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Jesus war ein Vorläufer der modernen Psychotharapie. Vor allem in den Dialogen mit den Frauen und bei seinen Heilerfolgen erweist er sich als intuitiver Kenner psychoanalytischer Regeln. Doch nicht nur literarisch kann man von ihm lernen, seine mehr direkte Art der Therapie lässt sich auch für ein eigenes, neues und der Psychoanalyse in Kombination mit meditativen Vorgehen entlehntes Verfahren nutzen. Diese - Analytische Psychokatharsis genannte Methode - wird im Anhand des Buches detailliert beschrieben.
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Seitenzahl: 159
Das Umschlagsbild der Malerin T. Heydecker heißt ‚Lovesick‘, liebeskrank. Das waren nämlich manche der Frauen, die im Neuen Testament zu Jesus in vielfältigen Beziehungen standen. Aber aus den diesbezüglichen Gesprächen resultierten nicht nur die damaligen Heilungen, es lässt sich daraus auch für heute eine Methode zur Selbstanalyse und Selbsttherapie gewinnen.
Die Tochter des Jairus
Die blutflüssige Frau
Die kanaanäische Frau
Die Heilung der ‚gekrümmten’ Frau
Blindheit und ‚absolute Stille‘
Die Ehebrecherin
Lazarus, Maria und Martha
Maria und das Nardenöl
Simon der Pharisäer
Die Samariterin am Brunnen
Anhang
Literaturverzeichnis
In meinem Buch ‚Signifikant gott?‘ habe ich neben allgemeinen psychologischen und theologischen Bemerkungen mehrere Gespräche von Jesus, die er mit verschiedenen Frauen geführt hat, geschildert.1 Ich hatte festgestellt, dass die Art, wie Jesus die Gespräche handhabt, auch modernen, psychoanalytische Aspekten gehorcht. Jesus gibt nicht gleich eine Anweisung, sondern er lässt zuerst etwas in der Beziehung zu seinen Gesprächspartnerinnen auftauchen, das dem in der Psychoanalyse wichtigen Vorgang von Übertragung und einer daraus resultierenden Beziehungs-Deutung entspricht. Übertragung heißt, dass der Patient oder Klient in der Therapie Bedeutungen aus eigenen, früheren oder anderen derzeitigen Beziehungen auf den Therapeuten überträgt, er diesem also ein Wissen, eine Fähigkeit, unterstellt, die dieser möglicherweise – zumindest in so gearteter Form – gar nicht hat. Anfänglich sah Freud wegen dieser Inadäquatheit die Übertragung als etwas Nachteiliges an.
Denn es war bald klar, dass man dadurch eine künstliche Neurose erzeugte. Die Beziehung des Patienten zum Psychoanalytiker hat etwas Irrelevantes an sich, denn letzterer ist ja nicht der Heiler, den der Patient sich erwartet und wünscht. Die Heilung muss vielmehr aus dem Inneren, dem Unbewussten des Patienten selbst kommen. Der Therapeut kann nur durch sein Zuhören und vorsichtige Interventionen, indem er aggressives oder libidinös Verdrängtes aus den Äußerungen und dem Verhalten des Patienten herausfiltert, eine Veränderung erreichen, die die krankhaften Symptome mindert. Beide wissen nichts vom andern, es geht um Seelisches (Psyche), und dass etwas analysiert (aufgelöst) werden muss.
Sowohl Seele wie auch Analyse, sind keine Realitäten, sondern einerseits so etwas Bild-Wirkendes, Imaginäres, und andererseits etwas Wort-Wirkendes, Symbolisches. Letzteres wird in der Psychoanalyse schwerpunktmäßig betont, während Bilder, Blicke sowie die Träume und Phantasien, also all das Bild-Wirkende zwar ins Sprechen einbezogen wird, aber kein eigener Schwerpunkt ist. Im Endeffekt kommt es jedoch auf den Zusammenhang von beiden an, um so an das besonders hartnäckig Wirkende, an das Reale, heranzukommen. Den Zusammenhang von Symbolischem, Imaginärem und Realem zu eruieren, ist eines der Hauptanliegen des therapeutischen Vorgangs.
Genauso wie das Symbolische und das Imaginäre scheinen auch psychoanalytische Wissenschaft und Religion (Meditation) für gewöhnlich etwas Gegensätzliches zu sein. Trotzdem genügt schon eine kleine Annäherung an das Problem, um zu sehen, dass beide Verfahren auch sehr nahe verwandt sind. Dies ist wichtig, denn das Vorgehen von Jesus in seinen Therapien steht dem Meditativen, Imaginären nahe, während der Psychoanalytiker sich hauptsächlich im Worthaften, im Symbolischen bewegt. Letztendlich gilt für beide gleichermaßen das Reale (Freud nannte es die „psychische Realität“, was kein idealer Ausdruck war), das das Beständige und doch auch unmöglich ganz zu Erreichende darstellt.
So muss der Analytiker seinem Patienten mit „schwebender Aufmerksamkeit” zuhören, was sehr an eine meditative Haltung erinnert. Die Aufmerksamkeit soll nicht auf rationale Inhalte und Zusammenhänge gerichtet bleiben, sondern eher auf das Schwanken, auf ein Stolpern, ein „Sich-Versprechen”, kurz: irrationale Momente in der Rede des Analysanden. Umgekehrt soll dieser in einer Weise reden, als befände er sich geradezu in Trance, er soll „frei assoziieren”, bis zur Blödheit und Peinlichkeit alles aus sich heraussprudeln, was also ebenfalls an eine spontane, freie, meditative Praxis erinnert.
Auch beinhalten beide Methoden immer eine gewisse Form der Askese: Jahrelange Sitzungen beim Analytiker sind in regelmäßigen Abständen notwendig, und während dieses ganzen langen Zeitabschnittes muss man alle größeren lebensverändernden Vorhaben zurückstellen, denn man soll nichts ausagieren und außerhalb der Analyse abreagieren. Auch in der Meditation muss man mit langen Jahren des Rückzugs in sich selbst rechnen, mit einem Ringen und Kämpfen in sich selbst, denn der Meditationslehrer nimmt einem nicht die Arbeit an sich selbst ab. So sind die Gemeinsamkeiten deutlicher als die Unterschiede, und so kann ich versuchen, die Dialoge von Jesus mit denen heutiger psychoanalytischer Praxis vergleichen.
Um diesen Vergleich einfach und verständlich zu machen und dennoch wissenschaftliche Vorgaben aus der Psychoanalyse zu nutzen, berufe ich mich auf den französischen Psychoanalytiker J. Lacan, der die Freud’sche Trieb-Struktur-Theorie etwas umformuliert hat. Statt den Eros-Lebens-Trieb und seinen Gegenspieler, den Todes-Trieb in den Vordergrund zu stellen, erklärt Lacan das Paar genau dieses Bild-Wirkende und Wort- Wirkende zu den Grundtrieben des Seelenlebens. Es geht also wieder um das Gleiche, was ich noch weiter vereinfachend auch ein Es Strahlt und ein Es Spricht, nenne. Der Anschaulichkeit halber zeige ich die verschiedenen Begriffe in ihrer Zusammenfügung in einem Schema. Auch wird gleich klar, dass das Dritte Verbindende das psychisch Reale ist, das alles konkretisiert, stets am gleichen Ort ist und Ursprüngliches und Begrenzendes zugleich bedeutet.
Dieses Schema spiegelt die Begriffe Es Strahlt / Es Spricht mit den dazugehörigen Unterbegriffen wieder, der Schrägstrich vermittelt das verbindend-trennende Reale, wozu ich erst später Stellung beziehen will. Ich hätte auf der rechten Seite noch dazuschreiben können ‚linguistisch‘ und auf der linken ‚kristallin‘, denn Lacan bezeichnet das Unbewusste als ‚linguistischen Kristall‘, also ebenfalls wieder als ein sprechendes Strahlt oder ‚kristallines Spricht, die sich überkreuzen und überlappen. Damit zuerst einmal Schluss mit der Theorie, die so knapp zu kennen aber notwendig sein wird.
In der Begegnung mit einer Frau namens Martha in Lk 10;38-41 und 11; 27-28 geht es gleich sichtbar und konkret um ein Problem mit diesem Bild-Wort-Wirkenden, das in der Religion mit starken Gefühlen besetzt ist. Freud hatte mehrere Kommentare zu einer Auseinandersetzung mit dem Schriftsteller und Philosophen Romain Rolland geführt, weil ihn zu starker Gefühlsreichtum störte. Rolland schrieb der Religion und der Meditation ein „ozeanisches Gefühl“ zu, das groß und wichtig sei, während Freud dem Intellekt und seinen wissenschaftlichen Begründungen treu bleiben wollte. Was es damit auf sich hat, lässt sich an dem Beispiel der Begegnung mit Martha verstehen. Martha ist etwas kapriziös, betont die mehr auf der Seite des Bild-Wirkenden stehende Frage nach der weiblich-mütterlichen Identität, aber Jesus beharrt auf dem Wort-Wirkenden des Vater-Wesens, der Vater-Bildes, des Vater-Namens. Es gilt nur eins, sagt er in etwa zu Martha, das zusammengeführte Bild-Wort-Wirkende, das vor’bild‘liche Vater-Wort, der vor’bild‘liche Vater-Name, oder noch konkreter: die Vater-Formel in einem selbst.
Exakt diesen muss man in sich erfahren und hören. Jesus hebt, wie ich noch an vielen anderen Gesprächen mit den Frauen zeigen will, stets die Wichtigkeit und Vorbildlichkeit der Frau heraus, aber er will, dass sie auch das authentische Vater-Wort, die Vater-Formel, in sich hören, so wie er es selbst erfahren hat. An dieser Stelle spricht Jesus zwar vom Wort Gottes, selbst redet er jedoch stets vom Vater, diesem bedeutenden Namen, Ur-Signifikanten, oder mit welchen Begriffen soll man eine verbindliche Sprache zwischen Glauben und Wissenschaft, zwischen Theologie und Psychoanalyse finden? Von der Psychoanalyse her spricht man vom groß zu schreibenden Anderen in einem selbst, der sich durch Eltern, Lehrer, Vorgesetzte etc. in einem als Wesentliches verinnerlicht hat, als wesentliches Strahlt / Spricht, dessen psychoanalytische und religiöse Bedeutung ich auf den nächsten Seiten noch weiter erklären will, auszugehen. Nur selten bezeichnet sich Jesus als von Gott gesandt wie in Joh 8; 42, sondern spricht meist von sich als ‚Menschensohn’, als Sohn des göttlichen Vaters, so wie der Psychoanalytiker – wenn diese Analogie erlaubt ist – sich als Sohn Freuds sehen kann.
Dass die Signifikanten bzw. deren Kombination, heilen können, kann man jedoch am besten in der Geschichte von Jesus und der Tochter des Jairus sehen, die in vielfältigem Zusammenhang mit der gerade erwähnten Martha steht.2 Jairus ist Synagogenvorsteher und von daher sicher auch ein strenger, ultraorthodoxer Vater.
Die Autorin F. Kiefer hat klar erkannt, dass dem zwölfjährigen Mädchen in einem derartigen Haus, bei solch einem Familienoberhaupt und bei einer derartig rigiden Erziehung eine starre Konventionalehe droht und sie sich wohl deswegen in eine schwere affektive Störung mit katatonischen Begleiterscheinungen und Lähmungen hineinmanövriert hat.3 Sie war also nicht verstorben, wie die lärmende Menge um Jairus herum beklagte. Die Jesus auslachenden Klageweiber, die sich schon eingefunden hatten, musste Jesus erst aus dem Haus werfen, denn für ihn war klar, dass die Tochter des Jairus nicht tot war.
In einer Katatonie ist die Muskulatur steif, wie erstarrt, Lebensfunktionen scheinen nicht nachweisbar zu sein. Solche Zustände sind selbst für den Arzt schwer zu erfassen, nur mit einer genauen Auskultation des Herzens kann man ein Lebenszeichen feststellen. Die Menschen damals haben solch eine Erkrankung nicht als psychisch-nervlich bedingt erkannt, sondern an einen in Totenstarre befindlichen Körper gedacht und nichts Therapeutisches unternommen. Derartige Fälle sind auch heute in Nervenkliniken nicht selten, aber Jesus hatte damit wohl schon einige Erfahrungen gemacht.
Jedenfalls fasste Jesus das Mädchen an und sagte in einem warmen,aber auch sehr resoluten Tonfall: „Talita Kumi“, was man mit „Ich sage dir, steh auf“ übersetzt hat, aber es könnte auch ein rätselhaftes vergleichbares Wort gewesen sein, vielleicht eher eine Segnungsmetapher oder etwas anderes Ähnliches. Ein solcher, noch dazu von einem jungen Mann in warmherzigem und doch auch stringentem Ton gesprochener Satz konnte natürlich eine ganz andere Wirkung gehabt haben, als die hart-sterile, apodiktische Rede des Synagogendirektors, der seine Familie nur herumkommandierte. Auch zaghafte Unterweisungen hätten hier nichts genützt.
Schon vorher, beim Eintreten in das Haus des Jairus hatte Jesus auf die positive Übertragung hingewiesen, die Voraussetzung für die Heilung des Patienten ist. Der Patient muss hinsichtlich der Qualität des Therapeuten Phantasien haben, er muss fest glauben und positiv vertrauen. Erst danach, wenn die Leute alle ihre ‚freien Assoziationen‘ beigetragen haben, indem sie durcheinander reden und sagen, dass das Mädchen schon gestorben ist und dass es gar keinen Sinn mehr macht einen Therapeuten zu holen, dass sie weinen und lachen, wie es bei Lukas heißt,4 kann Jesus dieses Deutungswort sprechen: Ich kann dich nicht heilen, aber „du wirst aufstehen können, wenn ich das Wort spreche“, das Losungswort, das Identitätswort, „Rivka“. Denn es gibt Autoren, die behaupten, dies sei der Name des Mädchens gewesen,5 und die gehaltvolle (es heißt ausdrücklich, dass Jesus einen Ruf ausstößt), eventuell sogar wiederholte Anrufung eines Eigennamens hat stets große Wirkung.
Dies gilt speziell auch für die Psychoanalyse, wobei hier der Eigenename der noch unbewusste Name der eigenen Identität ist und nicht der üblicherweise bürgerliche Eigenname, der bewusst und sozial verankert ist. Auch die ersten Worte der Menschen waren Losungsworte, Identitätsworte, Bild-Wort-Wirkendes, das betont und wiederholt artikuliert worden war und wie ein Eigenname fungierte, indem er zumindest die Identität eines Clans oder einer Gruppe markierte. Der Eigenname als worthafter Signifikant (hier: Inhalt) erweckt ein Subjekt in Bezug auf den bildhaften Signifikanten (hier: segnend und stärkend gesprochen von einem bekannten Therapeuten), sagt Lacan. Das Subjekt ‚Frau‘ wird in dem Mädchen erweckt, das sich nun nicht mehr als ‚Objekt‘ der Ultraorthodoxie und der gesellschaftlichen Strenge erfahren muss, aber auch nicht des mädchenhaften Glitzers, sondern als Subjekt, als die in ihrer Subjektivität – vor allem durch den zölibatär lebenden Mann – anerkannte Frau.
Denn – so Lacan – es geht nicht um „die Frau, die es gar nicht gibt“, sondern um das „An-sich der Frau“, das kein ganz reales Wesen ist, aber auch kein Glitzer.6 Sie ist etwas, das vom Trans her bestimmt sein kann wie im Fall des Synagogenvorstehers und seiner Apodiktik, und für das daher jede einzelne Frau die Bestimmung in sich selbst finden muss: “Die Frau ist der Buchstabe, der Signifikant, der keinen Anderen hat“, meint Lacan. Na ja, versteht das jeder? Ich würde es so übersetzen: Die Frau muss sie selbst sein, gestützt durch ein programmatisches, quasi geistig-kulturelles ‚An-sich‘, also durch wenigstens Einen oder Eines, der oder das nicht dem phallischen Signifikanten, dem männlichen ‚Plaisir‘, unterstellt ist, sondern der ‚Jouissance‘, dem eigenen, dem Genießendes Körpers als solchem.
Rivka war nun nicht mehr pubertierende Göre, sondern beginnend Frau, deren ‚An-sich‘ Jesus verursacht hat. Von ihm wusste man, dass er wenigstens dieser Eine war, der zölibatär lebte und der ihr nicht den weltlichen Buchstaben der Macht aufdrückte, sonders sie den ihren finden ließ. Diesbezüglich spielte sicher auch eine Rolle, dass Johannes, Petrus und Jakobus von Jesus extra mit in die Wohnung genommen wurden. Die drei Jünger sollen weder für die Heilung sorgen, noch die Macht repräsentieren, sondern wie eine Gruppe ihr Gleichgesinnter die Vollwertigkeit und Reife der jungen Frau bezeugen. Ein Mädchen wird am wenigsten durch Entjungferung zur Frau, vielmehr ist wichtig, dass ihr gesellschaftlicher, ja übergeordneter Status von dessen Gremien konstatiert wird. Jesus mit all den würde – und weihevollen Jüngern stellen von sich aus ein Gremium konstatierend staatlicher und religiöser Instanz dar.
Rivka, Jairus Tochter, soll auch von zu starken Menstruationen blutarm gewesen sein, auch dies ein Hinweis auf ihre Mädchen-Frau-Mutter-Problematik. Und weil somit die psychoanalytische Deutung dieses Falles nicht so schwierig war, wenn sie auch durch die Katatonie eine heftige Aktion nötig machte, veranlasste Jesus, dass man von der therapeutischen Hilfe, die er erbracht hatte, nichts der Menge draußen erzählen sollte. So etwas hätte nur Gerede über dieses offiziell erscheinende Männergremium und stark idealisierende Übertragungen auf Jesus selbst ausgelöst, und das kann kein Therapeut gebrauchen. Denn dann wird man als Therapeut nur mehr und mehr bedrängt und kann sich vor Anfragen nicht mehr retten.
Mit solch einer Einstellung sind ja Jairus und dessen Frau schon laut lamentierend an Jesus herangetreten. Sie haben geweint und geschrien. Nach einiger Zeit zog Jesus Jairus‘ Tochter noch bei der Hand zu sich (eine Geste der Körpertherapie, wie sie in der klassischen Psychoanalyse zwar nicht gehandhabt wird, aber hier sicher äußerst geeignet war) und machte so die Therapie perfekt. Vielleicht hat er dabei auch mehrmals den Arm der jungen Frau gedrückt, eine wärmende Geste, die sie in der körperfeindlichen Familie noch nie erlebt hat. Egal, von der körpertherapeutischen wie von der psychoanalytischen Seite her war somit eine doppelte Wirkung anzunehmen.
Ja, Jesus versteht sich sogar noch auf einen Abschluss der Therapie, der bekanntlich in der Psychoanalyse immer etwas schwierig ist. Wie beendet man eine Psychoanalyse? Schließlich darf der Therapeut ja nicht von sich aus etwas tun oder anordnen. Er darf nichts beanspruchen oder wollen, auch nicht die Heilung, denn das wichtigste ist, die Initiative dem Patienten und in diesem Falle der Frau, speziell hinsichtlich ihres ‚An-sich‘ Seins zu überlassen. Doch was tun, wenn der Patient mit der Therapie nicht aufhören will? Das Ende der Therapie stellt sich nicht immer ‚natürlich‘ ein und so werden oft Versuche unterschiedlichster Art empfohlen, meistens ein extra dazu angesetztes Gespräch, in dem das Thema einfach direkt verhandelt wird. Jesus macht es jedenfalls sehr geschickt.
Er sagt, man solle dem Mädchen jetzt etwas zu essen geben, und so wurde von ihrer Mutter sicher eine große Tafel hergerichtet, an der alle sich zusammensetzten, um den Übergang ins normale Leben zu gestalten. Mag sein, dass diese Anweisung von Jesus ein bisschen verhaltenstherapeutisch klingt, aber bei seiner mehr aktiven analytischen Psychotherapie kann er sich einen Griff in die Trickkiste der Verhaltenstherapeuten leisten. Auch überwindet er so die orale Hemmung, eine Neigung zur Anorexie, zur Magersucht, denn Jairus Tochter hat sicher lange nichts mehr gegessen, so dass man sie auch aus diesem Grund für tot hielt. Auch kann Jesus nun nicht die Familie so erstaunt und weiterhin hilflos dastehen lassen, sie und die junge Frau brauchen einen Übergang ins weitere Leben.
Wenn nämlich in einer Psychoanalyse die Deutung zu ‚gesättigt‘ ausfällt, wenn sie also zu vorschnell und direkt gesagt wird: dein Problem ist nur dies und das, fertig, so mag das zwar sachlich richtig sein. Es erzeugt aber nur Widerstand beim Patienten, denn so einfach überrumpelt will er nicht werden. Man muss anfangs eher ‚ungesättigte‘ Deutungen geben, also nach der Kindheit fragen oder anderen scheinbar unwichtigen Dingen. Erst wenn Vertrauen aufgebaut ist, kann man loslegen. Doch Vertrauen war bei der Tochter des Jairus ja schon da, sie hatte von Jesus als Heiler bereits gehört, sie war schon im Zustand der positiv getönten Übertragung. Trotzdem geht Jesus anscheinend zu schnell vor, wenn er – ganz im Sinne der ‚gesättigten‘ Deutung – sagt: „Steh auf, du schläfst doch nur“, tu doch nicht so als ob zu tot wärst. Genau dies klingt vorerst einmal nach Überrumplung.
Aber Jesus musste sie zuerst aus der Starre lösen, und dazu braucht es im Falle einer Katatonie harsche und laute Worte, oft auch ein Kneifen oder Rütteln. Wenn die üblichen Weckreize nicht helfen, gibt man heute bei der Katatonie in der Klinik auch beruhigende und kreislaufstabilisierende Injektionen. Doch durch die Berührungen eines so bekannten und jovialen Mannes reagiert Rivka überraschend schnell. Jetzt muss Jesus nur noch zu ergänzenden Behandlungsmethoden übergehen, und da ist ein kurzfristig angebotenes Essen, eine orale Befriedigung, die beste Möglichkeit. Also half Jesus ihr sich zu setzen und etwas zu sich zu nehmen.
Ob man Details der Hintergründe der Erkrankung wie etwa die von F. Kiefer angedeutete bevorstehende Zwangsverheiratung oder Ähnliches noch weiter besprochen hat, steht nicht im Neuen Testament. Aber man könnte es sich denken. Da sich die mitgekommenen Jünger und etliche andere Leute im Haus befanden, wurde sicher noch ein bisschen geredet. Bedeutsam ist wie schon gesagt sicher noch, dass Jesus betont darauf hinweist, man möge von dem ganzen Vorgehen und der Heilung des Mädchens niemanden etwas sagen. Wie der Psychoanalytiker will Jesus Neutralität und Abstinenz gewahrt wissen. Auch will er nicht noch mehr bekannt werden, hat er doch so schon genug zu tun.
1Signifikant heißt Bezeichnendes oder Bezeichner, ‚Bedeuter‘, Bild-Wort-Wirkendes.
2 Lukas 8, 40-56
3 Kiefer, I., Frauen auf dem Weg,B.- Laetare Verlag (1996)
4 Lk 8; 49-56
5 Rudka, P., Jairus’s Daughter: AMidrash, USA (2010)
6 Dass es „die Frau“ als universale, nicht gibt hat damit zu tun, dass sie nur als die jeweilig eine verstanden werden kann, während „der Mann“ allen anderen gleich ist.
Ich lege hier Jesus eine Sicht Lacans zugrunde, der stets auf die Feminisierung des Geschriebenen hingewiesen hat, dessen Inhalt zwar oft verdeckt ist, der Bezug zum Genießen als etwas Autochthonem, Weiblichem in einem Schrieb jedoch gestärkt wird. Es hat – so Lacan – nur das Geschriebene Sinn, „indem die Übermittlung eines Schriebs zu etwas in Beziehung steht, das für die Organisation jedweden Diskurses wesentlich und grundlegend ist, nämlich zur ‚Jouissance‘, zum (weiblichen) Genießen als solchem.“7 Das Schriftliche trägt also eine gewisse Feminisierung, Verweiblichung in sich, und auch deswegen ist die männliche Art zu genießen für sich alleine nicht ausreichend, um das wichtige Gefühl zu erreichen, das ich mit R. Rolland und der Jesus-Geschichte verbinde. In der Geschichte von der Heilung der neurotischen Frau mit dem Blutfluss sehen wir sofort diese „aktive“, signifikante Form der ‚Jesus- Therapie‘, die zu Recht Schreibung, Schrift, im Neuen Testament ist.8
Die Frau nähert sich Jesus von rückwärts und berührt heimlich sein Gewand. Blutfluss, verstärkte oder lang anhaltende Monatsblutungen, war in damaligen Zeiten eine extrem von Mythen und Aberglauben beherrschte Krankheit. Die damalige Auffassung schon der norma