In der Stunde deines Todes - Mary Higgins Clark - E-Book
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In der Stunde deines Todes E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

Lass die Vergangenheit ruhen . . .

Vor den Augen ihres kleinen Sohnes wird Lauries Ehemann ermordet. Seitdem lebt sie in ständiger Angst. Immerhin lockt beruflich ein großer neuer Auftrag: Laurie soll eine TV-Serie über ungelöste Verbrechen produzieren. Sie taucht tief in einen spektakulären Mordfall aus der Vergangenheit ein. Doch auch im Hier und Jetzt droht ihr und ihrem Sohn mörderische Gefahr.

Von einem Moment auf den anderen wird Lauries Leben zum Albtraum: Ein Unbekannter ermordet am helllichten Tag ihren Mann – vor den Augen des gemeinsamen Sohnes Timmy. Bevor er flieht, ruft er dem heulenden Kind noch zu: »Du bist als Nächstes dran! Und dann deine Mutter!« Fünf Jahre später ist Laurie immer noch von ständiger Sorge um ihren Sohn geplagt. Aber sie hat auch erfolgreich Karriere als TV-Journalistin und Produzentin gemacht. In einer neuen großen Serie will sie ungeklärte Mordfälle aus der Vergangenheit mit allen damaligen Beteiligten neu aufbereiten. Ihr erster Fall ist spektakulär: Vor 20 Jahren wurde eine reiche Dame der Gesellschaft umgebracht – in der Nacht, als ihre Tochter gemeinsam mit ihren drei engsten Freundinnen den Collegeabschluss feierte. Schon bald entdeckt Laurie für jede von ihnen ein Tatmotiv. Was sie nicht weiß: Der Mörder ihres Mannes hat sie ständig im Visier. Er will seine Drohung endlich wahrmachen.

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Seitenzahl: 374

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DASBUCH

Von einem Moment auf den anderen wird Lauries Leben zum Albtraum: Ein Unbekannter ermordet am helllichten Tag ihren Mann – vor den Augen des gemeinsamen Sohnes Timmy. Bevor er flieht, ruft er dem heulenden Kind noch zu: »Sag deiner Mutter, dass sie die Nächste ist. Und dann bist du an der Reihe!« Fünf Jahre später lebt Laurie immer noch in ständiger Angst. Aber sie hat auch erfolgreich Karriere als TV-Produzentin gemacht. In einer neuen großen Serie will sie ungeklärte Mordfälle aus der Vergangenheit mit allen damaligen Beteiligten neu aufbereiten. Ihr erster Fall ist spektakulär: Vor zwanzig Jahren wurde eine reiche Dame der Gesellschaft umgebracht – in der Nacht, als ihre Tochter gemeinsam mit ihren drei engsten Freundinnen den College-Abschluss feierte. Und für jede der vier findet sich ein Mordmotiv … Was Laurie nicht weiß: Der Mörder ihres Mannes hat sie und Timmy ständig im Visier. Er will seine Drohung endlich wahrmachen.

DIEAUTORIN

Mary Higgins Clark (1927–2020), geboren in New York, lebte und arbeitete in Saddle River, New Jersey. Sie zählte zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Ihre große Stärke waren ausgefeilte und raffinierte Plots und die stimmige Psychologie ihrer Heldinnen. Mit ihren Büchern führte Mary Higgins Clark regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den begehrten Edgar Award. Sie starb am 31. Januar 2020 im Kreis ihrer Familie.

MARY HIGGINS CLARK

IN DER STUNDE DEINES TODES

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel I’ve Got You Under My Skin bei Simon & Schuster, New York

Copyright © 2014 by Mary Higgins Clark

All rights reserved. Published by arrangement

with the original publisher, Simon & Schuster Inc.

Copyright © 2014 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik · Design, München,

unter Verwendung eines Fotos von de-kay / bigstock

Redaktion: Claudia Alt

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-14292-6 V003

www.heyne-verlag.de

Für John

und alle Kinder und Enkelkinder

der Clarks sowie Conheeneys

in aller Liebe

PROLOG

Auf dem Spielplatz in der East Fifteenth Street in Manhattan, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt, brachte Dr. Greg Moran seinen dreijährigen Sohn Timmy auf der Schaukel ein letztes Mal richtig in Schwung.

»Zwei Minuten noch«, sagte er lachend, während er Timmy anschob, fest genug, damit sein draufgängerischer Sohn zufrieden war, aber nicht so wild, dass die Schaukel sich überschlug. Vor einiger Zeit hatte er so etwas miterlebt. Weil die Schaukel mit einem Sicherheitssitz ausgestattet gewesen war, hatte sich allerdings niemand verletzt. Greg war eins neunzig groß und konnte Timmy notfalls mit seinen langen Armen rechtzeitig packen. Aber er war immer äußerst vorsichtig, denn als Arzt in der Notaufnahme hatte er fast tagtäglich mit den schlimmsten Unfällen zu tun.

Es war halb sieben, die Abendsonne warf schon lange Schatten über den Spielplatz. Mittlerweile lag sogar eine leichte Kühle in der Luft, die daran erinnerte, dass am nächsten Wochenende der September begann. »Die letzte Minute läuft«, rief Greg. Er hatte zwölf Stunden Dienst hinter sich. In der Notaufnahme war immer viel los, heute aber war es besonders chaotisch zugegangen. Zwei Autos mit Teenagern hatten sich auf der First Avenue ein Rennen geliefert und waren zusammengekracht. Wie durch ein Wunder war niemand getötet worden, aber drei der Jugendlichen hatten schwere Verletzungen davongetragen.

Greg nahm die Hände von der Schaukel. Es war an der Zeit, sie ausschwingen zu lassen. Da Timmy noch nicht mal schwach protestierte, schien er ebenfalls nichts dagegen zu haben, wenn sie allmählich aufbrachen. Außerdem waren sie sowieso die Letzten auf dem Spielplatz.

»Doktor!«

Greg drehte sich um. Vor ihm stand ein muskulöser Mann von durchschnittlicher Größe. Er hatte sich einen Schal vor das Gesicht gebunden, und die Waffe in seiner Hand war auf Gregs Kopf gerichtet. Intuitiv machte Greg einen großen Schritt zurück, um sich so weit wie möglich von Timmy zu entfernen. »Hören Sie, meine Brieftasche steckt in meiner Tasche«, sagte er ganz ruhig. »Ich geb sie Ihnen gern!«

»Daddy«, rief Timmy ängstlich. Er hatte sich auf der Schaukel zu ihnen umgedreht und starrte dem Fremden in die Augen.

Greg Moran, vierunddreißig Jahre alt, renommierter Arzt, geliebter Ehemann und Vater, versuchte sich noch auf seinen Angreifer zu stürzen. Das war das Letzte, was er in seinem Leben tat. Er hatte keine Chance. Der Schuss traf ihn mit tödlicher Präzision mitten in die Stirn.

»Daddyyyyyyyyy!«, schrie Timmy.

Der Täter rannte zur Straße, blieb dann stehen und drehte sich noch einmal um. »Timmy, sag deiner Mutter, dass sie die Nächste ist«, rief er. »Und dann bist du an der Reihe!«

Sowohl der Schuss als auch die ausgestoßene Drohung wurden von Margy Bless gehört, einer älteren Frau, die sich gerade auf dem Nachhauseweg von ihrem Teilzeitjob in einer nahegelegenen Bäckerei befand. Sekundenlang stand sie nur wie angewurzelt da und starrte dem fliehenden Täter nach, der mit der Waffe in der Hand um die Ecke bog, sah dann zum schreienden Kind in der Schaukel und zu dem am Boden liegenden Mann.

Ihre Finger zitterten so stark, dass sie drei Versuche brauchte, bis sie endlich den Notruf gewählt hatte.

Als sich der diensthabende Beamte meldete, brachte Margy nur stockend hervor: »Beeilen Sie sich, beeilen Sie sich! Vielleicht kommt er wieder. Er hat den Mann erschossen und das Kind bedroht!«

Sie verstummte, und nur noch Timmy war zu hören: »Der Mann mit den blauen Augen hat meinen Daddy erschossen … Der Mann mit den blauen Augen hat meinen Daddy erschossen!«

1

Laurie Moran sah aus dem Fenster im vierundzwanzigsten Stock des Rockefeller Center 15. Von ihrem hochgelegenen Büro hatte sie einen wunderbaren Blick auf die Eislaufbahn mitten im berühmten Gebäudekomplex. Es war ein sonniger, aber kalter Märztag, und sie konnte Anfänger erkennen, die noch unsicher auf ihren Schlittschuhen standen, aber auch Skater, die sich mit der Anmut von Balletttänzern über das Eis bewegten.

Timmy, ihr achtjähriger Sohn, spielte gern Eishockey und hatte fest vor, mit einundzwanzig bei den New York Rangers aufzulaufen. Laurie musste lächeln, wenn sie an sein Gesicht und seine braunen Augen dachte, die zu strahlen begannen, wenn er sich bei zukünftigen Rangers-Partien schon als Goalie sah. Er wird dann genauso aussehen wie Greg, dachte Laurie, schüttelte den Gedanken aber schnell wieder ab und wandte sich dem Ordner auf ihrem Schreibtisch zu.

Laurie war sechsunddreißig Jahre alt, hatte schulterlange honigblonde Haare, haselnussbraune, leicht grünlich schimmernde Augen, sie war schlank und mit ihren klassischen, ungeschminkten Gesichtszügen genau die Frau, nach der sich die Leute auf der Straße umdrehten. »Stilvoll und gut aussehend«, so lautete die typische Beschreibung.

Als preisgekrönte Produzentin der Fisher Blake Studios stand sie kurz vor dem Start einer neuen Serie im Kabel-TV. Die Idee dazu hatte sie schon vor Gregs Tod gehabt, sie dann aber zurückgestellt, weil sie nicht wollte, dass der ungelöste Mordfall als Anlass für die Sendung betrachtet wurde.

Das Konzept sah vor, nicht aufgeklärte Verbrechensfälle nachzustellen. Statt Schauspieler sollten allerdings Freunde und Verwandte des Mordopfers vor die Kamera treten und ihre Version der Ereignisse schildern. Es war ein riskantes Unterfangen, mit dem sie großen Erfolg haben, aber auch kräftig auf die Nase fallen konnten.

Sie kam gerade aus einem Meeting mit ihrem Boss Brett Young. Er hatte sie unmissverständlich an ihren Vorsatz erinnert, nie wieder eine Realityshow anzurühren. »Die letzten beiden waren kostspielige Flops, Laurie«, hatte er gesagt. »Einen weiteren Misserfolg können wir uns nicht leisten.« Und spitz hinzugefügt: »Du übrigens auch nicht.«

Laurie nippte an ihrem Kaffee, den sie aus dem Zwei-Uhr-Meeting mitgebracht hatte, und durchdachte noch einmal die Argumente, mit denen sie versucht hatte, ihn zu überzeugen. »Brett, ich weiß, Realityshows hängen dir zum Hals raus, aber ich kann dir versprechen, in diesem Fall liegen die Dinge anders. Der Titel, habe ich mir vorgestellt, soll Unter Verdachtlauten. Auf Seite zwei des Ordners, den ich dir gegeben habe, findest du eine Auflistung von ungelösten Verbrechensfällen sowie von Fällen, die angeblich gelöst wurden, bei denen aber berechtigte Zweifel bestehen, ob nicht die falsche Person ins Gefängnis gewandert ist.«

Laurie sah sich in ihrem Büro um. Und was sie sah, bestärkte sie in ihrer Entschlossenheit, ihre Stelle zu behalten. Der Raum war so groß, dass vor den Fenstern eine Couch Platz fand, daneben stand ein langes Bücherregal, in dem sie die ihr verliehenen Preise sowie Familienfotos, vor allem Aufnahmen von Timmy und ihrem Vater, aufgestellt hatte. Vor langer Zeit hatte sie beschlossen, dass die Bilder von Greg nicht hierhergehörten. Sie wollte andere nicht daran erinnern, dass sie Witwe war und der Mord an ihrem Mann niemals aufgeklärt wurde.

»Die Lindbergh-Entführung ist der erste Fall auf der Liste. Das ist jetzt achtzig Jahre her. Du hast doch nicht vor, das nachzustellen, oder?«, hatte Brett Young gefragt.

Laurie erläuterte, dass der Fall ein Musterbeispiel für ein Verbrechen sei, das seit Generationen für Gesprächsstoff sorgt – wegen seiner Abscheulichkeit, vor allem aber wegen der vielen noch offenen Fragen. Bruno Richard Hauptmann, der für die Entführung des Lindbergh-Babys hingerichtete deutsche Immigrant, hatte mit großer Wahrscheinlichkeit die Leiter gebaut, mit deren Hilfe das Kind aus dem Schlafzimmer entführt worden war. Aber woher hatte er gewusst, dass das Kindermädchen jeden Abend exakt zu dieser Zeit zum Essen ging und das Kind eine Dreiviertelstunde lang unbeaufsichtigt ließ? Oder wer hatte es ihm gesagt?

Dann erzählte sie Young vom ungeklärten Mord an einer der Zwillingstöchter des Senators Charles H. Percy. Der Fall hatte sich 1966 ereignet, zu Beginn seines ersten und erfolgreichen Wahlkampfs für den Senat. Das Verbrechen war nie aufgeklärt worden, und es waren Fragen geblieben: War die ermordete Schwester wirklich das beabsichtigte Mordopfer gewesen? Warum hatte der Hund nicht angeschlagen, wenn wirklich ein Fremder ins Haus eingedrungen war?

Laurie lehnte sich zurück. Bei Fällen wie diesen hatte jeder sofort eine Theorie parat – und darauf komme es an, hatte sie Brett erklärt. »Wir machen eine Realityshow über Verbrechen, die ungefähr zwanzig bis dreißig Jahre zurückliegen. Somit bekommen wir noch die Meinungen derjenigen, die dem Opfer zum Tatzeitpunkt nahegestanden haben. Ich habe auch schon den perfekten Fall für die erste Sendung: die Abschlussgala.«

Und damit, dachte Laurie, hatte sie Bretts Aufmerksamkeit gewonnen. Da er aus dem Westchester County stammte, war ihm der Fall vertraut. Zwanzig Jahre zuvor hatten vier junge, in Salem Ridge aufgewachsene Frauen an vier unterschiedlichen Colleges ihren Abschluss gemacht. Der Stiefvater der einen, Robert Nicholas Powell, gab ihnen zu Ehren eine »Abschlussgala«, wie er es nannte. Dreihundert Gäste waren geladen, festliche Kleidung, Champagner, Kaviar, Feuerwerk, es gab alles, was man sich vorstellen konnte. Seine Stieftochter und die drei anderen Absolventinnen übernachteten im Haus. Am nächsten Morgen wurde Powells Frau, Betsy Bonner Powell, eine glamouröse zweiundvierzigjährige Dame der Gesellschaft, mit einem Kissen erstickt in ihrem Bett aufgefunden. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Rob, wie Powell meist genannt wurde, war mittlerweile achtundsiebzig Jahre alt, befand sich in ausgezeichneter körperlicher wie geistiger Verfassung und wohnte immer noch im selben Haus.

Powell, dachte Laurie, hatte nicht mehr geheiratet. Vor Kurzem hatte er als Gast bei der beliebten Talkshow The O’Reilly Factor ein Interview gegeben und erklärt, er würde alles tun, um das Geheimnis um den Tod seiner Frau aufzuklären. Seiner Stieftochter und deren Freundinnen würde es ebenso gehen. Solange die Wahrheit nicht ans Licht kam, würde man glauben, dass eine von ihnen Betsys Mörderin sei – davon waren sie alle überzeugt.

Und damit, dachte Laurie glücklich, habe ich Bretts Einverständnis bekommen, Powell und die vier College-Absolventinnen zu kontaktieren und sie zu fragen, ob sie an der Sendung teilnehmen würden.

Es war an der Zeit, Grace und Jerry die tollen Neuigkeiten mitzuteilen. Sie griff zum Telefon und bat ihre beiden Assistenten zu sich ins Büro. Gleich darauf flog die Tür auf.

Grace Garcia, ihre fünfundzwanzigjährige Sekretärin, trug ein kurzes rotes Wollkleid über Baumwoll-Leggings und hohen geknöpften Stiefeln. Die hüftlangen Haare hatte sie mit einem Kamm hochgesteckt, einzelne widerspenstige Strähnen rahmten ihr herzförmiges Gesicht. Ausgiebig und gekonnt aufgetragene Mascara betonte ihre lebhaften dunklen Augen.

Einen Schritt hinter ihr folgte Jerry Klein. Er war groß und schlaksig und ließ sich auf einem der Stühle vor Lauries Schreibtisch nieder. Wie immer trug er einen Rollkragenpullover. Er hatte beschlossen, dass sein einziger dunkelblauer Anzug und sein einziger Smoking mindestens zwanzig Jahre lang halten mussten. Laurie hegte nicht die geringsten Zweifel, dass ihm das gelingen würde. Mittlerweile war er sechsundzwanzig; drei Jahre zuvor war er als Praktikant zum Unternehmen gestoßen und hatte sich seither zu einem unentbehrlichen Produktionsassistenten gemausert.

»Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen«, verkündete Laurie. »Brett hat uns sein Okay gegeben.«

»Ich wusste es!«, rief Grace aus.

»Ich hab’s dir schon angesehen, als du aus dem Aufzug gekommen bist«, sagte Jerry.

»Nein, hast du nicht! Ich hab nämlich ein Pokerface«, erwiderte Laurie. »Also, als Erstes werde ich Robert Powell anrufen. Und wenn ich sein Einverständnis habe, dürften seine Stieftochter und ihre drei Freundinnen auch mit dabei sein.«

»Schließlich werden sie für ihre Kooperation ja nicht schlecht bezahlt. Und alle vier können das Geld gut gebrauchen«, sagte Jerry nachdenklich und rief sich die Hintergrundinformationen ins Gedächtnis, die er für die angedachte Serie bereits zusammengetragen hatte. »Betsys Tochter Claire Bonner ist Sozialarbeiterin in Chicago. Unverheiratet. Nina Craig ist geschieden, lebt in Hollywood und schlägt sich als Statistin durch. Alison Schaefer ist Apothekerin in einem kleinen Drugstore in Cleveland. Ihr Mann ist vor zwanzig Jahren Opfer eines Verkehrsunfalls mit Fahrerflucht geworden, seitdem geht er an Krücken. Und Regina Callari ist nach St. Augustine in Florida gezogen und hat dort ein kleines Immobilienmakler-Büro. Geschieden, ein Sohn auf dem College.«

»Es geht für uns um eine Menge«, mahnte Laurie zur Vorsicht. »Brett hat mir klar zu verstehen gegeben, dass wir uns nach den letzten beiden Serien einen weiteren Flop nicht mehr leisten dürfen.«

»Hat er auch erwähnt, dass deine ersten beiden Serien immer noch auf Sendung sind?«, fragte Jerry leicht ungehalten.

»Nein, hat er nicht und wird er auch nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass diese Sendung richtig einschlagen könnte. Wenn Robert Powell mitmacht, bekommen wir die anderen auch«, sagte Laurie. »Zumindest hoffe ich das.«

2

Gerüchten zufolge hätte Leo Farley, Erster Stellvertretender Polizeichef, der nächste Polizeichef von New York werden können, wenn er nicht einen Tag nach der Beerdigung seines Schwiegersohns unerwartet seinen Abschied eingereicht hätte. Seitdem waren mehr als fünf Jahre vergangen, und Leo hatte seine Entscheidung nie bereut. Mit seinen dreiundsechzig Jahren war er immer noch mit Herz und Seele Polizist. Er hatte immer vorgehabt, bis zum gesetzlichen Rentenalter im Dienst zu bleiben, wären seine Pläne nicht mit einem Schlag über den Haufen geworfen worden.

Der kaltblütige Mord an Greg und die von der Zeugin gehörte Drohung – »Timmy, sag deiner Mutter, dass sie die Nächste ist. Und dann bist du an der Reihe!« – waren Grund genug gewesen, sich ganz dem Schutz seiner Tochter und seines Enkelsohns zu widmen. Leo Farley, von durchschnittlicher Größe, aber mit kerzengerader Haltung, mit vollem eisengrauem Haar und einem drahtigen Körper, war seitdem ständig auf der Hut.

Natürlich war ihm klar, dass er Laurie nicht ununterbrochen beschützen konnte. Sie hatte ihre Arbeit, die sie mochte und brauchte. Sie nutzte den öffentlichen Nahverkehr, ging in den Central Park zum Joggen und aß gern in den kleinen Parks in der Nähe ihres Büros zu Mittag, wenn das Wetter es zuließ.

Bei Timmy war es etwas anderes. Leos Ansicht nach gab es eigentlich keinen Grund, warum sich Gregs Mörder nicht als Erstes Timmy vorknöpfen konnte. Also setzte er alles daran, seinen Enkelsohn zu schützen. Er brachte Timmy jeden Morgen zur Saint David’s School, und er wartete auf ihn, wenn der Unterricht vorbei war. Standen am Nachmittag irgendwelche Aktivitäten an, hielt Leo unauffällig an der Eislaufbahn oder auf dem Spielplatz Wache.

Greg Moran war so gewesen, wie sich Leo einen idealen Sohn vorstellte. Vor zehn Jahren hatten sie sich in der Notaufnahme des Lenox Hill Hospital kennengelernt. Leo und Eileen waren dorthin geeilt, nachdem ihre sechsundzwanzigjährige Tochter Laurie auf der Park Avenue von einem Taxi angefahren und bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert worden war.

Greg, groß und sogar in seinem grünen Krankenhauskittel von beeindruckender Gestalt, hatte sie damals ruhig und selbstsicher begrüßt. »Sie ist schon auf dem Weg der Besserung, kein Grund zur Sorge. Ein gebrochener Knöchel und eine Gehirnerschütterung, mehr ist nicht. Wir werden sie noch eine Weile beobachten, aber es wird alles gut werden.«

Bei diesen Worten war Eileen, die sich unaussprechliche Sorgen um ihr einziges Kind machte, in Ohnmacht gefallen, und Greg – der Eileen gerade noch auffangen konnte – durfte sich gleich um eine weitere Patientin kümmern. Ab da, dachte Leo, war er immer in unserem Leben gewesen. Drei Monate später verlobten er und Laurie sich. Und dann, als Eileen nur ein Jahr später starb, war er der Fels, an dem wir uns festhalten konnten.

Wie war es nur möglich gewesen, dass jemand ihn erschießen wollte? Bei den umfangreichen Ermittlungen wurde jeder Stein zweimal umgedreht, um jemanden zu finden, der gegen Greg einen Groll gehegt haben könnte – was allen unvorstellbar schien, die ihn gekannt hatten. Nachdem seine Freunde und Studienkollegen sehr schnell ausgeschlossen werden konnten, hatten sich die Ermittlungen auf die beiden Krankenhäuser konzentriert, in denen Greg als leitender Arzt gearbeitet hatte. Aber weder Patienten noch deren Familienangehörige hatten ihn jemals beschuldigt, eine falsche Diagnose gestellt oder eine ungeeignete Behandlung eingeleitet zu haben, die zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod geführt hätten. Nichts war ans Licht gekommen.

Im Büro des Staatsanwalts sprachen alle vom »Mörder mit den blauen Augen«, wenn die Rede auf diesen Fall kam. Dieses Detail hatte der verzweifelte Timmy immer wieder genannt.

Als Laurie mit Leo das Konzept ihrer neuen Sendung besprochen und vom Abschlussgala-Mord berichtet hatte, hatte er seine Besorgnis für sich behalten. Die Vorstellung, dass seine Tochter mehrere Personen zusammenbrachte, von denen eine vielleicht ein Mörder war, fand er schlichtweg bestürzend. Jemand hatte Betsy Bonner Powell so sehr gehasst, dass er ihr in mörderischer Absicht ein Kissen aufs Gesicht gedrückt hatte. Die gleiche Person würde jetzt wahrscheinlich auch eine ganze Menge unternehmen, um zu verhindern, dass sie enttarnt wurde. Leo wusste, dass alle vier jungen Frauen sowie Robert Powell, Betsys Ehemann, von der Mordkommission befragt worden waren. Wenn sich damals kein Einbrecher ins Haus geschlichen hatte, würden jetzt, falls die Sendung grünes Licht bekam, der Mörder oder die Mörderin sowie sämtliche Verdächtige zusammentreffen – eine äußerst gefährliche Situation.

All das ging Leo durch den Kopf, als er Timmy von der Saint David’s School in der Eighty-ninth Street Ecke Fifth Avenue nach Hause begleitete, in die acht Straßenzüge entfernte Lexington Avenue Ecke Ninety-fourth Street. Nach Gregs Tod war Laurie sofort umgezogen. Sie hatte den Anblick des Spielplatzes, auf dem Greg erschossen worden war, nicht ertragen.

Ein vorbeikommender Streifenwagen bremste ab, und der Polizist auf dem Beifahrersitz salutierte Leo.

»Ich mag es, wenn sie das machen, Grandpa«, sagte Timmy. »Dann weiß ich, dass mir nichts passiert.«

Vorsicht, ermahnte sich Leo. Ich hab Timmy immer gesagt, wenn er oder seine Freunde mal in Schwierigkeiten geraten und ich nicht da bin, dann sollen sie zu einem Polizisten laufen und ihn um Hilfe bitten. Unwillkürlich umfasste er Timmys Hand fester.

»Na, aber du hast ja keine Probleme, die ich nicht für dich lösen könnte.« Und dann fügte er noch nachdenklich an: »Jedenfalls soweit ich weiß.«

Sie gingen auf der Lexington Avenue nach Norden. Der Wind hatte gedreht und blies ihnen direkt ins Gesicht. Leo blieb stehen und zog Timmy die Wollmütze fest über Stirn und Ohren.

»Einer aus der achten Klasse ist heute Morgen zu Fuß in die Schule gegangen, und da ist einer auf einem Fahrrad gekommen und hat ihm sein Handy aus der Hand reißen wollen. Aber ein Polizist hat es gesehen und sich den Typen gleich geschnappt«, erzählte Timmy.

An dem Vorfall schien jedenfalls keiner mit blauen Augen beteiligt gewesen zu sein. Leo schämte sich fast, als er sich eingestand, wie erleichtert er darüber war. Solange man Gregs Mörder nicht gefasst hatte, musste er dafür sorgen, dass Timmy und Laurie in Sicherheit waren.

Irgendwann, hatte er sich geschworen, würde der Mörder zur Rechenschaft gezogen werden.

Heute Morgen, hatte Laurie gesagt, als sie sich gleich nach seinem Eintreffen auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, würde das Urteil über ihre neue Serie gefällt werden. Rastlos kehrten seine Gedanken immer wieder dahin zurück. Er würde bis zum Abend warten müssen, bis er von der Entscheidung erfuhr. Bei der zweiten Tasse Kaffee, wenn Timmy mit seinem Abendessen fertig war und sich mit einem Buch in den großen Sessel gekuschelt hatte, würde sie es mit ihm besprechen. Später würde er sich dann in sein nur einen Block entferntes Apartment verabschieden. Laurie und Timmy brauchten auch Zeit für sich, außerdem würde kein Fremder unangemeldet am Pförtner vorbeikommen.

Wenn sie grünes Licht für die Serie bekam, dachte Leo, dann waren das keine guten Neuigkeiten.

Plötzlich schoss wie aus dem Nichts ein Mann mit Kapuzen-Sweatshirt, dunkler Sonnenbrille und einem Stoffbeutel über den Schultern auf Rollerskates an ihnen vorbei und stieß Timmy fast dabei um, bevor er eine hochschwangere junge Frau streifte, die keine drei Meter vor ihnen ging.

»Runter vom Bürgersteig!«, schrie Leo dem Skater hinterher, der aber schon um die Ecke bog und verschwand.

Hinter der dunklen Sonnenbrille funkelten leuchtend blaue Augen; der Skater stieß ein lautes Lachen aus.

Begegnungen wie diese, wenn er Timmy richtig berührte, stärkten sein Gefühl der Macht, und dann wusste er, dass er seine Drohung an jedem beliebigen Tag wahr machen konnte.

3

Robert Nicholas Powell war achtundsiebzig Jahre alt, sah aber aus und bewegte sich wie jemand, der zehn Jahre jünger war. Er hatte ein markantes Gesicht, volle weiße Haare und eine aufrechte Haltung, auch wenn er die eins achtzig mittlerweile nicht mehr erreichte. Wer ihm begegnete, bemerkte sofort die Autorität, die von ihm ausging. Ausgenommen am Freitag arbeitete er immer noch in seinem Büro in der Wall Street, wo ihn sein langjähriger Angestellter Josh Damiano morgens hinfuhr und abends wieder abholte.

Heute, Dienstag, den 16. März, war er zu Hause in Salem Ridge geblieben, um sich mit der TV-Produzentin Laurie Moran zu treffen. Sie hatte ihre Pläne bestechend begründet: »Mr. Powell, ich bin fest davon überzeugt, dass die Öffentlichkeit verstehen wird, warum weder Sie noch Ihre Stieftochter oder deren Freundinnen für den Tod Ihrer Frau verantwortlich gemacht werden können, wenn Sie noch einmal alle zusammen die Ereignisse am Abend der Abschlussgala Revue passieren lassen. Sie waren glücklich verheiratet, wie all Ihre Bekannten wussten. Ihre Stieftochter und ihre Mutter haben sich sehr nahegestanden. Die drei anderen Abschlussschülerinnen sind während der Highschool-Zeit bei Betsy ein und aus gegangen, und auch Sie haben ihnen nach Ihrer Hochzeit immer das Gefühl gegeben, dass sie jederzeit willkommen sind. Sie haben ein großes Anwesen, es waren unzählige Gäste auf dem Fest, es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass sich jemand unbemerkt ins Haus geschlichen hat. Es war bekannt, dass Ihre Frau teuren Schmuck besaß. An jenem Abend hat sie ihre Smaragd-Ohrringe, -Halskette und den dazu passenden Ring getragen.«

»Die Boulevardpresse hat die Tragödie zu einem Skandal ausgewalzt«, hatte Robert Powell bitter erwidert, wie er sich jetzt erinnerte. Gut, Laurie Moran würde bald hier ankommen, dachte er. Dann soll es also so sein.

Er saß am Schreibtisch in seinem geräumigen Büro im Erdgeschoss. Durch die großen Fenster war der Garten hinter dem Haus zu sehen. Ein wunderbarer Anblick im Frühjahr, Sommer und Frühherbst, dachte Rob. Und wenn es schneite, lag eine oftmals zauberhafte Stimmung über dem Anwesen, aber an einem trüben, feuchtkalten Märztag, wenn die Bäume noch kahl, der Swimmingpool abgedeckt und das Poolhaus verriegelt waren, konnte keine noch so teure Gartengestaltung die triste Ödnis der winterlichen Landschaft mildern.

Sein gepolsterter Schreibtischsessel war äußerst bequem, und lächelnd musste er an ein Geheimnis denken, das er bislang niemandem anvertraut hatte. Er war nämlich überzeugt, dass der beeindruckende Mahagonischreibtisch mit seinen feinen Schnitzereien an den Seitenwänden und Beinen enorm zu seinem sorgsam kultivierten Selbstbildnis beitrug. An diesem Image hatte er maßgeblich gearbeitet, seitdem er mit siebzehn Jahren Detroit verlassen hatte, um mithilfe eines Stipendiums in Harvard zu studieren. Dort hatte er seine Mutter als College-Professorin und seinen Vater als Ingenieur angegeben; in Wahrheit war sie Kantinenmitarbeiterin an der Universität von Michigan gewesen und sein Vater Mechaniker in der Ford-Fabrik.

Lächelnd erinnerte er sich, wie er in seinem ersten Studienjahr ein Buch über Tischmanieren und ein angelaufenes Silberbesteck gekauft und so lange mit den ihm fremden Gegenständen wie zum Beispiel einem Fischmesser geübt hatte, bis er mit ihrem Gebrauch vertraut war. Nach dem Studienabschluss begann er als Praktikant bei Merrill Lynch seine Karriere in der Finanzwelt. Mittlerweile galt der R. N. Powell Hedgefonds trotz einiger holpriger Anfangsjahre als eine der besten und sichersten Anlagemöglichkeiten an der Wall Street.

Um exakt elf Uhr verkündete die Türglocke die Ankunft von Laurie Moran. Rob streckte den Rücken durch. Natürlich würde er sich zu ihrer Begrüßung erheben, zuvor aber sollte sie ihn hinter seinem Schreibtisch sitzen sehen. Erst jetzt wurde ihm klar, wie neugierig er auf sie war. Nach ihrer Stimme am Telefon ließ sich ihr Alter nur schwer schätzen. Sie hatte sachlich und nüchtern geklungen, erst als sie das Thema auf Betsys Tod gelenkt hatte, war aus ihrer Stimme so etwas wie Mitgefühl herauszuhören gewesen.

Später hatte er sie gegoogelt. Die Tatsache, dass ihr Mann, ein Arzt, auf einem Spielplatz erschossen worden war, und sie eine beeindruckende Karriere als Produzentin vorweisen konnte, hatte ihn verblüfft. Nach den Bildern, die er von ihr gefunden hatte, war sie eine attraktive Frau. Ich bin noch nicht so betagt, um an so etwas keinen Gefallen zu finden, dachte sich Rob.

Es klopfte an der Tür. Jane, seine Haushälterin seit der Ehe mit Betsy, öffnete die Tür und trat ein. Hinter ihr folgte Laurie Moran.

»Danke, Jane«, sagte Rob und wartete, bis die Haushälterin wieder die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann erhob er sich. »Ms. Moran«, sagte er. Er streckte ihr die Hand hin und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

So, da wären wir also, ging es Laurie durch den Kopf, als sie mit einem freundlichen Lächeln Platz nahm. Die Haushälterin hatte ihr den Mantel abgenommen. Laurie trug einen marineblauen Nadelstreifen-Hosenanzug, eine weiße Bluse und Lederstiefel. Ihr einziger Schmuck bestand aus kleinen Perlohrringen und ihrem goldenen Ehering. Sie hatte die Haare nach hinten zu einem französischen Knoten gebunden, der ihr eine gewisse Eleganz und Strenge verlieh.

Nach nicht einmal fünf Minuten war sie überzeugt, dass sie von Robert Powell eine Zusage bekommen würde. Bis er ihr das aber ausdrücklich bestätigte, vergingen weitere zehn Minuten.

»Mr. Powell, ich bin sehr froh, dass Sie uns die Abschlussgala nachstellen lassen. Natürlich benötigen wir noch die Einwilligung Ihrer Stieftochter und von deren Freundinnen. Werden Sie mir helfen, sie zur Teilnahme zu überreden?«

»Gern, aber natürlich kann ich da nichts versprechen.«

»Haben Sie noch ein enges Verhältnis zu Ihrer Stieftochter – nach dem Tod Ihrer Frau?«

»Nein. Was aber nicht an mir liegt. Ich habe Claire gemocht, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Sie hat ja von ihrem dreizehnten bis einundzwanzigsten Lebensjahr hier gewohnt. Der Tod ihrer Mutter war für sie ganz fürchterlich. Ich weiß nicht, wie sehr Sie sich bereits kundig gemacht haben. Ihre Mutter und ihr Vater waren nie verheiratet. Er hat Betsy verlassen, als sie mit Claire schwanger war. Betsy hatte danach kleinere Rollen am Broadway, und wenn sie nicht auf der Bühne stand, hat sie als Platzanweiserin gearbeitet. Es war nicht einfach für sie und Claire – bis ich des Weges kam.«

Dann fügte er noch hinzu: »Betsy war eine schöne Frau. Sie hätte leicht einen anderen heiraten können, aber nach den Erfahrungen mit Claires Vater hatte sie erst einmal genug.«

»Das kann ich gut verstehen«, pflichtete Laurie bei.

»Ja. Ich selbst hatte ja nie Kinder, Claire war für mich daher wie eine eigene Tochter. Es hat wehgetan, als sie nach Betsys Tod so schnell ausgezogen ist. Wahrscheinlich war unser beider Schmerz so groß, dass sie es nicht mehr ausgehalten hat. Sie wissen wahrscheinlich, dass sie als Sozialarbeiterin in Chicago arbeitet. Sie hat nie geheiratet.«

»Und sie ist nie mehr zurückgekommen?«

»Nein. Sie schlägt sogar meine Angebote aus, sie finanziell großzügig zu unterstützen. Meine Briefe schickt sie zerrissen retour.«

»Warum tut sie das?«, fragte Laurie.

»Sie war furchtbar eifersüchtig auf meine Beziehung zu ihrer Mutter. Vergessen Sie nicht, dreizehn Jahre hatte sie sie ganz für sich allein.«

»Dann meinen Sie also, sie könnte sich weigern, an der Sendung teilzunehmen?«

»Nein, das glaube ich nicht. Hin und wieder wird in der Zeitung ja über den Fall berichtet, und dabei werden so gut wie immer Claire oder die anderen Mädchen zitiert. Ihre Aussagen unterscheiden sich kaum. Sie alle beklagen sich, dass man immer mit dem Finger auf sie gezeigt und sie des Mordes beschuldigt hat, und sie alle wären froh, wenn der Fall aufgeklärt würde und alles ein Ende hat.«

»Wir beabsichtigen, allen Beteiligten fünfzigtausend Dollar für ihr Erscheinen zu bieten«, sagte Laurie.

»Ich habe die Lebenswege der vier Absolventinnen in all den Jahren mitverfolgt. Sie alle können finanzielle Unterstützung gut gebrauchen. Um sie zur Teilnahme zu überreden, wäre ich sogar bereit, jeder eine viertel Million Dollar zu zahlen. Das dürfen Sie ihnen ausrichten.«

»Das würden Sie tun?«, entfuhr es Laurie.

»Ja. Und sagen Sie mir, wen Sie noch in Ihrer Sendung haben wollen.«

»Natürlich würde ich gern mit Ihrer Haushälterin sprechen«, sagte Laurie.

»Geben Sie ihr die fünfzigtausend, die Sie auch den anderen geben, und ich lege weitere fünfzigtausend drauf. Ich werde dafür sorgen, dass sie sich bereit erklärt. Es ist nicht nötig, dass sie die gleiche Summe wie die anderen erhält. Ich bin achtundsiebzig Jahre alt, ich habe drei Stents in den Arterien. Ich weiß, dass ich wie die Mädchen zu den Verdächtigen zähle. Bevor ich sterbe, möchte ich noch in einem Gerichtssaal sitzen und miterleben, wie Betsys Mörder verurteilt wird.«

»Sie haben nie Geräusche oder etwas in der Art aus ihrem Zimmer gehört?«

»Nein. Sie wissen bestimmt, dass wir eine Suite hatten. In der Mitte lag das gemeinsame Zimmer, unsere Schlafzimmer waren links und rechts daneben. Ich schnarche sehr laut und schlafe sehr tief. Nachdem wir uns eine gute Nacht gewünscht hatten, habe ich mich in mein Schlafzimmer zurückgezogen und dann nichts mehr gehört.«

Am Abend wartete Laurie, bis Timmy in seinen Harry Potter vertieft war, erst dann erzählte sie ihrem Vater von dem Treffen mit Powell.

»Ich weiß, ich soll keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber Powell klang in meinen Ohren, als würde er es ehrlich meinen«, sagte sie. »Und sein Angebot, den Frauen eine viertel Million Dollar zu zahlen, ist grandios.«

»Eine viertel Million Dollar plus das, was ihr ihnen gebt«, sagte Leo. »Du sagst, Powell weiß, dass alle vier Frauen das Geld gut gebrauchen können?«

»Ja, das hat er zumindest behauptet«, bemerkte Laurie etwas kleinlaut.

»Hat Powell sie bislang in irgendeiner Form unterstützt, seine Stieftochter eingeschlossen?«

»Es klang nicht danach.«

»Dieser Frage solltest du mal nachgehen. Wer weiß schon, welche Motive er wirklich verfolgt, wenn er so viel Geld verteilt.« Es war eine alte Angewohnheit von ihm, die Absichten anderer Menschen zu hinterfragen. Das war der Polizist in ihm. Und so hatten es auch schon sein Vater und Großvater getan.

Dann beschloss er, seinen Kaffee auszutrinken und nach Hause aufzubrechen. Sonst werde ich noch nervöser, als ich es sowieso schon bin, dachte er. Und das tut weder Laurie noch Timmy gut. Wenn ich daran denke, wie ich den Typen auf den Rollerskates angebrüllt habe. Aber ich hatte ja recht, er hätte leicht jemanden verletzen können. Und als er Timmy berührt hat, hab ich es richtig mit der Angst bekommen. Gut, ich hatte Timmy an der Hand, trotzdem hätte ich ihn nie und nimmer beschützen können – nicht wenn der andere mit einer Pistole oder einem Messer bewaffnet gewesen wäre und unerwartet angegriffen hätte.

Leo konnte die grausame Wirklichkeit nicht leugnen. Wenn ein Mörder es wirklich darauf abgesehen hatte, jemanden zu töten, konnte ihn nichts davon abhalten – egal, wie wachsam man war, egal, welche Vorsichtsmaßnahmen man ergriff.

4

Claire Bonner ließ sich an einem Tisch in der Seafood Bar im Breakers Hotel in Palm Beach nieder. Sie sah aufs Meer hinaus und beobachtete nicht sonderlich interessiert die Wellen, die sich an der Mauer direkt unterhalb der Bar brachen. Die Sonne schien, aber es war sehr viel windiger, als sie in Florida an einem Vorfrühlingstag erwartet hatte.

Sie trug eine hellblaue Windjacke, die sie sich kürzlich gekauft hatte, weil auf der Brusttasche der Namenszug THE BREAKERS angebracht war. Genau so eine Jacke gehörte ihrer Vorstellung nach zu einem langen Wochenende, so wie sie es hier verbringen wollte. Claire hatte kurze aschblonde Haare, ihr Gesicht wurde zur Hälfte von einer übergroßen Sonnenbrille verdeckt. Sie nahm die Brille nur selten ab, und wenn sie es tat, konnte man ihre schönen Gesichtszüge erkennen, die eine scheinbare Gelassenheit ausstrahlten. Aber ein aufmerksamer Beobachter hätte vielleicht zu dem Schluss kommen können, dass sie keineswegs ihren Seelenfrieden gefunden, sondern sich bloß mit der Realität abgefunden hatte. Derselbe Beobachter hätte sie auch auf etwa Mitte dreißig geschätzt, in diesem Fall aber hätte er sich geirrt. Sie war einundvierzig.

In den vergangenen vier Tagen war sie immer vom selben höflichen jungen Kellner bedient worden. Auch jetzt begrüßte er sie, als er sich ihrem Tisch näherte, mit ihrem Namen. »Lassen Sie mich raten, Ms. Bonner. Suppe mit Meeresfrüchten und zwei große Steinkrabben?«

»Exakt«, antwortete Claire. Ihre Mundwinkel zogen sich zu einem kurzen Lächeln nach oben.

»Und dazu wie gewöhnlich ein Glas Chardonnay«, fügte er hinzu, während er sich schon die Bestellung notierte.

Macht man viermal hintereinander das Gleiche, wird es einem als Gewohnheit ausgelegt, dachte sie schmerzlich.

Gleich darauf wurde ihr der Chardonnay serviert. Sie griff nach dem Glas, sah sich im Raum um und nahm einen Schluck.

Sämtliche Gäste trugen legere Designer-Kleidung. Das Breakers war ein teures Hotel, ein Erholungsort für die Bessergestellten. Es war die Osterferienwoche, landesweit waren die Schulen geschlossen. Beim Frühstück im Speisesaal hatte sie die Familien mit Kindern beobachtet. Meistens wurden sie von einem Kindermädchen begleitet, das kompetent den quengelnden Nachwuchs weglotste, damit die Eltern in Ruhe das üppige Büfett genießen konnten.

Mittags in der Bar waren fast ausschließlich Erwachsene zu sehen. Claire war aufgefallen, dass die jüngeren Familien eher die Restaurants am Pool aufsuchten, wo man es mit dem Dresscode nicht so genau nahm.

Wie wäre es gewesen, wenn sie in der Kindheit hier jedes Jahr Ferien gemacht hätte? Sie versuchte nicht daran zu denken, dass sie jeden Abend im halb leeren Theater, in dem ihre Mutter als Platzanweiserin gearbeitet hatte, eingeschlafen war. Bevor ihre Mutter Robert Powell kennengelernt hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt war ihre Kindheit ja auch schon so gut wie vorbei gewesen.

Während sie ihre Gedanken spielen ließ, nahmen zwei Paare noch in Reisekleidung am Tisch neben ihr Platz. Sie hörte, wie eine der Frauen sagte: »Ach wie schön, wieder hier zu sein.«

Ich tue einfach so, als käme ich auch regelmäßig hierher, dachte sie sich. Ich tue einfach so, als würde ich jedes Jahr im selben Zimmer mit Meerblick absteigen, als würde ich mich jedes Mal auf die langen Strandspaziergänge vor dem Frühstück freuen.

Der Kellner brachte die Suppe. »Vorsicht, heiß, so wie Sie es mögen, Ms. Bonner«, sagte er.

Am ersten Tag hatte sie darum gebeten, die Suppe sehr heiß und die Krabben als zweiten Gang aufzutragen. Auch diese Bitte hatte sich der Kellner eingeprägt.

Beim ersten Löffel verbrannte sie sich fast den Gaumen, also rührte sie ausgiebig die in einem ausgehöhlten Brotlaib servierte dickflüssige Suppe um, damit sie etwas abkühlte. Sie nahm einen kräftigen Schluck vom Chardonnay. Er war staubtrocken, genau wie die Tage zuvor.

Draußen wühlte der auffrischende Wind die Wellen zu einer schäumenden Gischt auf.

Claire kam sich genauso vor wie die an die Küste brandenden Wasserfontänen, die gnadenlos den mächtigen Windböen ausgeliefert waren und hin und her geweht wurden. Es war immer noch ihre Entscheidung. Sie konnte immer noch Nein sagen. Seit Jahren hatte sie sich geweigert, zu ihrem Stiefvater zurückzukehren. Und jetzt wollte sie eigentlich auch nicht zu ihm zurück, alles andere als das. Keiner konnte sie zwingen, in einer TV-Serie aufzutreten und an einer Wiederaufführung des Festes teilzunehmen, auf dem sie vor zwanzig Jahren mit ihren drei besten Freundinnen den College-Abschluss gefeiert hatte.

Aber wenn sie mitmachte, würde sie von der Produktionsfirma fünfzigtausend Dollar bekommen, und Rob würde weitere zweihundertfünfzigtausend drauflegen.

Dreihunderttausend Dollar. Damit könnte sie sich für einen gewissen Zeitraum von ihrer Stelle bei der Jugend- und Familienbetreuung in Chicago beurlauben lassen. An der Lungenentzündung, die sie sich im Januar eingefangen hatte, wäre sie fast gestorben. Sie war immer noch schwach auf den Beinen und fühlte sich müde. Bislang hatte sie Powells Angebote immer abgelehnt. Keinen einzigen Cent hatte sie von ihm angenommen, sie hatte seine Briefe zerrissen und zurückgeschickt. Nach allem, was er getan hatte.

Sie hatten das Fest »Abschlussgala« genannt. Es war eine wunderschöne Party gewesen, dachte Claire. Alison und Regina und Nina hatten im Haus übernachtet. Aber irgendwann in der Nacht war ihre Mutter ermordet worden. Betsy Bonner Powell, die schöne, großzügige, witzige, allseits geliebte Betsy.

Wie habe ich sie verachtet, dachte Claire.

Wie habe ich meine Mutter gehasst und ihren Mann verabscheut, auch wenn er mir jetzt ständig Geld schicken will.

5

Regina Callari bedauerte es, den eingeschriebenen Brief von Laurie Moran, der TV-Produzentin der Fisher Blake Studios, überhaupt auf dem Postamt abgeholt zu haben. An einer Realityshow teilzunehmen, die die Abschlussgala nachstellen wollte!, dachte sie verwundert und, offen gesagt, auch schockiert.

Der Brief brachte sie so sehr auf, dass sie sogar ihr Verkaufsgespräch bei der Hausbesichtigung verpatzte. Nur mühsam stammelnd konnte sie auf die Vorzüge des Hauses hinweisen, sodass die potenzielle Käuferin mitten im Rundgang meinte: »Ich hab genug gesehen. Das ist doch nicht das, was ich suche.«

Zurück im Büro, musste sie die Hausbesitzerin anrufen, die sechsundsiebzigjährige Bridget Whiting, und ihr eingestehen, dass sie sich getäuscht hatte. »Ich war mir absolut sicher, dass der Verkauf zustande kommen würde, aber es hat eben nicht sein sollen«, entschuldigte sie sich.

Bridgets Enttäuschung war nicht zu überhören. »Ich weiß nicht, wie lange das Apartment im Heim für betreutes Wohnen für mich noch reserviert bleibt. Es wäre doch genau das, was ich wollte. Ach, meine Liebe, vielleicht hab ich mir einfach zu große Hoffnungen gemacht. Aber es ist ja nicht Ihre Schuld.«

Doch, es ist meine Schuld, dachte Regina, wollte sich ihren Zorn aber nicht anmerken lassen und schwor sich, für Bridget schnell einen neuen Käufer zu finden, obwohl sie natürlich wusste, wie schwierig das im gegenwärtigen Marktumfeld war.

Ihr Büro lag in einer ehemaligen Garage, die ursprünglich zu einem Wohnhaus an der Main Street in St. Augustine, Florida, gehört hatte. Der schwächelnde Immobilienmarkt hatte sich in letzter Zeit zwar wieder etwas erholt, trotzdem kam Regina gerade so über die Runden. Sie stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und presste die Finger an die Schläfen. Schwarze Strähnen fielen ihr ins Gesicht und erinnerten sie daran, dass ihre kohlrabenschwarzen Haare ungestüm wie eh und je viel zu schnell nachgewachsen waren. Sie hätte sich längst um einen Friseurtermin kümmern müssen. Nur die Geschwätzigkeit der Friseurin hatte sie bislang davon abgehalten – und natürlich die Kosten.

Ein dummer Grund, der nur dazu führte, dass sie sich über sich selbst und ihre ständige Ungeduld ärgern musste. Was machte es schon, wenn Lena zwanzig Minuten lang ununterbrochen auf einen einquasselte? Lena war jedenfalls die Einzige, die ihre wilde Haarpracht zu bändigen wusste.

Ihr Blick wanderte zum Bild auf dem Schreibtisch. Zach, ihr neunzehnjähriger Sohn, lächelte sie auf dem Foto an. Er würde bald das erste Studienjahr an der Universität von Pennsylvania beenden. Die Kosten dafür übernahm komplett sein Vater, ihr Exmann. Zach hatte letzten Abend angerufen und sie zögernd gefragt, ob sie was dagegen habe, wenn er im Sommer mit dem Rucksack durch Europa und den Nahen Osten reiste. Eigentlich hatte er vorgehabt, zu ihr nach Hause zu kommen und sich in St. Augustine nach einem Job umzusehen, aber Arbeit war hier nur schwer zu finden. Das würde alles gar nicht so viel kosten, außerdem würde ihn sein Vater finanzieren.

»Ich werde rechtzeitig wieder da sein, dann kann ich noch zehn Tage bei dir verbringen, bevor das nächste Studienjahr anfängt, Mom«, hatte er ihr versichert.

Sie hatte ihn bestärkt. Es sei eine wunderbare Gelegenheit, er solle sie auf jeden Fall nutzen. Sie ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Zach fehlte ihr. Ihr fehlte der liebe kleine Junge, der vom Schulbus immer in ihr Büro gestürmt kam und es kaum erwarten konnte, ihr alles zu erzählen, was er am Tag so erlebt hatte. Ihr fehlte der große, schüchterne Pubertierende, der mit dem Essen auf sie gewartet hatte, wenn es mit einem Kunden mal wieder spät geworden war.

Seit der Scheidung hatte Earl immer wieder Wege gefunden, um ihr Zach abspenstig zu machen. Es hatte mit einem Segelcamp in Cape Cod begonnen, als Zach zehn gewesen war. Darauf folgten Urlaube, bei denen Earl und seine neue Frau Zach zum Skifahren mit in die Schweiz oder nach Südfrankreich genommen hatten.

Sie wusste, dass Zach sie liebte, aber mit ihrem kleinen Haus und ihren begrenzten finanziellen Mitteln konnte sie gegen seinen unerhört reichen Vater kaum etwas ausrichten. Jetzt würde Zach also den größten Teil des Sommers fort sein.

Langsam griff sie zu Morans Brief und las ihn erneut durch. »Fünfzigtausend von ihr, und der allmächtige Robert Nicholas Powell legt jedem von uns noch einmal eine viertel Million drauf«, murmelte sie laut vor sich hin. »Die Großzügigkeit in Person.«

Sie dachte an ihre Freundinnen und die Co-Gastgeberin der Abschlussgala, Claire Bonner. Wie schön sie gewesen war, aber immer so still. Neben ihrer Mutter hatte sie wie ein Mauerblümchen gewirkt, ein fahler Schatten ihrer selbst. Und Alison Schaefer – so intelligent, dass wir neben ihr alle dumm dastanden. Ich dachte, aus ihr würde mal eine zweite Madame Curie. Im Oktober nach Betsys Tod hat sie geheiratet, und dann hatte ihr Mann Rod einen Unfall. Seitdem geht er anscheinend an Krücken. Nina Craig. Die rote Kratzbürste, so haben wir sie immer genannt. Selbst im ersten Studienjahr hat man sich vor ihr in Acht nehmen müssen, wenn sie sauer auf einen war. Sie ist sogar auf einen Dozenten losgegangen, weil sie der Meinung war, dass ihre Arbeiten eine bessere Note verdient hätten.

Und dann noch ich, dachte Regina. Mit fünfzehn wollte ich mein Fahrrad in die Garage schieben, ich öffne das Tor – und entdecke meinen Vater, der an einem Strick von der Decke baumelt. Seine Augen waren hervorgetreten, die Zunge hing ihm aus dem Mund. Wenn er sich schon erhängen musste, warum nicht in seinem Büro? Er muss doch gewusst haben, dass ich ihn in der Garage finden würde. Und dabei habe ich ihn so geliebt! Wie hat er mir das nur antun können? Seitdem leide ich unter diesen Albträumen. Sie fangen immer damit an, dass ich vom Rad steige.

Bevor sie damals die Polizei und ihre Mutter verständigte, die gerade bei den Nachbarn Bridge spielte, hatte sie den Abschiedsbrief versteckt, den sich ihr Vater ans Hemd geheftet hatte. Laut der später eintreffenden Polizei hinterließen die meisten Selbstmörder einen Abschiedsbrief für die Familie. Schluchzend hatte ihre Mutter daraufhin das ganze Haus durchsucht, und Regina hatte so getan, als würde sie ihr helfen.

Damals haben mich meine Freundinnen gerettet, dachte Regina. Wir haben uns so nahgestanden. Und Claire, Nina und ich waren danach Alisons Brautjungfern. Was für eine dumme Entscheidung! Die Hochzeit kam viel zu früh nach Betsys Ermordung. Die Presse hat daraus ein großes Spektakel gemacht und mit ihren Schlagzeilen den Abschlussgala-Mord wieder aufgewärmt. Da ist uns klar geworden, dass wir vier möglicherweise bis an unser Lebensende unter Mordverdacht stehen würden.

Daraufhin haben wir uns nicht mehr getroffen. Nach der Hochzeit sind wir uns aus dem Weg gegangen, wir haben den Kontakt zu den anderen abgebrochen und sind in verschiedene Städte gezogen.

Wie wird es sein, wenn wir uns jetzt alle wiedersehen? Damals, als Betsys Leichnam gefunden wurde, waren wir noch so jung, so eingeschüchtert, so voller Angst. Und dann die Befragung durch die Polizei, erst alle zusammen, dann jede einzeln. Ein Wunder, dass keine von uns eingeknickt ist und gestanden hat, nur damit das alles ein Ende hat, so wie sie auf uns eingeredet haben. Wir wissen, es muss jemand aus dem Haus gewesen sein. Wer von Ihnen hat es getan? Wenn nicht Sie, war es dann vielleicht eine Ihrer Freundinnen? Denken Sie doch an sich, Sie müssen sich doch selbst schützen! Erzählen Sie uns, was Sie wissen!