. . . vor allem auf Reisen - Roland E. Ruf - E-Book

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Roland E. Ruf

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Beschreibung

In neun Erzählungen nimmt uns der Autor mit auf die Reise, u.a. nach Sardinien, Kuba, Rom und Lissabon. Neun Reisen abseits der Prospekte, zu Orten, die langsam ihre spezifische Atmosphäre entfalten, zu Menschen, die jeder Erzählung ihre eigene Tiefe geben. Authentisch, kenntnisreich und mit Humor werden die Reisewege der Protagonisten geschildert, die durch scheinbar Beiläufiges, durch Überraschungen und Zufälle zum eigentlichen Erlebnis werden. Einem Erlebnis, das als Kostbarkeit bleibt, weit über die Reise und Lesezeit hinaus.

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Seitenzahl: 158

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Der Autor

Roland E. Ruf * 1939

lebt und arbeitet in Freiburg im Breisgau

www.roland-e-ruf.de

Roland E. Ruf

… vor allem auf Reisen

Erzählungen von Orten und Menschen

© 2021 Roland E. Ruf

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Gestaltung und Illustration: Inge Reuter-Eck

Fotografien:

© Inge Reuter-Eck und Volker Eck

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-36359-5

Hardcover:

978-3-347-36360-1

e-Book:

978-3-347-36361-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Unterwegs zu noch unbekannten Orten zu sein, die man in irgendeiner Weise schon in sich trägt, auch zu solchen, an denen man schon einmal war, ist mit der Erwartung von Begegnung verbunden. Die hänge davon ab, wer wir in dem Augenblick sind, in dem wir diesen Ort und seine Menschen erreichen, denn ein Ort sei niemals nur „dieser“ Ort, teilt uns Antonio Tabucchi mit. So ist er mir ein beständiger Begleiter geworden … vor allem auf Reisen.*

Roland E. Ruf

* vgl. Antonio Tabucchi Reisen und andere Reisen, München 2018 bei dtv

Ein Pfahl ragt vor Wasser und Himmel aus dem Sand des Strandes in das milchige Licht der Dämmerung. Der Tag beginnt oder endet. Wer könnte das auf einer unscharfen Aufnahme erkennen, die den Rändern zu in der Schwärze einer Unterbelichtung endet? Dennoch ist das Meer vom Himmel zu unterscheiden. Im mittleren Bildbereich eine graue diffus gekräuselte Fläche, darüber der Himmel, deutlich heller und von Schleierwolken durchzogen. Hat sich das Auge an die schemenhafte Abbildung gewöhnt, entdeckt es im Vordergrund feuchten Sand. Zum Greifen nahe, seine feine Körnigkeit von überspülenden Wellen in erstarrter Bewegung modelliert. Aus ihm weist der dunkle Pfahl gegen den Himmel, ausgewaschen und ausgefegt von den Elementen, die Struktur des Holzes in grafischer Zeichnung dem Auge angeboten. Ein Angebot, das es im Kontrast zu verschwimmenden Graustufen gerne annimmt. Jetzt entsteht das ganze Bild.

In seiner Schlichtheit ist es auf Ahnung und Empfinden angewiesen - zeichenbesetzte Einsamkeit, Vergehen. Der Betrachter ein Traumverlorener, der seinem Auge den Wimpernschlag untersagt.

Diese Nachwirkung eines Berichtes in ARD-Alpha über die Arbeiten des Fotografen Günter Derleth mit der Camera Obscura ist mir geblieben. Ob ich das Bild so gesehen habe, wie ich es beschreibe, kann ich nicht mit Genauigkeit sagen. Es ist die Eigentümlichkeit einer Aufnahme mit der Lochkamera, die Unschärfe zu einem von der Fantasie zu ergänzenden Bild zu machen. Ein scharf gezeichneter Bereich in der Mitte gibt Anlass, das Motiv zu deuten. Und dieses Deuten ist letztendlich von Stimmungseindrücken und Seherfahrungen des Betrachtenden abhängig. Kein Wunder also, wenn er hernach eher seine Wahrnehmung wiedergibt, als exakt zu beschreiben, was wirklich auf dem Foto zu sehen ist.

Dies sei den nachfolgenden Erzählungen vorangestellt.

Im August 2021

I

Alcafache

Der Spanische Weg

Fabrizio

Ulica Walecznych

Sardinien auf Nebenstraßen

Alcafache

Was wusste ich von Portugal? Ein Streifen auf der Karte neben dem großen Spanien, im Geschichtsbuch unter Beginn der Neuzeit erwähnt. Der Lehrer hatte eine Weltkarte am Kartenständer abgerollt und war mit dem Zeigestock den neuen Seewegen der Portugiesen um Afrika bis Indien und über die Kapverdischen Inseln im Atlantik nach Südamerika gefolgt. Das Marienwunder von Fatima war das Lieblingsthema der Religionslehrerin.

Schulwissen eines Dreizehnjährigen im Jahr 1953, der sich angesichts der Weltkarte vornahm, später das kleine, ihm rätselhafte Portugal zu erkunden, das so weitläufige Verbindungen über Meere geschaffen hatte, jedoch auch im Geographie-Unterricht kaum vorkam, außer als Lieferant von Flaschenkorken, Fischkonserven und Portwein.

Und nun hat Franziska angerufen, meine jüngere Tochter. Sie ist nach Jahren in Costa Rica mit Mann und Kind zurückgekehrt. Übergangsweise lebt die kleine Familie bei den Schwiegereltern im Elsass. Sie brauchen alle drei erst einmal Urlaub, bevor über neue Arbeitsplätze entschieden wird und damit auch über ihren künftigen Wohnort.

Urlaub wie damals, als Anna und sie bei Maria, Mamas Schwester, Onkel Jens und dem kleinen Mario am Meer in Frankreich geblieben waren, während Rita und ich von dort aus eine Woche durch den Norden Portugals reisten. Wo genau der Campingplatz gewesen sei, möchte Franziska jetzt von mir wissen. Ihrer Erinnerung nach habe er an einem See gelegen und es war nicht weit zum Sandstrand am Meer. Sie habe auf der Karte nachgesehen und meine, das könne bei Biscarosse Im Département Landes gewesen sein. Dort habe es ihr so gut gefallen, dass sie nun in glückliche Momente ihrer Kindheit zurück möchte und vielleicht auch mit Mann und Tochter unseren Spuren nach Portugal folgen. Da könne sie jedoch nur rätseln, wir hätten ja nie berichtet, was wir dort erlebt haben.

Auch das stimmt! Die Reise nach Portugal ist mir nur fleckenhaft in Erinnerung geblieben. Was werde ich Franziska nach so langer Zeit erzählen? - Auf jeden Fall von Alcafache!

*

1979

Mit gemischten Gefühlen haben wir die Töchter zurückgelassen. „Kein Problem!“ meinte Maria. „Erkundet den Norden Portugals, wie ihr es euch vorgenommen habt. Uns belasten die beiden Mädchen nicht - im Gegenteil! Mario freut sich schon auf das Schlafen im Kinderzelt, er kennt seine Cousinen ja nur von Familienfesten. Anna hat übrigens schon mal vorsichtig nachgefragt, ob wir ihr das Geld für einen Bikini vorstrecken könnten.“ Franziska ist acht, Anna elf und braucht nun einen Bikini! Die Pubertät lächelt über den Sandstrand – und die Eltern sind unterwegs.

*

Es ist heiß in Portugal, im Norden brennen die Wälder stellenweise lichterloh. Eukalyptus-Gehölz! Das knallt beim Hochbrennen, stößt Schwärme von Funken aus. Die Feuerwehr ist machtlos und leitet den Verkehr aus der Risikozone. Irgendwo auf der von Umleitungen bestimmten Route lesen wir auf dem Thermometer 41 Grad.

Doch die Hitze scheint nicht nur von außen zu kommen. Von der Rundfahrt - eher einem Slalom - zurückgekehrt auf den Campingplatz in Viseu, muss ich mich hinlegen. Der Kopf schmerzt und mir schwindelt. Rita packt schweigend das Fieberthermometer aus und steckt es mir in den Mund - 39,5 Grad!

„Wir übernachten heute nicht im Zelt, suchen uns ein Hotelzimmer! Ich erkundige mich nach einem Arzt, oder wenigstens nach einer Apotheke. Im Hotel mache ich dir kalte Wadenwickel aus unseren Handtüchern und du bleibst im Bett bis das Fieber gesunken ist.“

Sie packt unsere Siebensachen, bringt die Taschen ins Auto. Ich taumele auf den Beifahrersitz. Nach kurzer Strecke entdeckt sie eine Apotheke, hält am Straßenrand, streicht mir über die Stirn. „Oh je Roland, ich werde besser gleich nach einem Hospital fragen“, meint sie und steigt aus.

Mir ist alles recht, aber in ein Krankenhaus? Wie soll ich mich ohne sie verständigen? Rita spricht Englisch und Französisch, ich nicht. Mit beiden Sprachen kommt man durch in Portugal, das haben die zurückliegenden Tage gezeigt. Mit diesen Überlegungen dämmere ich auf dem Beifahrersitz, lasse den Arm zum offenen Fenster hinaushängen und will nur noch eines - schlafen!

Rita kommt mit einer Wasserflasche, einem Plastikbecher und einer Medikamentenschachtel. „Zwei Tabletten gleich, in einer Stunde wieder Fieber messen, und wenn das Fieber noch immer so hoch sein sollte, dann ins Hospital.“ Sie kramt einen gefalteten Zettel aus der Hosentasche. „Das ist die Wegskizze - und jetzt schluckst du zuerst einmal die Tabletten mit viel Wasser, dann sehen wir weiter.“

Die Tabletten schmecken bitter - Aspirin? Die Flasche trinke ich fast aus. Danach merke ich noch, dass wir fahren. Wohin? Hauptsache wir fahren und ich spüre den Wind. Alles andere ist mir egal.

Ich komme zu mir. Rita steht vor einem hohen Haus bei einer älteren Dame, die ihr, den Gesten nach, etwas erklärt. Ein Krankenhaus? Ich öffne die Autotür. „Bleib!“, ruft Rita herüber. „Wir parken gleich auf dem Hof und du misst Fieber.“ Nach Krankenhaus sieht es hier nicht aus, eher nach Hotel.

38,4 Grad - wir bleiben! - holen das Nötigste aus dem Kofferraum. Die Dame an der Rezeption reicht Rita den Schlüssel für ein Zimmer auf der zweiten Etage.

Ich möchte duschen. Hinter einem Vorhang nur ein kümmerliches Waschbecken. „Morgen bekommen wir ein anderes Zimmer“, beschwichtigt Rita. „… eins mit Bad. Jetzt nimm halt mal mit dem Waschlappen vorlieb.

Ich richte inzwischen die Tabletten und du gehst gleich ins Bett.“

Der Hahn am Waschbecken tröpfelt. Beim Aufdrehen kommt eine warme, bräunliche Brühe. Die stinkt nach Schwefel! Zum Zähneputzen verwende ich das mitgebrachte Mineralwasser, schlüpfe ins Bett … und dann weiß ich nichts mehr.

Am Morgen habe ich nur noch leicht erhöhte Temperatur. Auf dem Weg zum Frühstücksraum treffen wir die Dame von der Rezeption. Zum Problem mit dem Leitungswasser, auf das wir sie ansprechen, meint sie - Rita übersetzt sinngemäß -, das Problem hätten hier alle! Das Haus gehöre zu einem Thermalbad, das die heilkräftigen Quellen nutze. Zum Reinigen der Zähne verwende man im Haus auch Mineralwasser. Außerdem hätten wir Glück gehabt, dass gestern das kleine Zimmer überhaupt noch frei gewesen sei. Wir würden ja nachher in ein größeres mit Bad wechseln. Ob ich noch Fieber habe? Ritas „just a little bit“ verstehe ich. Unser Zimmer sei übrigens bereits wieder vergeben. Während der Sommerwochen sei das Haus belegt.

Rita hat Halbpension gebucht und ich habe keinen Appetit. Zu frühstücken sei aber notwendig, meint sie. Erst ab 19 Uhr könnten wir Abendessen bekommen.

Im Frühstücksraum stehen etwa zwanzig Vierertische – fast alle besetzt. Das Mädchen am Zugang knickst in altmodischer Höflichkeit, notiert unsere Zimmernummer und weist uns einen Tisch in der Fensterecke zu. Wir durchqueren eine Schar kauender, aus großen Tassen schlürfender alter Menschen. Grauköpfe wohin man blickt, vorwiegend Frauen und nur vereinzelt ein Mann. Man wendet sich nach uns um, mustert uns. Wir grüßen nach allen Seiten. An dem zugewiesenen Tisch sitzen bereits zwei Personen - zu unserer Überraschung jüngere: Ein kräftiger Mann, etwa vierzig - also etwa in unserem Alter -, der uns zuwinkt, und eine füllige Blondine, die eher schüchtern wirkt und an einer getoasteten Brotscheibe säbelt.

„Hallo, bin Manuel und das ist Maria, mein Weib!“ sagt der Mann in flüssigem Deutsch und streckt uns seine kräftige Hand hin. Unsere Überraschung richtig deutend, bekommen wir sogleich erklärende Auskünfte: Manuel arbeitet seit zwanzig Jahren bei einem Chemie-Unternehmen im Raum Wiesbaden-Mainz und zwar im Bereich der Herstellung von Folien. Maria spreche wenig Deutsch, sie stamme aus seinem Heimatdorf hier in der Nähe und lebe erst seit zwei Jahren in Deutschland. „Im Hessische bei Appelwoi un Klääß mit griner Sooß“, grinst er. Maria winkt müde ab. Die Scherze ihres Gatten versteht sie ohne Deutschkurs. Für den habe sie auch keine Zeit mit zwei kleinen Kindern, merkt sie stockend an, vom Gemahl mit eingeworfenen deutschen Wörtern aus vollem Mund unterstützt. „Und die sind bei Marias Mutter im Dorf. Deshalb müssen wir uns jetzt beeilen“, ergänzt Manuel.

Ein Hausmädchen in blauer Kittelschürze huscht lautlos zu uns an den Tisch und sieht mich fragend an. „Please tea!“ stottere ich. Hilfloses Lächeln, knicksen und nach hinten zur Kollegin: „Rosa …?“ Rosa kommt und wendet sich in flüssigem Englisch an Rita! Kurz gesagt: Es gibt nur Milchkaffee aus einer großen Blechkanne, dazu zwei Scheiben Toastbrot und Rührei. Brot könne man nachbekommen, Margarine und Marmelade stehe auf dem Tisch in den weißen Schüsselchen mit Deckel. „The flies, you know!“ Auch das verstehe ich und sehe mir die für Fliegen verbotene Marmelade an: schnittfest!

Die drei Tage im Hotel waren ein Abenteuer der besonderen Art. In Termas de Alcafache waren wir gelandet. Auf der Glastür am Eingang stand zwar Hotel, jedoch wäre Ferienheim für Senioren eher angebracht gewesen.

Nicht nur ernährungstechnisch sind wir in den Nachkriegsjahren angelangt. Abends gekochter Fisch oder gekochtes Huhn zu Reis und Karotten, am Freitag Milchreis mit Kompott aus der Dose, anschließend TV-Programm, gestern Schwarzwaldmädel mit Untertiteln. Zwangsurlaub in einem portugiesischen Erholungsheim für alte Menschen, für drei Monate abgestellt von ihren Familien, erklärt uns Manuel beim Abendessen. Zur Erholung im Thermalbad, versicherte heute Morgen die Dame an der Rezeption, als sie uns vor Bezug des neuen Zimmers die Drehknöpfe für die Armaturen aushändigte.

Auf dem Flur packt mich plötzlich eine alte Frau in schäbigem Morgenmantel, mit dickem grauem Haarzopf, am Arm und zieht mich zu einem lichtlosen Bretterverschlag unter der Treppe. Immer wieder sagt sie die gleichen zwei Wörter, deutet aufgeregt auf ein Bett, das zu meinem Erstaunen hier steht. Es hängt schief zwischen Kopf- und Fußende. Hektisch winke ich Rita herbei.

„Also packen wir an!“ Wir hängen die ausgeklinkte Bettlade wieder am Kopfende ein. Die kleine, dicke Frau schüttelt sich vor Freude und will uns küssen. Rita nimmt sie in den Arm, spricht beruhigend auf sie ein und streichelt sie. Die Frau nickt heftig, als ob sie jedes Wort verstehe.

Einmal mehr bewundere ich Rita, wie sie in einer solch unerwarteten Situation auf eine Person eingehen kann. Ich könnte das in diesem Fall nicht. Die Frau riecht … na ja, wie ungewaschene und verwahrloste alte Menschen am Morgen eben riechen können - muffig. Und ich schäme mich.

Ach, die Sache mit den Drehknöpfen!

Als wir nach der Bettreparatur das Haus zu einem Spaziergang verlassen, bittet die Dame an der Rezeption Rita zu sich. Nein, nein, den Zimmerschlüssel bräuchten wir noch nicht abzugeben. Wir würden ja nachher einen anderen erhalten und bei der Gelegenheit die Schlüssel tauschen. Sie möchte uns nur darauf hinweisen, dass wir die Armaturenknöpfe nicht weiterreichen dürfen. Den Nachbarinnen auf der Etage würde man die Dinger nur zu bestimmten Zeiten zum Duschen aushändigen. Die müssten danach auch sogleich wieder eingesammelt werden. Wir könnten uns gewiss nicht vorstellen, was dort oben geschehe, wenn Streit unter den Alten ausbricht, und das sei gar nicht selten. Sie hätte schon erlebt, dass man sich gegenseitig in die Zimmer verfolgt und die Dusche anstellt, um damit die böse Nachbarin aus dem Zimmer zu spritzen. Der Schaden sei enorm und die Kosten für die Reparaturen in aller Regel nicht einzutreiben. Die Damen verfügen ja kaum über Bares und ihre Familien verweigern die Übernahme der Kosten unter Hinweis auf die Aufsichtspflicht des Personals.

Ja, früher sei das anders gewesen! seufzt sie, mit Betonung auf früher. Da hielten sich die Menschen in Portugal noch an die Ordnung. Dann zuckt sie mit den Schultern und wendet sich einem alten Herrn zu, der offenbar nach einer Zeitung verlangt. Ihre Antwort ist ein barsches No!

Das gibt es also noch in Portugal, im Land der freundlichen Menschen, fünf Jahre nach der ‚Nelkenrevolution‘, die der Macht der Erben Salazars ein Ende setzte.

Das Örtchen Alcafache mit seiner römischen Brücke, den wenigen großen Häusern im Stil des 19. Jahrhunderts und den kleinen Hofzellen, scheint ziemlich vergessen zu sein von der „großen Welt“, die hier einmal kurte. Was blieb, ist außer dem anmutigen Tal des Gebirgsflüsschens der bröckelnde Verputz, die Erinnerung so mancher, die hier ihren Dienst verrichten, an die „besseren Zeiten“, - und natürlich die unerschöpfliche Heilquelle.

Zum früher anständigen Portugal gehört wohl auch der ‚Mutter-Kult‘ im Land, den wir schon andernorts beobachten konnten, aber noch nie so inszeniert, wie am Spätnachmittag des zweiten Tages.

Nach einem längeren Spaziergang über die Hänge des Tals staunen wir, als der Eingang des Hotels mit bunten Girlanden geschmückt ist, die Hausmädchen kichernd zum Spalier bereitstehen. Herausgeputzt in blauen Röcken, weißen Blusen und gestärkten Spitzenhäubchen, warten sie scheinbar auf einen ganz besonderen Gast. Vor der Treppe zum Hoteleingang hat eine Bläsergruppe Posten bezogen und raucht.

Wir wagen uns nicht ins Haus und warten ab, was geschehen wird. Manuel und Maria gesellen sich zu uns, weisen auf einen jüngeren Mann in schicker Uniform, ansonsten unauffällig, hinter der nervös-unruhigen Truppe der Hausmädchen. „Der Sohn des Hauses!“, sagt Manuel bedeutungsvoll. Seine Mutter, die Chefin, komme heute von einem Aufenthalt am Meer zurück.

Nach etwa einer halben Stunde des Wartens - wir überlegen bereits, wie wir unbeachtet zu unserem Zimmer gelangen - fährt eine dunkle Limousine vor. Der Chauffeur springt aus dem Wagen, reißt die hintere Tür auf und verbeugt sich tief. Über gebläutem weißem Haar erscheint zunächst ein breitkrempiger Sommerhut mit kunstvoll aufgesteckten falschen Blumen, bedeckt von einem aufgelegten Schleier. Dann steigt eine recht große, schlanke Dame aus. Sie trägt ein knöchellanges, hellblaues Seidenkleid, das sie beim Aussteigen graziös anhebt, nur solange, bis sie auf hochhackigen weißen Pumps den ausgelegten roten Teppich erreicht. Jetzt setzt die Blasmusik ein.

Im selben Moment stürzt der Herr in Uniform, die Mütze in der Hand, vor ihr auf die Knie. Die Mutter, aufrecht, nur das Haupt leicht geneigt, hält ihm beide Hände hin, die er sogleich ergreift und mehrfach in hektischer Weise mit den Lippen berührt. Daraufhin streicht sie dem Sohn über das Haar, bedeutet, dass er sich erheben dürfe und lässt sich an seinem Arm über die Treppe in das Haus führen. Dort erwartet sie die Lady von der Rezeption in dunklem Kostüm und knickst wie soeben das Spalier der Hausmädchen, - die Musiker blasen einen Tusch mit etlichen missratenen Tönen. „Die Königin von Alcafache - ich glaub, ich bin im falschen Film!“, flüstert Rita kichernd. Die erscheint nochmals vor dem Eingang und winkt huldvoll der zum Empfang erschienenen Gesellschaft aus Angestellten und Dorfbewohnern zu. Die versammelte Schar applaudiert, einige rhythmisch und enthusiastisch mit grünroten Halstüchern. Das kommt mir fast vor wie Hohn. Einfache Frauen in dunklen Faltenröcken und bestickten hellen Blusen – vermutlich eine Art von Tracht - haben Tränen in den Augen. Kleine Kinder tanzen auf der Straße, verrenken sich verzückt zu den Klängen der Blaskapelle. Einzelne Stimmen rufen laut uns Unverständliches dazwischen. Der uniformierte Sohn nimmt die Mütze ab und fährt sich übers Haar, offenbar beunruhigt.

Als ob im Hintergrund ein Schalter umgelegt würde, bricht das Zeremoniell plötzlich ab. Offizier und Mutter sind nicht mehr zu erblicken, die verkleideten Hausmädchen nehmen die Girlanden ab, die Musikanten stehen herum und rauchen wieder. Nur die Kinder sind noch nicht zu beruhigen, wie oft ihre Mütter sie auch mit schrillen Stimmen zur Ordnung rufen.

*

Trotz allem schlafe ich gut in Alcafache, bin rasch wieder auf den Beinen und erkunde mit Rita die Umgebung. Das Flüsschen ist zu schön, um nicht nach dem Duschen mit schwefelhaltiger Brühe an das Baden in einem seiner Kolke zu denken. In manchen könnte man sogar in begrenztem Maße schwimmen.

Als ich diesen Gedanken am Morgen des dritten Tages äußere, schreckt Rita auf - „Sagtest du schwimmen?“ - und erinnert an unser zurückgelassenes Zelt.

Also kein Bad im Fluss und noch am Vormittag die paar Kilometer zurück nach Viseu, das Zelt abbauen, die Sachen im Auto verstauen und die Rechnung begleichen.

Am Abend erwarten uns Manuel und Maria. Sie kennen im Dorf eine kleine Kneipe; die Hausfrau dort sei eine gute Köchin. Statt Reisbrei eine der köstlichen Suppen, für die die portugiesische Küche bekannt ist? Und danach doch ein Bad im Fluss bei Mondschein? Das wäre doch eigentlich ein angenehmer Abschluss.

Eigentlich, denn von Suppen ist keine Rede! Stattdessen gibt in der Kneipe nun Manuel den zurückgekehrten Helden, mit uns als Publikum und Statisten der Demonstration seiner perfekten Beziehung zu Deutschland. Den Anwesenden, etwa einem Dutzend einfacher älterer Männer, spendiert er Rotwein, zieht dann mit großer Geste ein Bündel Geldscheine aus der Jackentasche und lässt es in der Runde kreisen. Jeder darf mal anfassen: zehntausend Deutsche Mark vom treuen Sohn für die Mutter zur Erneuerung des Daches seines Elternhauses!

Geschwommen sind wir aber doch noch im Flüsschen bei Mondschein. - Unvergesslich schön!