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Godwin de Salier, der Führer des Templer-Ordens, bat mich um Hilfe, als auf dem Friedhof in La Martyre in der Bretagne ein kleines Mädchen verschwand.
Die Bewohner von La Martyre waren beunruhigt, denn nachts hörten sie das Mädchen jammern. Doch niemand wagte es, den Friedhof nach Sonnenuntergang zu betreten ...
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Seitenzahl: 151
Cover
Impressum
Der Tod von La Martyre
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Kümmel
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4696-1
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
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www.bastei.de
Der Tod von La Martyre
von Logan Dee
Bretagne, Frankreich
Jade Etienne beschloss, ihren kleinen Souvenirladen, der direkt gegenüber dem Friedhof lag, für heute zu schließen. Der letzte Touristenbus war gerade mit seinen Passagieren abgefahren. Zuvor hatten die Besucher noch ihr letztes Kleingeld bei ihr gelassen. Kleine Traumfänger und filigrane Windspiele waren zurzeit sehr gefragt. Sie stellte sie selbst in ihrer kleinen Werkstatt her. Und natürlich die »Macles«, die Zwillingssteine, in die kleine Andreaskreuze eingearbeitet zu sein schienen. Die Touristen nahmen sie gerne als Glücksbringer mit nach Hause.
Die Sonne, die vor einer Weile noch durch die Schaufensterscheibe hereingeschienen hatte, versank blutrot. Jade Etienne freute sich darauf, gleich ihren Freund Maxime zu treffen und in der nahe gelegenen Brasserie den Abend ausklingen zu lassen.
Da bewegte sich vor der Eingangstür ein unförmiger Schatten. Hoffentlich nicht noch ein Kunde!
Jade eilte zur Tür, um abzuschließen und das »GESCHLOSSEN«-Schild ans Fenster zu hängen. Doch bevor sie die Tür erreichte, wurde sie nach innen aufgestoßen.
Aber es war kein Kunde, der hereinschlurfte …
Es war der alte Jean-Pierre. Im Ort galt er als verrückt, aber harmlos. Er war irgendwann in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit anderen Blumenkindern nach La Martyre gekommen, und er war der Einzige, der geblieben war.
Er frönte einer Art Druidenkult. Sein ergrautes Haar wallte lang über seine Schultern, der Bart fiel bis auf die Brust. Sein weißes Gewand war mit mystischen Zeichen bestickt, von denen Jade nicht eines etwas sagte.
Wahrscheinlich hatte Jean-Pierre sie sich ausgedacht. Ebenso wie die angeblichen Schutzamulette, die gleich in einem ganzen Dutzend um seinen Hals hingen. Manchmal gelang es ihm, eines davon an einen abergläubischen Touristen zu verkaufen.
Heute schien er kein Geschäft gemacht zu haben. Jade kannte das. Gleich würde er sie bitten, ob sie nicht einen Euro für ihn übrig habe – für einen Pastis in der nächsten Schenke. Jean-Pierre war überall im Ort als Schnorrer bekannt.
Jade griff bereits in die Kasse, um einen Euro herauszuholen, als sie sah, dass der alte Hippie-Druide kalkweiß im Gesicht war. Sein linkes Augenlid zuckte, und er machte auf Jade einen verstörten Eindruck.
»Nanu, ist dir der Ankou begegnet?«, fragte Jade besorgt.
Das war nur so eine Redewendung. Der Ankou galt nach bretonischer Überlieferung als personifizierter Tod, und auf dem nahen Friedhof war er auf vielen Grabmälern abgebildet.
Er starrte sie an: »Woher weißt du das? Ja, ich habe ihn gesehen, als ich zwischen den Gräbern spazieren ging. Und er hat zu mir gesprochen. Wo ist Anne-Marie?«
Den letzten Satz hatte er besorgt hervorgestoßen. Fast panisch sah er sich im Laden um. Erst jetzt bemerkte Jade, dass Jean-Pierre am ganzen Leib zitterte.
Sie lief zu ihm, wollte ihn auf den kleinen Korbsessel drücken, der neben der Tür stand, aber der Alte stieß sie mit ungewohnter Heftigkeit von sich.
»Wo ist Anne-Marie?«, wiederholte er stur.
Es war der Moment, in dem Jades Sanftmut und Fürsorge in Zorn umschlugen. Der Alte hatte ihr wehgetan. Ihre Brust schmerzte von seinem Schlag.
»Bist du jetzt völlig verrückt geworden? Was treibst du dich auf dem Friedhof herum? Und was willst du von Anne-Marie? Du solltest sie endlich in Ruhe lassen!«
Ihre Tante Anne-Marie und Jean-Pierre waren einmal ein Paar gewesen. Ein Liebespaar. Das musste Jahrzehnte her gewesen sein, wahrscheinlich sogar vor Jades Geburt, denn sie selbst kannte die Geschichte nur vom Hörensagen.
Ihre Tante behandelte den alten Jean-Pierre noch immer mit herzlicher Höflichkeit, und auch er benahm sich ihr gegenüber wie ein junger Gigolo. Tatsächlich sah man beide ab und zu noch Hand in Hand spazieren gehen – in dieser vertrauten Geste, die wahrscheinlich aus diesen früheren Zeiten stammte.
»Ich war auf dem Friedhof, weil ich hoffte, dort noch den einen oder anderen Touristen zu treffen. Das Geschäft läuft schlecht, weißt du, sie wollen alle nur diese Kreuzsteine, aber finde die erst mal «
Vielleicht solltest du dich mal waschen, dann läuft es vielleicht besser, dachte Jade. Wer kaufte schon gerne etwas von einem schmutzigen alten Mann, der zudem nicht mehr ganz richtig im Kopf schien? Aber das sagte sie ihm nicht. Dazu tat er ihr dann doch wieder zu leid.
»Und dann habe ich den Ankou gesehen!«, fuhr er fort und ließ sich nun doch erschöpft in den Korbsessel fallen. »Ich dachte erst, es wäre der neue Totengräber oder einer seiner Leute. Der Mann stand mit dem Rücken zu mir und hob ein Grab aus. Er war riesig und in einen schwarzen Mantel gehüllt. Nanu, dachte ich. Bei der Wärme trägt der einen Mantel … Ich bin neugierig näher herangegangen. Da hat er sich plötzlich umgedreht, und ich habe erkannt, dass es der Ankou war « Die Augen des Alten waren nun weit geöffnet. Er starrte an Jade vorbei, als sehe er die Szene erneut direkt vor sich.
»Und woran hast du ihn erkannt?«
»Woran wohl? Er hatte kein Gesicht, sondern einen blanken Totenschädel! Ich war wie eingefroren, konnte mich nicht rühren. Da rief er mich zu sich – indem er seinen Zeigefinger auf mich richtete und krümmte. Ich konnte nicht anders, ich musste gehorchen. Schritt für Schritt zog er mich näher zu sich heran. ›Schau in das Grab!‹, befahl er, und wieder konnte ich mich nicht wehren. Ich musste ihm Folge leisten. Das Grab war leer. Ich war erleichtert, fürchtete aber plötzlich, dass er es für mich ausgehoben habe «
Jean-Pierre schwieg erschöpft, während Jade spürte, wie ganz leise eine Gänsehaut über ihren Körper kroch. Wie ein dünner Ölfilm, der sich überall verteilte. Und das lag nicht daran, dass mit dem Sonnenuntergang gleichzeitig die Wärme aus dem Laden verschwunden war. Es lag an der Eindringlichkeit, mit der der alte Jean-Pierre an seinen eigenen Unsinn glaubte.
»Was hat das alles mit Anne-Marie zu tun?«, fragte die junge Frau.
Ihr Zorn war verraucht. Sie versuchte zumindest so etwas wie Verständnis aufzubringen. Jean-Pierre war tatsächlich nicht mehr ganz richtig im Kopf. Nie war ihr das bewusster geworden als heute. Und schlimmer noch, er war auch noch überzeugt von dem, was sein verwirrter Geist ihm vorgaukelte.
»Habe ich das nicht gesagt? Hörst du nicht zu?«, schrie Jean-Pierre, sodass Jade unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Doch in der nächsten Sekunde loderte ihr Zorn erneut hoch. Was fiel diesem alten Mann ein, sie so anzuschreien? Diesem schmutzigen alten Mann! Er benahm sich in ihrem Laden, als gehöre er ihm!
»Nein, du hast es nicht gesagt!«, schrie sie zurück. »Und wenn du jetzt weiter hier rumkrakeelst, werfe ich dich raus!«
Unwillkürlich hatte sie die Hände in die Hüften gestemmt. Sie dachte nicht daran, sich ins Bockshorn jagen zu lassen.
Doch der alte Jean-Pierre wurde plötzlich ganz ruhig. Er sank noch weiter in seinem Sessel zusammen und murmelte: »Entschuldige, ich hätte dich nicht so anfahren dürfen. Es ist nämlich so: Ich fragte, für wen das Grab sei, und der Ankou antwortete: ›Für Anne-Marie.‹ Ich wollte weglaufen, konnte es aber immer noch nicht, denn er war noch nicht fertig mit mir «
»Was heißt das, er war noch nicht fertig?«
Der Druide wurde womöglich noch eine Spur blasser, als er flüsterte: »Der Ankou lachte und sagte: ›Wo du schon mal hier bist, kannst du mir auch die Arbeit abnehmen. Hier hast du meinen Spaten!«
»Das ist doch alles verrückt!«, entfuhr es Jade. »Du hast dir das alles eingebildet. Wie viele Flaschen hast du heute schon getrunken?«
»Nur einen kleinen Pastis zum Frühstück. Höchstens zwei, ich schöre es dir!«
Jade war nun wieder so weit, dass sie dem Alten nichts glaubte. Während seiner Rede hatte sie hin und her geschwankt, aber nun war Schluss!
»Am besten gehst du jetzt trotzdem erst mal nach Hause und schläfst dich aus«, sagte sie.
»Du verstehst mich nicht! Der Ankou hat mir befohlen, Anne-Maries Grab weiter auszuheben! Als er das sagte, löste sich der Bann, und ich konnte endlich fortlaufen.«
»Na siehst du, dann ist ja alles in Ordnung « Jade bemühte sich um ein Lächeln.
»Nichts ist in Ordnung!«, keuchte er und sprang aus dem Sessel. »Bevor ich loslaufen konnte, hielt er mir den Spaten hin. Ich sollte ihn nehmen und weitergraben. Als ich weglief, ist er hinter mir her. Er verfolgt mich! Er will, dass ich sein Werk vollende! Wo ist Anne-Marie? Ich muss es ihr erzählen … ich muss sie warnen!«
Gehetzt sah er an ihr vorbei. Sein Blick fiel durch die Schaufensterscheibe nach draußen – und er zitterte. Erneut erkannte Jade die Panik in seinem Blick.
»Er kommt! Der Ankou kommt! Er will mir den Spaten geben! Er will, dass ich Anne-Maries Grab weiter aushebe!«
Jade folgte seinem Blick. Die Auslage im Schaufenster war überladen. Ketten, Traumfänger, Mobile und anderes Kunsthandwerk hing dort. Trotzdem konnte sie hinaus auf den kleinen Platz sehen. Ein paar Spaziergänger genossen den milden Abend. Einheimische. Einen Fremden oder gar jemanden, der sich vielleicht den Spaß erlaubt hatte, sich eine Totenschädelmaske aufzusetzen und Jean-Pierre derart zu erschrecken, entdeckte sie nirgendwo. Und schon gar keine Schauergestalt wie den legendären Ankou. Mehr denn je wuchs ihre Überzeugung, dass der Alte nun wirklich übergeschnappt war.
Bevor sie ihn daran hindern konnte, stieß er sie zur Seite und rannte an ihr vorbei.
»Heh! Was soll denn das?«, rief sie ihm hinterher.
Der Bereich hinter dem kleinen Tresen und die dahinterliegende Werkstatt, die durch einen bunten Perlenvorhang vom Ladenbereich abgetrennt war, war normalerweise tabu. Jean-Pierre störte sich nicht daran. Er riss den Vorhang herunter, stürmte in den angrenzenden Raum, und Jade hörte, wie er auch die Tür zur angrenzenden Toilette auf- und wieder zuschlug.
Sie wollte ihm hinterher, aber plötzlich verfinsterte sich der Himmel draußen. Wenigstens glaubte sie das im ersten Moment, denn in ihrem kleinen Laden wurde es schlagartig dunkler. Vielleicht hatte sich ja eine Gewitterwolke vor den Abendhimmel geschoben …
Aber es war keine Gewitterwolke.
Der dunkle Schatten, der vor der Tür und dem Schaufenster lauerte, hatte einen anderen Ursprung.
Jade konnte nicht viel erkennen. Sie hatte den Eindruck, als würde sich draußen Nebel zusammenballen. Und darin erkannte sie ein orangenes Glühen. Aber so etwas gab es nicht, oder? Vielleicht war es nur eine Laune des Wetters – so wie ein Regenbogen. Der Sonnenuntergang musste den plötzlich aufkommenden Nebel zum Glühen gebracht haben. In dem Moment, wo sie das dachte, kam ihr die Erklärung selbst abstrus vor.
Außerdem waren die Schwaden in ständiger Bewegung, so als würden sich Gestalten darin bewegen oder zusammenballen.
Jades Blick fiel auf den Spalt unter der Tür. Der orange glühende Nebel drang herein, er kroch über den Boden auf sie zu …
Gleichzeitig spürte sie die Kälte, die von ihm ausging und die nach ihr griff.
Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie dem alten Jean-Pierre vielleicht doch unrecht getan hatte. Dort draußen ging etwas vor, das mit normalen Maßstäben nicht zu erklären war. Und es lauerte nicht mehr nur draußen – es hatte sich längst einen Weg in ihr Geschäft gesucht, streckte seine eisigen Klauen nach ihr aus und war drauf und dran, sie zu packen.
Der Gedanke, von dem Nebel berührt zu werden, wie er an ihr emporkriechen, in sie eindringen würde, ließ sie reagieren. Blitzschnell drehte sie sich um, folgte Jean-Pierre in die hinteren Räume. Von dort erklang Lärm. Irgendetwas musste dort umgefallen oder umgestoßen worden sein.
Sie erreichte die Tür zu dem kleinen Toilettenraum. Sie war nur angelehnt. Jade riss sie auf und erfasste mit einem Blick, dass Jean-Pierre geflüchtet war. Ein Hocker lag auf dem Boden. Der Druide musste sich auf ihn gestellt und damit an das schmale Fenster gelangt sein, das so hoch angebracht war, dass es nur mithilfe einer Stange von unten zu öffnen war.
In seiner Verzweiflung hatte er es eingeschlagen, sich hindurchgezwängt und sich auf der anderen Seite hinabgehangelt.
Hoffentlich hat er sich nichts gebrochen!
Der Gedanke ging ihr durch den Kopf. Obwohl sie es nun war, die in Gefahr schwebte.
Sie schlug die Tür hinter sich zu, drehte panisch den Schlüssel um und wartete. Wartete darauf, dass der orangene Nebel erneut durch die Türritzen hereindringen würde.
Sie sah hoch zum Fenster. Sollte sie auch …?
Nein, sie spürte, dass sie dazu einfach nicht in der Lage war. Ihre Hände zitterten. Sie war der Panik nahe.
Sie setzte sich auf den Toilettendeckel und starrte die Tür an.
Ein Grollen drang an ihre Ohren, darin eine weinende Kinderstimme. Sie konnte nicht verstehen, was das Kind sagte, aber es rührte trotz des Grauens ihr Herz. Und erneut griff die Kälte nach ihr.
Dann war es vorbei.
Von einer Sekunde zur anderen. Sie merkte es daran, dass die Wärme schlagartig zurückgekehrt war.
Die Erleichterung entlud sich in einen Weinkrampf. Sie blieb einfach sitzen und heulte sich die Seele aus dem Leib.
Erst nach einer halben Stunde begriff sie auch, dass es vorüber war.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte hinaus.
***
Vergangenheit
Die Glocken der Pfarrkirche von La Martyre beendeten den Gottesdienst. An diesem Sonntagmorgen war die Kirche besonders voll gewesen. Jeder im Ort und aus der Umgebung wollte die bildhübsche Gabrielle sehen, die ihr Eheversprechen soeben ihrem Verlobten gegeben hatte.
Antoine Tabouillot war stolz auf seine Tochter. Gabrielle war sein ein und alles, obwohl er noch zwei weitere Töchter und drei Söhne hatte. Die anderen Töchter, Malaury und Violaine, waren eher nach ihm geraten. Sie hatten lange Pferdegesichter mit vorstehenden Zähnen und klobige Körper.
Gabrielle hatte die Schönheit und Anmut ihrer Mutter, seiner verstorbenen Frau Mélisande, geerbt, und deswegen vergötterte er sie. Vielleicht auch, weil er felsenfest davon überzeugt war, dass ein Teil von Mélisandes Seele in der Sekunde ihres Todes auf Gabrielle übergesprungen war. Mélisande war im Kindsbett gestorben, kurz nachdem sie Gabrielle auf die Welt gebracht hatte.
Antoine Tabouillot hatte nie wieder geheiratet. Seine körperlichen Bedürfnisse hatte er bei den Huren in den Baracken abseits der Stadt gestillt. Seine Liebe aber gehörte allein Gabrielle. Umso härter nahm er seine Söhne ran, und auch die älteren Töchter hatten nichts zu lachen. Sie mussten im Haushalt, in den Ställen und auf den Feldern schuften.
Antoine hatte nichts dagegen gehabt, als der junge Travis um Gabrielle geworben hatte. Er war zehn Jahre älter als Gabrielle und daher genau richtig für seine sechzehnjährige Tochter. Außerdem war er der Sohn seines direkten Nachbarn. Die Ländereien des alten Le Goff waren dreimal so groß wie die von Antoine, insofern war die Verlobung eine gute Partie für seine Tochter.
Antoine hatte Gabrielle aus der Kirche geleitet. Sie klammerte sich an seinen Arm, als wollte sie ihn niemals wieder loslassen. Um sie herum versammelten sich noch einmal die engen Freunde und hochgestellten Persönlichkeiten. Auch der Pfarrer trat zu ihnen und beglückwünschte Antoine, seine Tochter bald in die Hände eines guten und gottesfürchtigen Ehemanns zu geben.
Bei aller Wehmut, bald auf Gabrielle verzichten zu müssen, genoss Antoine doch diesen ganz besonderen Moment. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn.
»Ich hoffe, ihr alle kommt heute Abend zahlreich zur Verlobungsfeier auf mein Gut!«, rief er fröhlich. »Auch die, die bisher keine Einladung erhalten haben, sind herzlich willkommen, das junge Glück hochleben zu lassen.«
Die Kirchengänger jubelten und applaudierten. Bravo-Rufe erschallten aus der Menge.
Jemand kämpfte sich durch die Reihen. Es war ein junger Mann. Er hatte schwarze struppige Haare und ein braun gebranntes markantes Gesicht, in dem dunkle Augen loderten.
»Gilt die Einladung auch für mich?«, fragte der Bursche frech. Dabei ruhten seine Blicke ungeniert auf Gabrielle, die rasch wegsah.
»Was erlaubst du dir, du Bastard?« Antoine war voller Zorn. Sein Hochgefühl war wie weggeblasen. »Ich weiß, dass du meiner Tochter den Hof gemacht hast. Du hast versucht, sie zu verführen. Zum Glück seid ihr gesehen worden, sodass ich Gabrielle vor dir beschützen konnte!«
»Wir lieben uns, und das könnt auch Ihr nicht verhindern!«, beharrte der junge Mann. Er trug ein Hemd, das ihn als Fischer auszeichnete.
»Wenn du nicht sofort verschwindest, peitsche ich dich vom Kirchhof! Du hast hier nichts verloren. Deine Familie hat schon immer lieber dem Teufel den Hintern geleckt, als dem Herrgott ehrfürchtig zu danken!«
»Das stimmt nicht!«, begehrte der Junge auf. »Das sagt Ihr nur, um mich vor Gabrielle schlechtzumachen!« In seinem Blick lag jetzt Verzweiflung. »Gabrielle, sag deinem Vater, dass wir uns lieben, dass wir «
»Schweig, du Hund!« Travis, Gabrielles Verlobter, war hinzukommen. Sein Gesicht war zu einer Fratze der Wut verzerrt, als er mit seinem Stiefel zutrat.
Der Junge ging zu Boden, hob schützend die Arme, aber Travis trat ein weiteres Mal zu. Immer wieder trat er auf den Jungen ein.
Gabrielles verzweifelter Blick galt ihrem Vater. »Bitte, tu doch etwas!«, flüsterte sie.
Antoine beschloss, sich großzügig zu zeigen. »Halt ein, Travis. Der junge Tölpel ist verwirrt. Er hat seine Abreibung bekommen.«
Travis nickte, trat aber noch ein letztes Mal mit der Stiefelspitze zu und traf die Schläfe des bereits Bewusstlosen.
Der rührte sich nicht mehr. Blut sickerte aus seiner Kopfwunde.
Travis streckte sich, sah Beifall heischend in die Menge und fragte: »Nun? Glaubt noch jemand, mir meine zukünftige Braut nehmen zu wollen?«
Hochrufe wurden laut, seine Leute klatschten Travis auf die Schultern.
Ein Kreischen ertönte. Aus der Menge kam eine Frau herangelaufen. Antoine kannte sie, weil er früher Fisch bei ihr gekauft hatte. Es war die Mutter des Jungen. Sie warf sich über den Bewusstlosen, rief immer wieder seinen Namen.
»Pépin, komm zu dir! Bitte sag doch was! Pépin!«
»Lassen Sie mich mal sehen!« Der Dorfarzt war hinzugetreten und schob die weinende Mutter beiseite.
Niemand hielt besonders viel von dem Arzt. Kleinigkeiten kurierte man lieber allein aus, als sich in seine vom Alkoholgenuss zitternden Hände zu begeben. Aber eines traute man ihm doch zu: den Tod festzustellen. Dabei hatte er sich noch nie geirrt.
Der Doktor fühlte Puls und Herzschlag des Jungen, dann schüttelte er den Kopf und hievte sich hoch.
»Er ist tot«, stellte er fest. »Ein bedauernswerter Unfall.«