hießen und dringend aufforderten, umgehend ihre Gebühren zu überweisen. Erst kurz vor Schulbeginn hatte ihn das Sekretariat der Brown University angerufen, um ihm mitzuteilen, dass noch ein Platz im Erstsemester für ihn frei sei. Damit waren die längsten viereinhalb Monate seines Lebens zu Ende gegangen.

Er wusste genau, warum er nur knapp in die Brown University reingerutscht war, obwohl er mit einer wachen Intelligenz und herausragender athletischer Begabung auf allen Gebieten gesegnet war: Er hatte an der High School nie mehr als nötig getan.

Ein kalter Schauer nackter Angst lief ihm über den Rücken. Letztendlich war er in das College aufgenommen worden, das er sich gewünscht hatte, aber vielleicht würde er hier oben nicht so viel Glück haben. Bisher war er sicher gewesen, in den Himmel zu kommen. Sterling hatte den Engel am Tor zum Himmlischen Rat darauf aufmerksam gemacht, dass manche Menschen, die nach ihm gekommen seien, bereits aufgerufen worden waren, und er hatte sich erkundigt, ob man ihn vielleicht versehentlich übersehen habe. Höflich, aber bestimmt, war er aufgefordert worden, wieder Platz zu nehmen.

Er wünschte sich so sehr, dieses Weihnachtsfest im Himmel zu verbringen. Die Mienen der Menschen, die am Fenster vorbeischwebten und das offene Tor vor sich sahen, hatten seine Neugier geweckt. Und jetzt war auch noch Annie dort.

Der Engel an der Tür bat um allgemeine Aufmerksamkeit. »Ich habe gute Nachrichten. Folgende Personen erhalten eine Weihnachtsamnestie. Sie müssen nicht vor den Himmlischen Rat treten. Sie begeben sich umgehend zum Ausgang rechts, der direkt auf die Himmelsbrücke führt. Stellen Sie sich ordentlich hintereinander in der Reihenfolge auf, in der Sie aufgerufen werden … Walter Cummings …«

Ein paar Bankreihen entfernt sprang Walter auf, ein strammer Neunzigjähriger, und schlug die Hacken zusammen. »Hallelujah!«, rief er und lief nach vorn.

»Ordentlich, habe ich gesagt«, tadelte der Engel in beinahe resigniertem Tonfall. »Obwohl ich Ihnen keinen großen Vorwurf machen kann«, murmelte er und rief den nächsten Namen auf. »Tito Ortiz …«

Tito jauchzte vor Freude, lief durch den Mittelgang und heftete sich an Walters Fersen.

»Jackie Mills, Dennis Pines, Veronica Murphy, Charlotte Green, Pasquale D’Amato, Winthrop Lloyd III, Charlie Potters, Jacob Weiß, Ten Eyck Elmendorf …«

Eine endlose Reihe von Namen wurde vorgelesen, und die Bankreihen leerten sich.

Der Engel war am Ende der Liste angelangt und faltete sie zusammen. Sterling blieb als Einziger übrig. Eine Träne trat ihm ins Auge. Der himmlische Warteraum erschien ihm wie eine einsame Höhle. Ich muss ein schrecklicher Mensch gewesen sein, dachte er. Ich werde es am Ende gar nicht in den Himmel schaffen.

Der Engel legte die Liste zur Seite und kam auf ihn zu. O nein, dachte Sterling verzweifelt, sag jetzt nicht, dass ich an den anderen Ort geschickt werde. Zum ersten Mal spürte er, wie es war, absolut hilflos und ohne Hoffnung zu sein.

»Sterling Brooks«, sagte der Engel. »Sie werden zu einer außerordentlichen Sitzung des Himmlischen Rates gerufen. Folgen Sie mir bitte.«

Ein winziger Hoffnungsschimmer flackerte in Sterling auf. Vielleicht hatte er ja noch eine winzige Chance. Er atmete tief durch, stand auf und folgte dem Engel zur Tür des Ratszimmers. Der Engel schaute ihn mitleidig an und flüsterte ihm zu: »Viel Glück.« Dann öffnete er die Tür und schob Sterling hinein.

Der Raum war nicht groß. Er war in sanftes, erlesenes Licht getaucht, wie Sterling es noch nie erlebt hatte. Die verglaste Wand bot einen herrlichen Blick auf das Himmelstor, und Sterling wurde klar, dass das Licht von dort reflektiert wurde.

Vier Männer und vier Frauen saßen an einem langen Tisch und blickten ihn an. Ihr Haupt war von einem Glorienschein umgeben. Heilige, dachte Sterling sogleich, wenn auch nicht die, die er von den bleiverglasten Fenstern der im Urlaub besichtigten Kathedralen her kannte. Ihre Kleidung reichte von biblischen Gewändern bis hin zur Mode des zwanzigsten Jahrhunderts. Da Sterling mit einer schnellen Auffassungsgabe gesegnet war, wurde ihm sofort klar, dass sie die typische Kleidung der Zeit trugen, in der sie gelebt hatten. Der Mann am anderen Ende des Tisches, ein Mönch mit ernster Miene, eröffnete das Verfahren.

»Setzen Sie sich, Sterling. Wir haben ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen.«

Sterling nahm Platz. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.

Eine Frau in einem eleganten Gewand aus rotem Samt und mit einer Tiara auf dem Kopf sagte in kultiviertem Ton: »Sie hatten es leicht im Leben, nicht wahr, Sterling?«

Du hast es auch nicht gerade schwer gehabt, wie’s aussieht, dachte Sterling, hielt aber den Mund. Er nickte fromm. »Ja, Madam.«

Der Mönch schaute ihn streng an. »Eine Krone ist eine schwere Last. Ihre Majestät hat ihren Untertanen viel Gutes getan.«

Mein Gott, sie können meine Gedanken lesen, merkte Sterling und begann zu zittern.

»Aber Sie haben sich nie für jemanden eingesetzt«, fuhr die Königin fort.

»Sie waren ein Gutwetterfreund«, verkündete der Mann in Schäferkleidung, der Zweite von rechts.

»Passiv-aggressiv«, erklärte ein junger Matador, der sich eine Fluse von der roten Capa zupfte.

»Was soll das heißen?«, fragte Sterling verängstigt.

»Oh, tut mir Leid, dieser irdische Ausdruck kam erst nach Ihrer Zeit auf. Er ist inzwischen recht geläufig, glauben Sie mir.«

»Deckt eine ganze Reihe von Sünden ab«, murmelte eine schöne Frau, die Sterling an die Bilder von Pocahontas erinnerte.

»Aggressiv?«, fragte Sterling. »Ich bin nie ausgerastet. Niemals.«

»Passiv-aggressiv ist etwas anderes. Man verletzt andere durch das, was man unterlässt. Und durch Versprechungen, die man gar nicht erst einzuhalten gedenkt.«

»Sie waren ichbezogen«, sagte eine hübsche Nonne am Ende des Tisches. »Sie waren ein guter Vermögensberater, der den Reichen bei ihren kleinen Problemen half, aber Sie haben Ihre Fachkenntnis nie dem armen Unglücklichen zur Verfügung gestellt, der zu Unrecht sein Zuhause verlor oder dem der Pachtvertrag für den Laden gekündigt wurde. Schlimmer noch, Sie haben hin und wieder tatsächlich erwogen zu helfen, dann aber doch beschlossen, sich nicht damit zu befassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie waren ein ziemlicher Windhund.«

»Der Typ, der ins erste Rettungsboot springt, wenn das Schiff untergeht«, fuhr ihn ein Heiliger in der Uniform eines britischen Admirals an. »Ein Lump, bei George. Sie haben nicht einmal einer alten Dame über die Straße geholfen.«

»Ich habe nie eine alte Dame gesehen, die Hilfe brauchte!«

»Das bringt es auf den Punkt«, sagten sie einstimmig. »Sie waren zu selbstgefällig und egoistisch, um zu sehen, was wirklich um Sie herum vor sich ging.«

»Tut mir Leid«, antwortete Sterling demütig. »Ich hielt mich für einen ziemlich netten Typen. Ich wollte nie jemanden verletzen. Gibt es irgendetwas, womit ich es jetzt wieder gutmachen kann?«

Die Ratsmitglieder tauschten viel sagende Blicke.

»Bin ich wirklich so schlecht gewesen?«, rief Sterling. Er zeigte auf den Warteraum. »In der ganzen Zeit habe ich mit vielen Seelen gesprochen, die dort durchgekommen sind. Sie waren alle keine Heiligen! Im Übrigen habe ich jemanden direkt in den Himmel gehen sehen, der bei seiner Einkommenssteuer gemogelt hat. Den müssen Sie verpasst haben!«

Alle lachten. »Da haben Sie vollkommen Recht. Da hatten wir gerade Kaffeepause. Andererseits hat er viel für wohltätige Zwecke gespendet.«

»Und was ist mit seinem Golfspiel?«, fragte Sterling eifrig. »Ich habe niemals so geschummelt wie er. Und mir hat ein Golfball den Schädel durchschlagen. Auf dem Sterbebett habe ich dem Typen vergeben, der es getan hat. So nett wäre auch nicht jeder.«

Sie schauten ihn unverwandt an, während vor seinem geistigen Auge die Menschen auftauchten, die er enttäuscht hatte. Annie. Er war zu egoistisch gewesen, um sie zu heiraten, doch er hatte ihr immer neue Hoffnungen gemacht, denn er hatte sie nicht verlieren wollen. Nach seinem Tod war es für sie zu spät gewesen, eine Familie zu gründen, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Jetzt war sie im Himmel. Er musste sie wiedersehen.

Sterling war niedergeschlagen. Er musste wissen, was ihm bestimmt war. »Was wollen Sie mir damit sagen?«, fragte er. »Werde ich nie in den Himmel kommen?«

»Witzig, dass Sie danach fragen«, erwiderte der Mönch. »Wir haben über Ihren Fall gesprochen und sind zu dem Entschluss gekommen, dass Sie der geeignete Kandidat für ein Experiment sind, das wir seit geraumer Zeit in Erwägung ziehen.«

Sterling spitzte die Ohren. Noch war nicht alles verloren.

»Ich liebe Experimente«, begeisterte er sich. »Ich bin Ihr Mann. Versuchen Sie es mit mir. Wann fangen wir an?« Er merkte, dass er allmählich wie ein Trottel klang.

»Sterling, halten Sie den Mund und hören Sie zu. Sie werden zurück auf die Erde geschickt. Ihr Job ist es, einen Menschen zu finden, der ein Problem hat, und ihm bei der Lösung zu helfen.«

»Zurück auf die Erde!« Sterling war wie vor den Kopf geschlagen.

Acht Häupter nickten gleichzeitig.

»Wie lange werde ich dort bleiben?«

»So lange, bis das Problem gelöst ist.«

»Heißt das, wenn ich gute Arbeit leiste, darf ich in den Himmel? Ich wäre Weihnachten gern dort.«

Sie schmunzelten. »Nicht so hastig«, sagte der Mönch. »Um es modern auszudrücken: Sie müssen eine Menge Vielfliegermeilen sammeln, bevor Sie einen Daueraufenthalt hinter jenem heiligen Tor genehmigt bekommen. Wenn Sie jedoch Ihre erste Aufgabe bis Heiligabend zu unserer Zufriedenheit erledigen, erhalten Sie einen auf vierundzwanzig Stunden befristeten Besucherausweis.«

Sterling sank der Mut. Na schön, dachte er. Jede lange Reise fängt mit einem kleinen Schritt an.

»Daran sollten Sie stets denken«, mahnte die Königin.

Sterling blinzelte. Er durfte nicht vergessen, dass sie Gedanken lesen konnte. »Woran werde ich die Person erkennen, der ich helfen soll?«, fragte er.

»Das gehört zum Experiment. Sie müssen lernen, die Bedürfnisse anderer Menschen zu erkennen, und etwas unternehmen«, sagte eine junge Farbige in Schwesterntracht.

»Werde ich Hilfe bekommen? Ich meine, jemanden, mit dem ich reden kann, wenn ich mir nicht sicher bin, was zu tun ist? Ich will alles tun, um den Job ordentlich zu erledigen, verstehen Sie.«

Ich rede wieder dummes Zeug, dachte er.

»Es steht Ihnen jederzeit frei, um eine Beratung mit uns zu ersuchen«, versicherte ihm der Admiral.

»Wann fange ich an?«

Der Mönch drückte den Knopf auf dem Beratertisch. »Jetzt.«

Sterling spürte, wie sich unter ihm eine Falltür öffnete. Im Nu trudelte er an den Sternen vorbei, um den Mond herum, durch die Wolken und zischte plötzlich an einem hohen, herrlich erleuchteten Weihnachtsbaum vorbei. Seine Füße berührten die Erde.

»Mein Gott«, keuchte Sterling. »Ich bin im Rockefeller Center.«

Marissas dunkle Lockenpracht wallte über ihre Schultern, während sie über die Eisbahn im Rockefeller Center wirbelte. Mit drei Jahren hatte sie begonnen, Unterricht im Eiskunstlauf zu nehmen. Jetzt, mit sieben Jahren, war ihr das Schlittschuhlaufen in Fleisch und Blut übergegangen, und neuerdings war es das Einzige, das ihren Schmerz in Brust und Kehle linderte.

Die Musik wechselte, und Marissa passte sich dem neuen, sanfteren Walzer-Rhythmus an, ohne nachzudenken. Einen Augenblick lang redete sie sich ein, Daddy wäre bei ihr. Sie meinte seine Hand in der ihren zu spüren und ihre Großmutter NorNor vor sich zu sehen, die ihr zulächelte.

Dann fiel ihr ein, dass sie eigentlich nicht mit Daddy Schlittschuh laufen, geschweige denn mit ihm oder NorNor reden wollte. Sie waren fortgegangen und hatten sich kaum von ihr verabschiedet. Die ersten Male, als sie miteinander telefonierten, hatte sie gebettelt, sie sollten zurückkommen oder sich von ihr besuchen lassen, doch sie hatten gesagt, das ginge nicht. Wenn sie jetzt anriefen, wollte sie nicht mehr mit ihnen sprechen.

Es war ihr egal, redete sie sich ein.

Trotzdem schloss sie noch immer die Augen, wenn sie im Auto zufällig an NorNors Restaurant vorbeifuhr; es tat so weh, sich daran zu erinnern, wie viel Spaß es gemacht hatte, mit Daddy dorthin zu gehen. Es war immer voll dort gewesen, manchmal hatte NorNor Klavier gespielt, und die Leute hatten Daddy immer singen hören wollen. Manchmal hatten sie seine CD mitgebracht und ihn um ein Autogramm auf dem Cover gebeten.

Jetzt ging sie nicht mehr dorthin. Sie hatte gehört, wie Mommy zu Roy gesagt hatte – er war jetzt Mommys Ehemann –, dass das Restaurant ohne NorNor in Schwierigkeiten stecke und wohl bald schließen müsse.

Was hatten Daddy und NorNor sich nur dabei gedacht, als sie weggingen?, fragte sich Marissa. NorNor hatte behauptet, das Restaurant würde Pleite gehen, wenn sie nicht jeden Abend dort wäre. »Es ist mein Wohnzimmer«, hatte sie immer zu Marissa gesagt. »Man lädt nicht Leute zu sich ein und ist dann nicht da.«

Wenn NorNor ihr Restaurant so liebte, warum war sie dann weggegangen? Und wenn Daddy und NorNor sie, Marissa, so liebten, wie sie sagten, warum hatten die beiden sie dann allein gelassen?

Sie hatte sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Heiligabend hatte sie Geburtstag. Dann würde sie acht Jahre alt werden, und obwohl sie noch immer sehr wütend auf Daddy und NorNor war, hatte sie Gott versprochen, wenn es an Heiligabend klingelte und die beiden stünden vor der Tür, dann wäre sie nie im Leben wieder gemein zu jemandem und würde Mommy mit den Babys helfen und nicht mehr die Gelangweilte spielen, wenn Roy andauernd dieselben blöden Geschichten erzählte. Sie hatte sogar versprochen, nie wieder im Leben Schlittschuh zu laufen, wenn das Daddy und NorNor zurückbringen würde. Doch sie wusste, dass Daddy mit dem Versprechen nicht einverstanden wäre, denn er wollte bestimmt mit ihr auf die Eisbahn gehen, falls er jemals zurückkommen sollte.

Die Musik hörte auf, und Miss Carr, die Schlittschuhlehrerin, die zwölf Schülerinnen zu einem Ausflug mit ins Rockefeller Center genommen hatte, bedeutete ihnen, dass es an der Zeit sei zu gehen. Marissa drehte noch eine letzte Pirouette, ehe sie sich zum Ausgang begab. In dem Augenblick, als sie begann, ihre Schlittschuhe aufzuschnüren, fühlte sie wieder den Schmerz. Er legte sich um ihr Herz, füllte ihre Brust und stieg ihr dann wie eine Flutwelle in die Kehle. Obwohl es ihr schwer fiel, gelang es ihr, ihn so weit zu unterdrücken, dass ihr nicht die Tränen in die Augen stiegen.

»Du bist eine tolle Eiskunstläuferin«, sagte einer der Aufseher. »Du wirst noch ein Star wie Tara Lipinsky, wenn du groß bist.«

NorNor hatte ihr das auch dauernd gesagt. Ehe sie etwas dagegen tun konnte, begann sich Marissas Blick zu trüben. Sie wandte den Kopf ab, damit der Aufseher nicht merkte, dass sie beinahe heulte, und schaute direkt in die Augen eines Mannes, der an der Bande der Eisbahn stand. Er trug einen komischen Hut und einen Mantel, doch er hatte ein nettes Gesicht und schenkte ihr ein scheues Lächeln.

»Komm, Marissa«, rief Miss Carr, und Marissa, die den leicht miesepetrigen Ton heraushörte, trabte hinter den anderen Kindern her.

Es kommt mir vertraut und doch so anders vor«, murmelte Sterling vor sich hin, als er sich im Rockefeller Center umschaute. Zum einen war es damals, als er zum letzten Mal hier war, bei weitem nicht so voll gewesen. Jetzt war es schwarz vor Menschen. Einige hasteten mit Einkaufstüten voller Geschenke umher, während andere vor dem großen Baum stehen blieben und hinaufschauten.

Dieser Baum erschien ihm größer als der letzte, den er hier gesehen hatte – vor sechsundvierzig Jahren –, und er hatte mehr Lichter, als er in Erinnerung hatte. Er war prachtvoll, doch so ganz anders als das außerirdische Licht, das er im himmlischen Ratszimmer gesehen hatte.

Obwohl er auf der siebzigsten Straße gleich um die Ecke der Fifth Avenue aufgewachsen war und die meiste Zeit seines Lebens in Manhattan gewohnt hatte, überkam ihn plötzliches Heimweh nach dem Leben im Himmel. Er musste den Menschen finden, dem er helfen sollte, seine Aufgabe zu erfüllen.

Zwei kleine Kinder liefen auf ihn zu. Er trat zur Seite, ehe sie ihn umrannten. Dabei rempelte er eine Frau an, die den Baum bewunderte.

»Verzeihung«, sagte er. »Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht wehgetan.« Sie sah ihn weder an, noch ließ sie erkennen, ob sie überhaupt ein Wort verstanden oder den Stoß gespürt hatte.

Sie weiß nicht, dass ich hier bin. Im ersten Moment war er total entsetzt. Wie soll ich jemandem helfen, wenn derjenige mich weder sehen noch hören kann, fragte er sich. Der Rat hat mich wahrhaftig ins kalte Wasser geschmissen.

Sterling schaute in die Gesichter der Vorbeigehenden. Sie redeten miteinander, lachten, trugen Pakete, zeigten auf den Baum. Niemand schien besonders bekümmert. Ihm fiel ein, dass der Admiral gesagt hatte, er habe noch nie einer alten Dame über die Straße geholfen. Vielleicht sollte er versuchen, jetzt eine zu finden.

Rasch ging er in Richtung Fifth Avenue und erschrak beim Anblick des starken Verkehrs. Er kam an einem Schaufenster vorbei und blieb stehen. Erstaunt betrachtete er sein Spiegelbild. Andere Menschen konnten ihn nicht sehen, doch er sah sich selbst. Er betrachtete sich im Fenster. Nicht schlecht, alter Junge, dachte er bewundernd. Zum ersten Mal seit dem schicksalhaften Morgen, als er zum Golfplatz aufgebrochen war, erblickte er sein Spiegelbild, sein grau meliertes Haar, den zurückweichenden Haaransatz im Frühstadium, seine leicht kantigen Gesichtszüge, seinen schlanken, muskulösen Körper. Er trug seine Winterkleidung: einen dunkelblauen Chesterfield-Mantel mit Samtkragen, seinen Lieblingshut, einen grauen Filzhomburg, und graue Kalbsleder-Handschuhe. Als er sah, was die anderen Leute anhatten, merkte er, dass seine Kleidung irgendwie aus der Mode gekommen sein musste.

Wenn die Leute mich sehen könnten, würden sie glauben, ich wäre auf dem Weg zu einer Kostümparty, dachte er.

Auf der Fifth Avenue schaute er nach Norden. Sein bester Freund hatte bei American President Lines gearbeitet. Das Büro gab es nicht mehr. Viele Läden und Firmen, an die er sich erinnerte, waren durch andere ersetzt worden. Tja, es waren eben sechsundvierzig Jahre seither vergangen, dachte er. Und, wo ist jetzt die nette alte Dame, die Hilfe braucht?

Es war beinahe so, als hätte der Rat ihn gehört. Eine ältere Frau mit Stock wollte die Straße überqueren, als die Ampel gerade auf Rot sprang. Das ist zu gefährlich, dachte er, obwohl der Verkehr nur langsam vorankam.

Mit langen Schritten wollte er ihr schon zu Hilfe eilen, musste jedoch bekümmert feststellen, dass bereits ein junger Mann die Notlage der alten Dame erkannt und sie bereits am Ellbogen gepackt hatte.

»Lassen Sie mich in Ruhe«, kreischte sie. »Ich bin lange Zeit ohne Ihresgleichen zurechtgekommen. Sie wollen doch eh nur meine Handtasche klauen.«

Der junge Mann murmelte etwas vor sich hin, ließ ihren Arm los und sie mitten auf der Straße stehen. Ein Hupkonzert setzte ein, doch die Autos hielten an, während die alte Dame in aller Gemütsruhe ihren Weg über die Straße fortsetzte.

Damit dürfte klar sein, dass der Rat mich ihretwegen auf die Erde zurückgeschickt hat, dachte Sterling bei sich.

Vor den Schaufenstern von Saks auf der Fifth Avenue stand eine lange Schlange. Er fragte sich, was es dort wohl außer Kleidern zu sehen gab. Aus den Augenwinkeln nahm er die spitzen Türme der Saint Patrick’s Cathedral wahr, und das Gefühl, keine Zeit verlieren zu dürfen, verstärkte sich.

Lass mich mal überlegen, dachte er. Ich bin hierher geschickt worden, um jemandem zu helfen, und man hat mich im Rockefeller Center abgesetzt. Da ist es doch nahe liegend, dass meine Aufgabe hier beginnen soll. Sterling drehte sich um und ging denselben Weg zurück.

Immer sorgfältiger nahm er die Gesichter der Vorübergehenden in Augenschein. Ein Pärchen ging vorbei; beide trugen hautenge Lederkleidung und schienen außerdem skalpiert worden zu sein. Gepiercte Nasen und Augenbrauen rundeten das Modebekenntnis ab. Er versuchte, nicht zu gaffen. Die Zeiten haben sich in der Tat geändert, dachte er.

Während er sich durch die Menschenmenge lavierte, spürte er, dass es ihn erneut zum majestätischen Weihnachtsbaum zog, den Mittelpunkt der Weihnachtszeit im Rockefeller Center.