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Drei Erzählungen - drei Lebensentwürfe - keine Helden! Nebenrollen! In allen drei Erzählungen sind es keine im landläufigen Sinne aufregenden Lebensbilder, die der Autor beschreibt. Genau beobachtend nimmt uns Roland dagegen mit in die Unverwechselbarkeit des Lebens seiner Hauptpersonen Umberto, Rüdiger und Jobst. Deren Erlebnisse, Begegnungen und Brüche, verwoben mit zeitgeschichtlichen Bezügen, fügt er zu einzigartigen und bewegenden Lebensbildern.
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Seitenzahl: 233
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Der Autor
Roland E. Ruf * 1939
lebt und arbeitet in Freiburg im Breisgau
www.roland-e-ruf.de
Roland E. Ruf
Drei Erzählungen
© 2017 Roland E. Ruf
Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg Gestaltung: Inge Reuter-Eck
ISBN
Paperback:
978-3-7439-2677-6
Hardcover:
978-3-7439-2678-3
e-Book:
978-3-7439-2679-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Ein kleiner rosa Zettel haftete an der Folie einer Werbesendung. Pfl.Mus / Toast / Waffeln . . . flüchtig mit Kugelschreiber geschrieben. Der Schrift nach eine ältere Person. Sie wird den Briefkasten verwechselt haben und tunkt heute zum Frühstück Zwieback oder Knäckebrot in den Kaffee, weil Pflaumenmus und Toast fehlen. Aber wer kann das sein? Außer einer jungen Frau im Erdgeschoss und einem Paar mit Kind sind alle im Haus im Rentenalter. Wer auch immer den Zettel in meinen Briefkasten geschoben hat: er ist ein Zeichen! Jemand braucht Unterstützung, also werde ich zur Sprechanlage gehen und durchrufen.
Meine Fürsorge verwunderte, doch angesprochen fühlte sich niemand. Fallini, mein direkter Nachbar, brummte Unverständliches in die Sprechmuschel.
Auf dem Rückweg begegne ich ihm auf dem Treppenabsatz. Er scheint mich erwartet zu haben.
Hör zu! sagt er auch gleich und duzt mich. Ich habe mich vorhin nicht korrekt verhalten, war noch nicht ganz bei mir. Hast du inzwischen herausgefunden, wer den Zettel geschrieben hat?
Nein, sage ich und ziehe den Wohnungsschlüssel aus der Tasche. Was soll das kumpelhafte Getue? Wir sind uns bisher aus dem Weg gegangen, ich schon der Klopfzeichen wegen, die immer dann kommen, wenn er meint, ich hätte die Sterenlage zu weit aufgedreht. Nun stellt er sich mir in den Weg und spricht gestenreich auf mich ein.
Du wohnst noch nicht lange im Haus, wir leben Tür an Tür, zwei alleinstehende alte Männer. Einer von uns wird irgendwann in eine Lage geraten, wie du sie vermutet hast. Dann ist nachbarschaftliche Hilfe doch selbstverständlich! Wir sitzen sozusagen im gleichen Boot.
Ja, so könnte das einmal sein, erwidere ich ausweichend.
Es ist so!, gibt er mit Bestimmtheit zurück. Heute Morgen habe ich mich elend gefühlt. Diese verdammten Schwindelgefühle!, stöhnt er. Und nun geht es wieder. Es hätte auch anders kommen können.
Ich stecke den Schlüssel ins Türschloss. Er geht zwei Stufen hinab, wendet sich nochmals um und ruft: Nimm’s mir nicht übel, dass ich dich duze,ich bin es so gewohnt. Er kommt die Stufen wieder herauf. Hör! Wer sagt schon auf Auslandsbaustellen Sir oder Mister? Man spricht sich mit Vornamen an, man hat schließlich miteinander zu tun und wir beide sind Nachbarn. Verstehst du? Er streckt mir die Hand hin. Also, ich heiße Umberto, nicht Hubert, wie unten an der Klingel steht.
Schön, sage ich, dann bin ich für dich der Roland.
Er ergreift meine Hand. Ich weiß, ich weiß! Die Hausverwaltung war in deinem Fall korrekt. Er deutet auf den grünen Nylonbeutel an seinem Arm: Ich bin auf dem Weg zum Bäcker. Brauchst du etwas? Brötchen vielleicht oder Brezeln? Er schmunzelt. An Laugengebäck komme ich in der Regel nicht vorbei.
Soll ich mir als Solidaritätsbeweis eine Laugenstange mitbringen lassen? – Neindanke, sage ich, habe schon gefrühstückt.
Gut!, meint er und klopft mir auf die Schulter. Nachher komme ich zu dir und werde dir zeigen, wie du die Lautsprecher-Boxen schallgünstig aufstellst. Von Schallausbreitung verstehe ich etwas. Dann wirst du mich auch nicht mehr an die Wand pochen hören. Ich glaube, du brauchst deine Musik. Musik erlaubt zu erinnern. Va bene?
Jetzt bin ich doch erstaunt! - Er stützt sich auf dem Geländer ab und macht noch immer keine Anstalten zu gehen. Okay, dann wird er noch etwas auf dem Herzen haben.
Außerdem brauche ich dich in einer anderen Sache, sagt er in einer Selbstverständlichkeit, als seien wir seit langem vertraut. Ich sehe dich mit Stöcken so flott losziehen, dass ich überlege, mir auch solche Dinger zuzulegen. Würdest du mich eventuell beraten? Ich hab’ schon mal im Internet recherchiert und komme mit den Modellen nicht zurecht.
Nordic-Walking-Stöcke?, frage ich. Eine überflüssige Frage, eigentlich weiß ich ja, was er meint. Aber selbstverständlich! Sag’ mir Bescheid!, erwidere ich möglichst verbindlich.
Mir egal, wie man die Dinger nennt.Ciao bis später!
Er steigt nun endgültig die Treppe hinab.
Gegen Mittag steht er mit zwei dicken Filzuntersetzern vor der Tür. Für die Boxen, gegen den Körperschall in diesem Betonkäfig!, sagt er und drängt ins Wohnzimmer. Die Musik störe ihn nicht nur das Dröhnen der Bässe. Das schmerze ihn bis in die Blase. Er rückt die Lautsprecherboxen von der Wand und legt die Filzmatten unter. Dann reibt er sich die Hände – So, das wär’s!
Das war am Dienstag letzter Woche. Die Stöcke haben wir anderntags gekauft. Bei einem Probegang im nahen Park, auf dem ich ihm das getaktete Gehen unter teilweiser Verlagerung des Körpergewichts bei Stockeinsatz vorgemacht hatte, fand er rasch seinen Rhythmus und stapfte mehrfach um den Kinderspielplatz. Er scheint rhythmisch begabt zu sein: Italiener. - Ach, ein Gemeinplatz!
Seitdem gehen wir montags und donnerstags an den Nachmittagen mit unseren Stöcken. Von Anfang an stapft der hagere und bewegliche Mann in seiner abgetragenen Parka leichtfüßig vor mir her, schwingt an den Stöcken über Unebenheiten und sumpfige Stellen – ein Mann über siebzig!
Auf ebenen Strecken stapfen wir neben- oder hintereinander her, meistens schweigend. Meistens, denn mitunter bricht die Vergangenheit hervor, als springe der Deckel einer Kiste auf, die lange unbeachtet geblieben war.
So erfuhr ich, dass sich Umberto als Kind zwischen seinem italienischen Heimatdorf und Deutschland hinund hergeschoben fühlte, später die deutsche Staatsangehörigkeit annahm und als Ingenieur eines Elektro- und Maschinenbau-Unternehmens auf Baustellen im Ausland zu tun hatte. In der Nähe des Gardasees besitze er seit einigen Jahren ein Haus und fühle sich nun wieder halbwegs als Italiener.
Er spüre geradezu seine Herkunft, sagte er einmal, wenn er in Vignole die Fenster öffne, ihm der erdige Duft des Gartens und die Geräusche des Dorfes entgegenkämen. Das hielt ich für eine romantische Überhöhung, die Reaktion eines gealterten Einsamen, der von seiner Vergangenheit zehrt.
Eigene Einsamkeit wird nicht erträglicher, wenn man die fremde aus den Schilderungen eines anderen Lebens destilliert. Zählt nicht eher, was man zusammen tut? Und in dieser Hinsicht war auf Umberto Verlass.
*
Wir bevorzugen eine bestimmte Route entlang der Berge, die gewissermaßen vor unserer Haustür ihren Anfang nimmt. Sie führt bis zum Kloster der Nonnen an einem Hang über dem Nachbarort, heute das klösterliche Altersheim dieses Ordens. Der Gebäudekomplex ist italienischer Architektur nachempfunden. Das fiel Umberto sofort auf. Hier wechseln wir gewöhnlich auf die gegenüberliegende Talseite und steigen durch den Wald auf, bis wir einen Sattel erreichen. Dort angelangt, öffnet sich in der Vorbergzone des Schwarzwaldes die Weite einer Tallandschaft, im Westen von einer Anhöhe begrenzt. Gegen Süden steigt das Tal an und verzweigt zum Gebirge hin. Auf unserer Hangseite Reben, gegenüber Weide- und Ackerflächen, darüber Wald. Diesen Blick vor Augen, rasten wir gewöhnlich unter einem Hochsitz am Waldrand. Umberto entnimmt der Taschentiefe seiner Parka Salamibrötchen und Weißwein in einer kleinen Plastikflasche. Ich bräuchte Kaffee. Danach fallen wir wieder in das Stakkato unserer Stöcke.
*
Es muss am Anfang unserer Touren gewesen sein, dass er an dieser Stelle Genaueres über seine Herkunft sagte. Er zerrte am Schal und verschaffte sich Luft - das habe ich noch vor Augen – und begann umständlich: Du solltest wissen, dass ich aus einem Dorf im Piemont stamme. Ich habe noch immer Bilder aus früher Kindheit im Kopf: das Haus der Großeltern, die Lage des Dorfes inmitten der Hügel mit Reben, den Weg in die nahe Stadt und den Markt, der voller neuer Eindrücke für ein Kind war. Bei Gott, ich erinnere mich an so vieles, sagte er verhalten und fragte, eher sich als mich, ob das nicht ein Klammern an Vergangenem sei.
Geht es nicht den meisten so?, warf ich ein.
So, meinst du? Und schon war er wieder in der eigenen Geschichte. Als ich mit meiner Mutter unser Dorf verließ, war ich sechs. Bis dahin habe ich meinen Vater nur von Besuchen gekannt. Die mussten heimlich stattfinden. Im Haus der Großeltern war er nicht gelitten.Dann nach Kriegsende mit der Mutter wieder zurück nach Italien und 1953 erneut nachDeutschland.Wechsel der Sprachen und mancher Gewohnheiten. Kinder passen sich ja rasch an, sagt man. Welche Verunsicherungen das trotzdem zur Folge hat, darüber haben meine Eltern kaum nachgedacht . . . konnten sie in dieser wirren Zeit wahrscheinlich nicht. Er stand auf. Einnächstes Mal!
Bei einem der nächsten Male wurde er tatsächlich deutlicher, erzählte von seinen Schuljahren in einem Dorf bei Gaggenau. Der Vater habe in einem größeren Unternehmen gearbeitet. Den Namen nannte er nicht. Aus Vorsicht? Auch auf diese Weise rundete sich für mich allmählich das Bild seiner Kindheit.
Ich streifte mit Schulkameraden durch den Wald. Wir bauten Hütten und stauten kleine Bäche, spielten Räuber und Gendarm. Zurück in Italia – ich war inzwischen fast dreizehn stand die Schule obenan, und ich war wieder einmal Fremder in der Clique. Mit meinem deutschen Akzent fand ich erst allmählich Anerkennung, nachdem ich mit Kumpanen Schulstunden geschwänzt, geraucht hatte wie sie – er grinste und den Mädchen an der Haushaltungsschule gegenüber nachgestellt hatte.
Er wischte mit der Hand über die feuchte Bank und wechselte auf die abgetrocknete Stelle.
1953 kam ich endgültig nach Deutschland, inzwischen siebzehn. Papa hatte in Mannheim Arbeit gefunden, ich die Schule in Italien abgeschlossen und bald eine Lehrstelle – Elektromechaniker! Ein Leben in verschiedenen Sprachen: zu Hause Italienisch, im Werk Kurpfälzer Dialekt, Deutsch nach der Schrift in der Berufsschule - er lachte - war nicht nur meinProblem. Dann richtete er sich auf, wies Richtung Süden: Da hinten liegt irgendwoItalia - Piemonte - mein Dorf!
Weshalb habe ihn die Familie seiner Mutter so sehr abgelehnt, wollte ich wissen. Immerhin war der Vater Ingenieur.
Ich werde dir das erklären. Für den nonno war er ein Nichts, Kind einer Arbeiterfamilie in Turin. Dort hatte er morgens vor der Schule Zeitungen ausgetragen. Die Familie brauchte das Geld. Aber was nach dem Schulabschluss? Arbeiterkinder machten gewöhnlich dasselbe wie ihre Väter und Mütter: irgendwo malochen, ohne Ausbildung. Also suchte sich Papa eine Arbeit. Die fand er in einer officina del fabbro, also in einer Schlosserei. Die Ablehnung blieb, obwohl er Abendkurse belegt hatte, um die Aufnahmeprüfung am Istituto professionale für Techniker zu bestehen. Aus der Prüfungskommission hat sich dann einer für ihn interessiert. Ich meine mich zu erinnern, dass Papa gesagt hat, der Mann sei Mitglied der Partei Mussolinis gewesen.
Umberto holte Luft.
Heutzutage egal, jedenfalls verschaffte er ihm ein stipendio und Papa konnte die Media professionale für Technik besuchen, wurde Werkzeugmechaniker. Für ihn ein erster Schritt, denn er träumte davon, Ingenieur zu werden. Zuvor Praxisjahre in einer kleinen Fabrik - Familienbetrieb -, des Verdienstes wegen, so schmal er auch gewesen sein mag. Mit Beginn seines Studiums schloss er sich den Faschisten an Umberto schnäuzte sich ausgiebig - vielleicht aus Dankbarkeit, aber jedenfalls mit Aussicht auf bessere Berufschancen. Die Faschisten förderten Techniker.
Und die landeten zu nicht geringer Zahl in Germania, warf ich ein.
Mama mit mir bald auch, Roland! Wie ich vorhin schon sagte: Ich war sechs, und sie wollte, dass ich einen Vater habe. . . . Und jetzt komm!An mir kriecht langsam die Kälte hoch.
Wir gelangten auf die Saumstraße am Hang. Nach wenigen Metern blieb Umberto unvermittelt stehen, beugte sich über die Stöcke. Auf einem Weinfest hatte er meine Mutter kennengelernt, das muss 1935 gewesen sein. Das Resultat war ich im August 1936.Ende April haben sie auf Betreiben von Mamas Eltern in einer abgelegenen Kapelle geheiratet. Noch am gleichen Abend musste die schwangere Tochter mit ihnen zurück in ihr Heimatdorf. Papa fuhr nach Turin.
*
Das war an einem Donnerstag. Am folgenden Sonntag hat er angerufen. Roland, morgen wird das nix. Am Nachmittag bin ich beim Doktor. Ein kurzfristiger Termin, sonst hätte ich dich früher verständigt. Ich melde mich danach. Er stockte, ich hörte sein Atmen, dann sagte er grazie per la ultima volta und legte auf.
Er hätte an der Tür läuten können, doch er griff zum Telefon. Was ist mit ihm? - Anzeichen körperlicher Schwäche, auch nur einer vorübergehenden, waren mir nicht aufgefallen.
Auch am folgenden Mittwoch rief er an. Roland, nächste Woche bin ich im Klinikum. Mir steht eine kleine OP bevor. Einer der oberen Rückenwirbel blieb im CT deutlich heller alsdie anderen. Der Orthopäde schließt auf einen Tumor. Er müsse ja nicht zwangsläufig bösartig sein, aber es sei unerlässlich, eine Probe zu entnehmen. Nur ein paar Tage bleibe er dort. Was danach komme, müsse er eben abwarten. Er sagte auch, dass es ungewiss sei, wann wir wieder zusammen unsere Runden gingen. Er wolle aber nicht was auch sein würde! - auf meine Gesellschaft verzichten. Es sei an der Zeit, dass wir uns bei ordentlichem Tee träfen.
Das Treffen würde wohl außerhalb stattfinden, nahm ich an und schaute mich in der Stadt um, bestellte in zwei Cafés zur Probe Schwarztee. Die Bedienungen fragten nicht einmal, welche Sorte es sein dürfe und stellten ein Glas mit heißem Wasser vor mir ab. Den Teebeutel hatte ich selbst einzutauchen – für zwei Euro achtzig. Nach dieser Erfahrung schwankte ich zwischen einem Kaffee-Haus mit vor Ort gebrannten Sorten - Tee hielt ich nach meiner bisherigen Erfahrung für reinen Nepp - und einem Szene-Café in der Nähe des Theaters. Jeder Stuhl ist hier anders, die Tische sind gescheuerte Massivholzplatten auf Stahlrahmen, dazwischen Gummibäume und Philodendron. An den Wänden Plakate von Theaterproduktionen der letzten zehn Jahre und als musikalischer Hintergrund Ella Fitzgerald, Frank Sinatra, das Modern-Jazz-Quartet und Jacques Loussier. Der Tee meiner Wahl kam aufgebrüht im Kännchen, die Tasse war vorgewärmt. Das sollte es doch sein!
Es kam anders.
Nach dem Läuten nehme ich den Hörer der Sprechanlage ab: Straßengeräusche. Zaghaft klopft es an die Tür: Umberto! Heute in braunem Jackett und hellem Rollkragenpulli. Mit schwungvoll-eleganter Handbewegung weist er auf seine offenstehende Wohnungstür und verbeugt sich. Signore Ruf, per favore, es ist angerichtet!
Ich folge ihm wie ein Kind, das die Weihnachtsstube betreten darf. Der Blick aus dem Korridor fällt übergangsfrei in das Wohnzimmer - wie bei mir, nur seitenverkehrt - und dort auf ein mächtiges Buffet aus Nussbaum, zur Mitte hin in einer besänftigenden Welle geformt. Umberto lässt mir den Vortritt. Ein großer Orientteppich verschluckt den Schritt. Auf einem Marmortischchen die Etagère mit Keksen und Kuchenstückchen. Er weist mir den Platz auf einem der grünsamtigen Sessel vor der Balkontür zu. Ich hätte mich lieber nebenan auf das Sofa gesetzt.
Nimm bitte Platz, sagt er, geht in die Küche und kommt mit einer bauchigen gläsernen Teekanne zurück, die er auf einem Réchaud abstellt. In der Kanne ein kupferrot schimmernder Tee.
Im Raum gedämpftes Licht. Die dunkelgrünen Samtvorhänge sind so weit zugezogen, dass nur ein schmaler Spalt für das Tageslicht bleibt.
Während er mit Streichhölzern und Teelicht hantiert, gewahre ich schräg hinter mir ein Glasschränkchen, dekorativ über Eck gestellt, angefüllt mit weiteren Teilen des Services und zwei Porzellanfigürchen. Davor ein Läufer, Seide geknüpft, den beiden blauen Drachen nach chinesisch.
Blau, Braun, Grün, diese Farbtöne bestimmen den Raum. Das gehobenabürgerliche Ambiente hätte ich ihm gar nicht zugetraut, dem Herrn Elektroingenieur.
Ein Durchlass öffnet die Sicht zum Esszimmer. Darin einzig ein Tisch, mächtig wie das Buffet und umstellt von Stühlen mit Lederbezug. Auf der spiegelnden Politur der Tischplatte mittig ein Spitzendeckchen, darauf eine chinesische Vase mit Seidenrosen. Und kein Stäubchen!
Der Orientteppich ist es, der das Wohnzimmer beherrscht, ein Prachtstück, quadratisch und groß! Das innere Feld in gedecktem Rot, darin kreuzförmige ornamentale Gebilde, hell konturiert, im Wechsel mit dunklen Blüten in naturfarbiger Umrahmung. Ein umlaufendes breites Bordürenband wiederholt in Variationen die inneren Blüten. Orientteppiche faszinieren mich und dieser allemal. Während Umberto das Teelicht anzuzünden versucht, beobachtet er mich. Ein Täbriz, sagt er über das nächste verglimmende Streichholz hinweg. Von einer Reise mitgebracht. Hanna kam im Bazar nicht an ihm vorbei.
Hanna hieß sie also, seine Frau. Und offenbar reisten beide gerne. Sie konnte sich für Formen und Farben des Orients begeistern. Umberto weist auf die Wand hinter dem Sofa. Tatsächlich, drei Rollbilder mit japanischen Landschaften, die ich im Dämmerlicht nicht beachtet habe.
Alt?, erkundige ich mich aus Höflichkeit.
Hm! Für die angefertigt, die Derartiges unbedingt im Original besitzen wollen, sagt er und reibt das nächste Streichholz an. Er sei schon froh gewesen, dass es nicht der Fudschijama sein musste.
Aha, da gab es also eine ästhetische Grauzone zwischen Hanna und ihm, und, als könne er meine Gedanken lesen, fügt er an: Hanna entstammt einer ausgesprochen bürgerlichen Familie.
Und nun erfahre ich, nur das humanistische Gymnasium, ein kirchliches, sei für Hanna infrage gekommen, anschließend habe sie jedoch weder Theologie noch alte Sprachen studiert, sondern zur Verwunderung der Eltern Pharmazie . . . und heiratete einen Ingenieur mit Fachschulabschluss.Stell dir vor er lacht zudem Italiener! Sein Arm schwenkt über das Inventar. Die Möbel sind ihr Erbe. Bis zum Tod der Mutter haben wir uns mit der Einrichtung vom Discounter zufrieden gegeben, hatten ja auch andere Projekte. . . . Und nun lass’ dir bitte Tee einschenken und nimm von dem süßen Plunder, wenn dir danach ist. Mir steht der Sinn nicht nach Süßem!
Du denkst an die Tage in der Klinik?, frage ich vorsichtig.
Die Hand, die die Kanne hält, zittert. An die denke ich, muss ich fortwährend denken. Man hat mir mitgeteilt, dass ein bösartiger Tumor an meiner Wirbelsäule sitzt.Klein, aber fein!, meint er sarkastisch. Nächste Woche beginnt der Zauber – Bestrahlungen oder Chemotherapie. Das Programm habe ich noch nicht vollständig begriffen. . . . Aber sprechen wir von anderem! Er setzt die Kanne ab.
Mich interessiert, wie und womit du dich in deinem Alleinsein eingerichtet hast. Sag’ mir zuvor, woran deine Frau gestorben ist. Hatte sie auch Krebs? - Hanna hatte Krebs. Vor acht Jahren ist sie gestorben.
Rita nicht, antworte ich nüchtern auf seine erste Frage nach meiner Vergangenheit. Ein Verkehrsunfall! Ihr Wagen ist ausgebrannt.
O Gott! Wie schrecklich! So ein Tod trifft ja völlig unvorbereitet! Wann war das?
Vor fast fünf Jahren.
Du wohnst aber nicht einmal zwei Jahre nebenan. Wo warst du in der Zwischenzeit?
Ein halbes Jahr bei meiner jüngeren Tochter in Mittelamerika. Das tat gut, aber die Rheinebene war stärker. Ich kam zurück, bin von Bruchsal nach Bühl umgezogen und schließlich in diese Stadt. Jetzt geht es mir besser. Und sollte mich die Einsamkeit einholen, rufe ich in San José an, buche einen Flug ab Zürich und fliege zu meiner Tochter. Mein Schwiegersohn ist ein lieber Kerl und Odile, meine Enkeltochter, ein reizendes kleines Mädchen, das sich auf den Opa freut.
Mit der Teetasse auf dem Unterteller lehnt sich Umberto auf der Couch zurück: Wie schön, wenn man Kinder und sogar Enkelkinder hat!
Mein Mund fühlt sich mit einem Mal so trocken an. Ich schenke nach. Was ist das, was wir genießen?, weiche ich weiteren Fragen aus.
Ein roter Assam. Nachdem ich ‚Nachtzug nach Lissabon’ gelesen hatte, musste ich ihn mir besorgen. Im Roman ein Getränk für sehr persönliche Situationen. Man kann sich an diesen Tee gewöhnen.
Daraufhin sieht er mich mit einem Blick an, den ich bis zu diesem Moment noch nicht an ihm wahrgenommen habe: mild, fast kindhaft-naiv.
Du ahnst zu Recht, ich lese nicht viel, aber das Buch hat mich gefesselt, zumal ich Lissabon einigermaßen kenne. War mehrfach mit Hanna dort. Ist ja nicht so weit, nur zwei Flugstunden - und die Stadt für ein längeres Wochenende allemal gut.
Ach ja? Von dem Buch habe ich gehört, sage ich. Lauter begeisterte Leser bis auf einen, der meinte: zu philosophisch!
Für dich?
Nein, für ihn! Angeblich kam er über hundert Seiten nicht hinaus. Ich kann das ja nicht beurteilen, müsste das Buch zuvor wenigsten anlesen.
Du solltest es lesen – und zwar vollständig!
Umberto stellt die Teetasse zurück. Wird er gleich das Buch holen? Nein, er bleibt, sieht mich merkwürdig ernst an.
Roland, mir scheint, dass du schreibst! sagt er streng, als habe er mich bei Unzüchtigem ertappt. Ich sehe täglich die Reflexe des Bildschirms deines Computers im Fenster. So viel Post wirst du nicht zu erledigen haben. Vermute ich richtig?
Du vermutest richtig, gestehe ich verlegen. Und nun möchtest du wohl erfahren, woran ich bin, was ich mit dem Geschriebenen vorhabe?
Selbstverständlich habe er sich das gefragt, erwarte aber keine Antwort. Die könne er sich selbst geben. Seiner Vermutung nach arbeite ich auf, was ich erlebt habe. Weshalb solle das einer in unserer Lage nicht tun? Und seit heute wisse er, dass Grund dazu besteht. Das Gehen mit Stöcken kann ja wohl kein Lebensinhalt sein, sagt er und schenkt sich Tee nach. Nimmst du nichts Süßes?
Ich greife nach einem Haferkeks. Den werde ich wohl vertragen.
O Himmel! Was tue ich nun damit? Ich wollte dir das Zeug schon mitgeben. Stell’s den Putzmännern vom Hausmeister-Service auf die Treppe!
Er schlägt sich auf den Schenkel: Kekse und Törtchen?Doch lieber Bier und Schinkenbrote für das Team.
Vorsicht mit den Schinkenbroten und dem Alkohol!, mahne ich. Mindestens einer wird Muslim sein und ein anderer vegan.
Aus unserem Gelächter heraus steht er plötzlich auf, geht aus dem Zimmer und kehrt mit einem dicken braunen Briefumschlag zurück, DIN A4-Format und gebraucht. Er legt das gut gefüllte Kuvert neben sich auf das Sofa.
Roland, sagt er schließlich bedeutungsvoll, darin sind Notizen: frühere Erinnerungen und nun auch aktuellere.
Ach, deshalb hat er sich nach meiner Beschäftigung erkundigt! Gesehen und erlebt hat er wahrscheinlich mehr als ich.
Material zur Aufbereitung in einem längeren Text?, frage ich.
Ich kann das gewiss nicht so wie du. Umberto zögert, streicht beinahe zärtlich über das Kuvert. Ich möchte es dir gerne überlassen und dich bitten, meine Aufzeichnungen zu sichten. Bleibt mir noch Zeit, will ich mit dir darüber sprechen, was damit geschehen könnte. Wenn nicht, weiß ich meine Aufzeichnungen in guten Händen und gebe dir jede nur erdenkliche Freiheit, damit zu tun, was du für richtig hältst. Kinder habe ich ja keine! Das sagt er ohne sentimentalen Anklang und schiebt mir das Kuvert über den Tisch zu.
Ein ganzes Leben auf Notizzetteln in einem Kuvert? Mich beschleicht ein Gefühl zwischen Mitleid und Neugierde. Er rechnet wohl mit allem! Was soll ich nun tun? So entschieden er auch meine Verfügungsrechte hervorgehoben hat, er fehlte als Ansprechpartner. Ich hätte zu interpretieren, müsste raten, mich um Zusammenhänge mühen. Die Last, die er mir aufträgt, wiegt schwer, viel schwerer als ein gefülltes Kuvert. Ich muss zunächst gelesen haben, bevor ich mich entscheide.
La prossima volta!, rette ich mich mit seiner eigenen Floskel. D’accordo!, sagt er. Così la busta resta da te, senza il rischio di una decisione. Also hat er mich durchschaut.
*
Das risikolose nächste Mal gab es nicht. In kurzen Abständen folgten unzählige Stunden Chemotherapie oder Bestrahlung im Klinikum. Über Wochen ging das so. War er da, lief der Fernsehapparat von morgens bis abends. Selten begegnete ich ihm im Treppenhaus: eine Strickmütze auf dem kahlen Schädel, die dunklen braunen Augen von grau schimmernden Ringen unterlegt, die Nase lang und spitz – wie ein Ausrufezeichen im Gesicht -, seine schlanke Gestalt gebeugt und abgemagert, langsam in den Bewegungen. Den grünen Nylonbeutel in der Hand, stand er vor dem Aufzug. So ist es! meinte er und betrat den Lift. Die Tür begann sich zu schließen. Durch den sich automatisch verengenden Spalt rief er mir zu: Ciao, alla prossima!
Nach Monaten keine Spiegelung seines Fernsehbildes mehr, kein Aufeinandertreffen im Haus und eine ungewohnte Stille in der Nachbarwohnung!
An einem Vormittag nahm ich Geräusche im Hausflur wahr. Die Tür zu Umbertos Wohnung stand offen, drinnen Stimmen zweier Männer. Ein dritter, mir fremd, aber im Arbeitsdress unseres Hausmeister-Dienstes, trat mit Reinigungsgerät aus dem Aufzug. Wir machen Vorreinigung, dann kommen Frauen von Spedition, wir anschließend nochmal, sagte er, als habe er mir eine Begründung zu liefern.
Aus der Wohnung trat einer der beiden Putzmänner zu uns, die wöchentlich das Treppenhaus reinigen. Achselzuckend meinte er: Spezialauftrag, Nachbar zieht aus!
Ein Umzug ist noch nicht das Ende, dachte ich. Doch so, wie Umberto zuletzt aussah, ist nichts auszuschließen.
Arrivederci Roland!Forse tra due settimane, forse tra un mese. Chi lo sa?, hatte er vor Wochen stoisch auf der Treppe gesagt.
Die zu erwartende Nachricht erreichte mich weder nach zwei Wochen, noch nach einem Monat, jedoch nach der Räumaktion der Anruf eines Immobilienmaklers. Ob er mir den Schlüssel zur Nachbarwohnung überlassen dürfe? Er habe Interessenten, die könne er aber bei kurzfristig angesetzten Besichtigungsterminen nicht in jedem Fall begleiten. Ob ich vielleicht so freundlich wäre . . . Ich wollte es nicht sein. Hören Sie! Wer verdient damit das Geld, Sie oder ich?, sagte ich und legte auf.
Tage später eine weibliche Stimme am Telefon. Anwaltskanzlei Röder & Röder, guten Morgen! Sie sprechen mit Beate Schmidt. Einen Moment bitte, ich verbinde zu Herrn Rechtsanwalt Doktor Röder. - Minuten vergingen bei Mozartklängen, bis der Herr die Akte zur Seite gelegt hatte und das Gespräch übernahm. Minuten, in denen ich davon ausging, dass der Makler versucht, Druck auf mich auszuüben und seinen Hausanwalt vorspannt.
Er habe es übernommen, sagte Doktor Röder, die Interessen von Herrn Hubert Fallini zu vertreten, der nach Italien verzogen sei. In der Akte habe er bislang die Gesprächsnotiz seiner Sekretärin übersehen, die laute: Bitte auf nachdrücklichen Wunsch von Herrn Fallini, seinen Nachbarn, Herrn Roland Ruf, nach Abreise verständigen.Sorry Herr Ruf, in all der Termindichte kann das leider vorkommen. Sie verstehen?
Selbstverständlich verstand ich und erfuhr, dass Umberto nach Vignole di Arco im Trentino verzogen sei. Dort besitze er ein Haus, fühle sich zwischen Landsleuten wohler als hier unter Fremden und finde Versorgung in der Onkologie des Klinikums von Rovereto. Ich könne ihn erreichen unter 0039-464- . . . . . . Ich danke für Ihr Verständnis, sagte der Anwalt und legte auf. Ein Freundschaftsdienst steht wahrscheinlich nicht in der Gebührenordnung.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich Umbertos Notizen lediglich durchgesehen und nach dieser Mitteilung konnte ich mir sein Verschwinden einigermaßen erklären: einerseits das Ende vor Augen, andererseits die Schönheit dieser Welt und das von ihm mehrfach erwähnte Haus in einem Teilort von Arco mit Sicht auf die Burg über dem Olivenhain, von Albrecht Dürer so trefflich gezeichnet. Gelegentlich hatte mir Umberto vom Haus in Vignole erzählt, von der gewundenen Straße hinauf zum Plateau bei Santa Barbara, oberhalb von Ronzo, mit den K.-u.k.-Schützengräben aus dem Ersten Weltkrieg, den Gipfelhang des Monte Stivo im Rücken und vor sich den weiten Blick über den Gardasee. Er schwärmte von Spaziergängen mit Hanna in dieser gewiss wunderschönen Berglandschaft und von den Touren, die sie in die weitere Umgebung unternommen hatten.
Beim Erinnern verspürte ich Lust, meine Tasche zu packen, ein Bahn-Billet zu buchen und unangemeldet bei ihm aufzukreuzen. In seinem Haus würde es wohl – meinetwegen unter dem Dach zwischen abgestelltem Gerümpel - ein Nachtlager für mich geben. Leider bin ich, das will ich gestehen, zu derartigen Aktionen nicht fähig. Mit Rita wäre das anders gelaufen. Sie hätte im Internet nach einem Hotelzimmer gesucht und wir hätten uns ins Auto gesetzt. Das mute ich mir inzwischen nicht mehr zu.
*
Ein Jahr ist seitdem vergangen. Nun habe ich gelesen und Umbertos Geschichte hat mich nicht mehr losgelassen. So manches bleibt mir rätselhaft. Ich müsste ihm Fragen stellen können, um über seine Antworten durchgängige Strukturen zu finden.
Immer wieder sind italienische Redewendungen eingebaut, die ich mit Hilfe des Wörterbuchs der Spur nach verstehe. Sie wirken zunächst floskelhaft, doch erkennbar ist die Absicht, mit dem Kolorit des Italienischen die Authentizität hervorzuheben. Schließlich die Sprünge vom Episodischen zu Zeiträume überstreichenden Schilderungen. Mir liegt dieser Stil, doch es macht einen Unterschied, ob ich aus eigenem Erleben berichte oder den Gedankenbildern eines anderen folge. Über manchen Textstellen liegt ein Schleier aus Andeutungen. In andere hat er in winziger Schrift Ergänzungen einfügt, Korrekturen vorgenommen, mit Querverweisen die Zeitfolge durchbrochen.
Solange ich nicht klar sehe, wohin sich seine Gedanken in diesen Passagen bewegen, wäre der Versuch, einen zusammenhängenden Text zu schreiben, ein Kartenhaus.
La linea è occupata! Nel caso che . . . die Stimme auf dem Anrufbeantworter. Hat er den Stecker gezogen? Jedenfalls bekam ich ihn nicht ans Telefon. Mit Blick auf die Fülle seines Materials konnte ich dem Reiz trotzdem nicht widerstehen, in diese andere Personalität zu schlüpfen, um nachzuvollziehen, was einer empfindet, der einen historischen Bruch durchlebt hat und seine Identitätsfindung als Kind und Jugendlicher abrupt wechselnden Bedingungen anpassen musste.