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Während die Kettensäge sich in das Holz hineinfraß, bildeten sich auf Joãos Stirn winzige Schweißperlen. Als der Baum schließlich fiel, trat der junge Mann einen Schritt zurück. Gerade wollte er mit dem Entasten beginnen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, die ihn innehalten ließ.
Zwischen zertretenen Sträuchern hockte eine Kröte. Knallrot wie die Frösche, vor denen man ihn als Kind immer gewarnt hatte. Je farbenfroher, desto giftiger. Allerdings waren diese Frösche in der Regel nie größer als ein Finger. Dieses Tier hatte jedoch die Ausmaße eines kleinen Hundes ...
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2015
Cover
Impressum
Kogans Rache
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: shutterstock/Firstear
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-1150-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Kogans Rache
von Daniel Stulgies
Während die Kettensäge sich in das Holz hineinfraß, bildeten sich auf Joãos Stirn winzige Schweißperlen. Als der Baum schließlich fiel, trat der junge Mann einen Schritt zurück. Gerade wollte er mit dem Entasten beginnen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, die ihn innehalten ließ.
Zwischen zertretenen Sträuchern hockte eine Kröte. Knallrot wie die Frösche, vor denen man ihn als Kind immer gewarnt hatte. Je farbenfroher, desto giftiger. Allerdings waren diese Frösche in der Regel nie größer als ein Finger. Dieses Tier hatte jedoch die Ausmaße eines kleinen Hundes …
Der fette Körper der Kröte ruhte auf zwei kräftigen, angewinkelten Beinen.
Eine Mischung aus Kröte und Frosch, schoss es João durch den Kopf. Obwohl er im Regenwald aufgewachsen war, konnte er sich nicht daran erinnern, jemals einem solchen Tier begegnet zu sein. Er stampfte mit dem Fuß auf, um die Kröte zu vertreiben. Er wusste nicht mit Sicherheit, ob sie giftig war, wollte aber auch kein Risiko eingehen.
Die Kröte reagierte nicht, sondern starrte ihn weiter an. Selbst als er die Kettensäge einen Moment lang aufheulen ließ, bewegte das Tier sich nicht vom Fleck.
João atmete flach aus. Die Kröte bereitete ihm Unbehagen. Der Lärm der knapp zweihundert Holzfäller reichte aus, um jedes andere Tier im Umkreis eines Kilometers fernzuhalten, warum also nicht auch dieses?
Bevor er sich dazu durchringen konnte, die Arbeit wieder aufzunehmen, registrierte er an der Kröte eine Veränderung. Ein Detail, das ihn zutiefst erschreckte. Noch während er versuchte, zu verstehen, was er da sah, wurde er an der Schulter herumgerissen.
Durch das verschmutzte Visier sah er das grimmige Gesicht des neuen Vorarbeiters Pablo. Die Augen des übergewichtigen Mannes funkelten ihn böse an.
»Nennst du das etwa arbeiten? Glaubst du, man bezahlt dich fürs rumstehen? Was, zur Hölle, treibst du hier?«
João warf einen schnellen Blick über die Schulter, aber von der Kröte war nichts mehr zu sehen.
Pablo riss ihn erneut an der Schulter herum. »Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«
João zuckte hilflos mit den Schultern, was den Vorarbeiter nur noch mehr in Rage brachte.
»Verarschst du mich?« Pablo machte einen Schritt auf den zurückweichenden, deutlich kleineren João zu. Sein aufgedunsenes Gesicht glänzte feucht im Licht der Nachmittagssonne. »Scheiß Indio!« Er ballte die Fäuste und machte Anstalten, sie gegen den Holzfäller einzusetzen. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«
João sah sich nervös nach seinem Bruder Miguel um. Obwohl Pablo den Trupp erst seit wenigen Wochen leitete, hatte er seinen Ruf als brutaler Menschenschinder längst weg. Glaubte man den Gerüchten, dann hatte er die Stelle nur bekommen, weil einer seiner Cousins, ein hoher Beamter in Santa Luzia, sich für ihn stark gemacht hatte.
»Bist du zurückgeblieben, oder was stimmt nicht mit dir?« Der Vorarbeiter versetzte João einen Stoß gegen die Brust, der ihn zurückstolpern ließ, und wollte gerade nachsetzen, als endlich Miguel erschien.
»Er ist taubstumm«, erklärte dieser abgehetzt. »Sie können so laut schreien, wie Sie wollen, mein Bruder wird Sie nicht verstehen.«
Pablo blickte verwirrt von Miguel zu dem verängstigten João und wieder zurück. »Du verscheißerst mich.«
»Nein Señor, ich sage die Wahrheit. Wenn mein Bruder sie verärgert hat, dann nicht mit Absicht. Das müssen Sie mir glauben.«
»Einen Dreck muss ich! Schon gar nicht, wenn der Schwachsinn von zwei Wilden verzapft wird! Kingsley macht mir die Hölle heiß, wenn nicht alles nach Plan verläuft!« Er hielt inne, als ihm die Blicke der übrigen Arbeiter auffielen. »Was glotzt ihr denn so blöd? Zurück an die Arbeit, oder ich sorge dafür, dass ihr euch alle neue Jobs suchen dürft!«
Die Männer beeilten sich, Pablos Aufforderung nachzukommen. Dieser hingegen grinste feist. Der Anblick der um ihre Jobs fürchtenden Arbeiter bereitete ihm sichtlich Vergnügen.
»Sorg gefälligst dafür, dass dein Bruder sich in Zukunft zusammenreißt«, knurrte er in Miguels Richtung und ging davon.
Die beiden Brüder blickten ihm zähneknirschend nach. »Arschloch«, zischte Miguel, dann wandte er sich João zu. »Glaubst du, es war leicht, diesen Job zu kriegen?«, fragte er mit Hilfe der Gebärdensprache.
João schüttelte den Kopf. Als er von der seltsamen Kröte anfing, winkte Miguel ab und zeigte zu den in einiger Entfernung stehenden Lastern. »Die Bäume verladen sich nicht von allein, und ich habe wenig Lust, mich erneut vor diesem Schwein rechtfertigen zu müssen.« Mit diesen Worten ließ er seinen jüngeren Bruder stehen und ging zu den Lastwagen zurück.
João blickte ihm traurig nach. Noch vor ein paar Jahren hätte Miguel ihm nicht so einfach den Rücken zugekehrt. Die letzten Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur äußerlich.
Er sah sich noch einmal nach der Kröte um, aber das seltsame Geschöpf blieb verschwunden. Ihn schauderte bei der Vorstellung, es könnte ihn aus dem Dickicht heraus beobachten. Miguel hätte ihn für verrückt erklärt, wenn er ihm von dem verstörenden Detail erzählt hätte, das er an der Kröte entdeckt hatte. Und vielleicht war er ja wirklich verrückt. Wie sonst sollte er sich erklären, was er gesehen hatte?
João fluchte innerlich, als ihm klar wurde, dass er schon wieder untätig rumstand. Warum sich weiter den Kopf zerbrechen, wenn es ihn doch nicht weiterbrachte und er Pablo nur einen Weiteren Grund lieferte, ihn fertigzumachen?
Mit der Motorsäge im Anschlag machte er sich schließlich daran, den am Boden liegenden Baum zu entasten. Mittlerweile war er im Umgang mit der schweren Maschine recht geschickt und holte die laut Pablo angeblich vertrödelte Zeit schnell wieder rein.
Nach dem Entasten machte er sich daran, den nächsten Baum zu fällen. Immerzu dasselbe Verbrechen, dachte er, als die Sägezähne die äußere Rinde zerfetzten. Er war in diesen Wäldern aufgewachsen. Jetzt half er dabei, sie zu töten.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als in Augenhöhe plötzlich eine Fratze aus dem Stamm wuchs. Kein menschliches Gesicht, sondern das eines Monsters. Beim Anblick des weit aufgerissenen Mauls entrang sich seiner Kehle noch ein stummer Schrei, bevor alles hinter einem blutroten Schleier verschwand und er zusammenbrach.
***
Der Geschmack von Blut war das Erste, was João registrierte als er wieder zu sich kam. Sein Kiefer tat furchtbar weh, und als er nach Luft schnappte, glaubte er zu fühlen, wie die Haut um seinen Mund aufriss. Er befürchtete, wieder das Bewusstsein zu verlieren, und kämpfte darum, wach zu bleiben.
Jemand legte ihm sanft eine Hand auf die Brust.
João öffnete die Augen und blickte in das ernste aber auch erleichterte Gesicht seines Bruders.
»Das war knapp«, teilte Miguel ihm mit Hilfe der Gebärdensprache mit. »Es hätte nicht mehr viel gefehlt, und du wärst tot gewesen.« Er reichte ihm eine Flasche Wasser. »Spuck zuerst aus. Die Motorsäge hat dir beim zurückschnellen ein paar Zähne ausgeschlagen.«
Das Wasser war lauwarm und brannte wie Feuer.
Miguel nahm ihm die Flasche vorsichtig aus der Hand und stellte sie weg.
Sie befanden sich in ihrer Baracke. Einem eingeschossigen Kastenbau. Die meisten Arbeiter lagen auf ihren Pritschen und schliefen. Durch ein Fenster in der Nähe sah João, dass die Sonne bereits untergegangen war.
»Statt der paar Zähne hättest du deutlich mehr verlieren können«, erklärte Miguel. »Der Kiefer ist zum Glück nicht gebrochen, aber wehtun wird’s die nächste Zeit schon noch.« Er hielt kurze inne, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe dir tausendmal gesagt, dass du dich bei der Arbeit konzentrieren musst.«
Als João von der Fratze erzählte, wurde Miguels Blick kalt. »Ein Mann ist kein Mann, wenn er nicht zu seinen Fehlern steht. Ich hatte gehofft, du wüsstest das mittlerweile, aber anscheinend habe ich mich geirrt. Wieder mal …« Er seufzte. »Den Job bist du los. Wir können froh sein, dass Pablo dich heute Nacht noch hier schlafen lässt.«
Während João überlegte, wie er auf die schlechte Nachricht reagieren sollte, gebärdete sein Bruder weiter. »Ich werde hierbleiben. Du wirst solange in Santa Luzia auf mich warten.«
João sah ihn entgeistert an. Seit ihrer Kindheit waren die beiden keinen Tag getrennt gewesen. Miguel konnte das unmöglich ernst meinen.
»Nur ein paar Wochen. Dann komme ich nach.« Er drückte ihm ein paar Scheine in die Hand. »Es ist nicht viel, aber für dein Essen wird es auf jeden Fall reichen. Ich möchte, dass du Pater Rodriguez aufsuchst. Er hat uns schon einmal geholfen. Er ist ein guter Mann. Ich bin mir sicher, dass er dich aufnehmen wird.«
Der junge Kwé nickte schwach. Pater Rodriguez hatte seinen Bruder und ihn damals bei sich aufgenommen und ihm die Zeichensprache beigebracht.
»Nur ein paar Wochen«, wiederholte Miguel sein Versprechen.
João wusste, dass er log. Die Augen seines Bruders sprachen eine andere Sprache als seine Hände. Sie hatten ihr Dorf damals aus Angst vor der Zukunft verlassen. Miguel war der festen Überzeugung gewesen, dass Widerstand nur Tod und Verderben mit sich brachte.
Eine Meinung, die die Dorfältesten nicht geteilt hatten. Stattdessen hatten sie ihn einen Narren genannt und ihn wie einen Verräter behandelt. Miguel hatte sich daraufhin von der Gemeinschaft abgewandt.
Der Einzige, der zu ihm hielt, war João. Dieser hatte damals so fest an seinen Bruder geglaubt, dass er ihn nicht nur aus Loyalität, sondern auch wegen der Aussicht auf ein besseres Leben begleitet hatte. Sie hatten sogar ihre Geburtsnamen abgelegt. Altlasten aus einem früheren Leben. Zumindest hatte Miguel es damals so genannt. Nun schien es fast so, als würde er sich von einer weiteren Altlast verabschieden.
»Ich habe schon mit einem der Fahrer gesprochen. Er wird dich morgen früh mit in die Stadt nehmen.« Miguel lächelte schwach. »Es ist besser so, glaub mir.«
João sparte sich eine Erwiderung und drehte sich zur Wand. Er kam sich betrogen vor. Im Stich gelassen. Nachdem er schon eine ganze Weile so dagelegen hatte, zündete er die neben dem Bett stehende Lampe an. Da er keinen der Arbeiter wecken wollte, legte er sein T-Shirt über das Drahtgestell, um das Licht zu dimmen.
Anschließend kramte er sein Tagebuch aus dem neben der Pritsche liegenden Kleiderhaufen und begann, die heutigen Erlebnisse aufzumalen. Zuerst die Kröte, dann das Baumgesicht. Beides war unheimlich, aber ein zum Leben erwachender Baum übertraf alles.
Als es schließlich vollbracht war und die unheimliche Fratze ihn aus dem Buch heraus anstarrte, hielt er ihrem Blick nur mit Mühe stand. Er fragte sich, ob es klug war, das Gesehene auf diese Weise festzuhalten, und sein Herz schlug schneller bei der Vorstellung, die Zeichnung könnte zum Leben erwachen und zu Ende führen, was ihr beim ersten Mal nicht gelungen war.
Nachdenklich blätterte er vor und zurück. Etwas sagte ihm, dass Kröte und Fratze einen gemeinsamen Ursprung hatten.
Ein flackernder Schatten ließ ihn herumfahren. Sein Bruder und weitere Männer hatten sich von ihren Pritschen erhoben und strömten in Richtung Ausgang.
João vermutete einen Alarm oder etwas Ähnliches. Er zog sich schnell an und folgte ihnen. Erst draußen, im Schein der spärlichen Außenbeleuchtung, fiel ihm auf, dass die meisten Männer nur das nötigste am Körper trugen. Einige waren in Unterwäsche, andere nackt.
Außer ihm hatte sich niemand die Mühe gemacht, sich etwas überzuziehen. Auch ihr Gang irritierte ihn. Er war schwankend wie bei einer Bande Betrunkener. Als er Miguel einholte, sah sein Bruder einfach durch ihn hindurch. Die nur halb geöffneten Augen schienen ihn überhaupt nicht wahrzunehmen.
Langsam, aber unaufhaltsam näherten sich die Männer dem Rand des Dschungels. Unter ihnen befanden sich auch Pablo und der für die Planung verantwortliche Kingsley, die in komfortablen Wohncontainern untergebracht waren. Was auch immer hier gerade passierte, es schien jeden außer ihn selbst zu beeinflussen.
João wusste, dass das Betreten des Dschungels bei Nacht lebensgefährlich war, und er versuchte, seinen Bruder davon abzubringen, indem er sich ihm in den Weg stellte. Miguel wich ihm jedoch einfach aus und ging unbeirrt weiter. Sie befanden sich schon bei den äußeren Baumgruppen, als João ihn am Handgelenk festhielt.
Der ihm in Größe und Gewicht überlegene Miguel schüttelte ihn ab wie ein lästiges Insekt. Nichts schien ihn und die anderen aufhalten zu können.
João blieb stehen und blickte der unheimlichen Prozession ängstlich nach. Sekunden, nachdem die letzten Männer zwischen den Bäumen verschwunden waren, setzte er ihnen nach. Bei jedem Schritt verspürte er einen stechenden, von seinem Kiefer ausgehenden Kopfschmerz, der den ohnehin beschwerlichen Gang durch die Dunkelheit noch zusätzlich erschwerte. Schon bald lag das Camp so weit hinter ihnen, dass die Scheinwerfer nicht mehr zu sehen waren und eine Umkehr unmöglich wurde.
Neben ihm stolperte einer der Männer über eine Wurzel und fiel zu Boden. João konnte das Gesicht nicht richtig erkennen, aber der Statur nach konnte es sich um Pablo handeln. Der Vorarbeiter hatte Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen, weil sein Fuß feststeckte.
Während João noch überlegte, ob er ihm helfen sollte, riss Pablo sich mit einem heftigen Ruck los und setzte seinen Weg schlurfend, den verletzten Fuß hinter sich her ziehend, fort.
Ihr Marsch durch den Dschungel endete erst sehr viel später. Die Männer blieben abrupt stehen und verharrten wie angewurzelt auf der Stelle. Dabei waren ihre Gesichter immer noch ausdruckslos.
João suchte die Umgebung ab, fand aber nichts, was das veränderte Verhalten der Gruppe erklärt hätte. Dieser Teil des Dschungels unterschied sich nicht von dem bereits hinter ihnen liegenden Abschnitt. Auch hier gab es meterdicke, von Moosen und Kletterpflanzen überwucherte Bäume. Dazwischen mannshohe Sträucher, unzählige Pflanzen, Lianen und Blüten.
Als die Erde wenige Schritte vor ihnen absank, schreckte João so heftig zurück, dass er gegen einen hinter ihm stehenden Arbeiter prallte. Dieser zeigte wie auch der Rest der tumb herumstehenden Männer zuerst keinerlei Reaktion auf die sich langsam auftuende Öffnung.
João stieg ein abscheulicher Gestank in die Nase. Als würde dort unten etwas verwesen. Er unterdrückte den Würgereiz, versuchte ruhig zu bleiben und nicht in Panik zu verfallen. Die Öffnung riss weiter auf. Wie bei einer Wunde. Mittlerweile war sie groß genug, dass mehrere erwachsene Männer gleichzeitig hindurchpassten.
Der Eingang einer Höhle, schoss es João durch den Kopf, als die Männer sich erneut in Bewegung setzten. Seine feinen Nackenhärchen richteten sich bei dem Gedanken, was sie dort unten erwartete, auf. Mit dem Mut eines verzweifelten startete er einen letzten Versuch, seinen Bruder wachzurütteln. Panik stieg in ihm auf, als Miguel sich dem Eingang näherte.
In seiner Not schnappte er sich einen am Boden herumliegenden dicken Ast und verwendete ihn als Knüppel. Er positionierte sich seitlich von seinem Bruder und schlug zu. Obwohl er alle Kraft in diesen Schlag gesetzt hatte, zuckte Miguel nur einmal kurz zusammen.
Bevor João einen weiteren Treffer landen konnte, schob ihn die Masse der vorrückenden Männer in Richtung Höhle. Er versuchte, auszureißen und schlug wild um sich, aber gegen die Wand aus lebenden Leibern kam er nicht an. Sekunden, nachdem Miguel die Höhle betreten hatte, schloss João sich ihm an. Nichtsahnend, dass sein Leidensweg gerade erst begonnen hatte.
***
Während auf dem großen an der Wand hängenden LCD-Bildschirm eine mexikanische Telenovela zu Ende ging, bediente sich eine Gruppe Anzugträger am Buffet. Die Männer schienen sehr darum bemüht, möglichst viele Speisen zu probieren, und packten sich die Teller dermaßen voll, dass es selbst dem Koch am Ende schwergefallen wäre, die durcheinandergeratenen Gerichte korrekt zuzuordnen.
Ich warf einen Blick durch das Panoramafenster. Gerade war eine weitere Maschine gestartet.
»Darf ich Ihnen noch etwas zu trinken bringen?«, fragte mich eine der Servicekräfte. Eine junge Frau, die sich ihre Haare zu einer eleganten Frisur hochgesteckt hatte. »Einen Kaffee vielleicht?«
»Nicht nötig. Noch mehr Koffein, und ich schwimme nach London. Außerdem habe ich die vage Hoffnung, dass ich gleich aufgerufen werde.«
»Die Verspätung tut mir leid.«
»Da können Sie ja nichts für«, entgegnete ich lächelnd.
»Trotzdem, wenn ich noch etwas für sie tun kann, dann geben Sie mir bitte Bescheid. Das Wohl unserer Kunden liegt uns sehr am Herzen.« Sie setzte ein breites Lächeln auf und ging zum nächsten Kunden.
Ich seufzte auf. Wenn es etwas gab, das ich hasste, dann war es warten. Innerhalb der letzten zwei Stunden war mein Rückflug nach London zweimal verschoben worden, weil das Wetter nicht mitspielte. Höhere Gewalt, dachte ich zähneknirschend. Rückblickend betrachtet traf das nicht nur auf den verspäteten Flieger zu.
Mein letzter Fall beschäftigte mich noch immer. Die Macht des Kreuzes hatte sich während des Kampfes mit der Ghoulkönigin gegen mich gewandt. Zum Glück hatte ich in Tomáso Torres und seiner Tochter Sera zwei schlagkräftige Verbündete gefunden.
Auch wenn der Start etwas verhalten gewesen war, hatten wir Izel und ihre Ghouls am Ende doch vernichtet. Trotzdem blieb ein fader Beigeschmack zurück. Natürlich hatte es in der Vergangenheit immer wieder Gegner gegeben, denen mein Kreuz nichts anhaben konnte, aber dieses Mal war es anders gewesen …
Ein paar ziemlich verstörende Bilder lenkten meine Aufmerksamkeit auf eine im Fernsehen laufende Nachrichtensendung. Zu sehen war unter anderem die hoffnungslos überfüllte Notaufnahme eines brasilianischen Krankenhauses. Ärzte und übriges Krankenhauspersonal versuchten verzweifelt, die Situation unter Kontrolle zu bringen.
Viele der Patienten saßen oder lagen auf dem Boden, weil keine Betten mehr frei waren. Als ich aufstand, um die Szene aus der Nähe zu betrachten, wechselte das Bild zu einem Badesee in Kolumbien. Eine verwackelte Handyaufnahme.
Ein junger Mann in Badehose posierte vor der Kamera und machte dabei Faxen. Plötzlich brach im Hintergrund Chaos aus. Menschen rannten panisch aus dem Wasser. Die Kamera zoomte eine ältere Frau heran, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ans Ufer kämpfte. Bereits im nächsten Moment fehlte von ihr jede Spur. Sie war untergegangen und tauchte auch nicht mehr auf.