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Nadine Berger spürte den Schmerz mit jeder Faser ihres Körpers.
Barfuß schritt sie durch das grüne, saftige Gras, dessen Halme sich sanft im warmen Frühlingswind wiegten. Es herrschte Nacht in Avalon.
Die ehemalige Schauspielerin hatte die Präsenz einer vertrauten Person gefühlt, die auf dem Glastonbury Tor stand und Einlass begehrte.
In Nadines Hals bildete sich ein Kloß. Sie musste helfen. Vielleicht ignorierte sie deshalb die Zeichen der Gefahr ...
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Seitenzahl: 160
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Finale auf der Nebelinsel
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Wuerz
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5542-0
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
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Finale auf der Nebelinsel
(3. Teil)
von Ian Rolf Hill
Nadine Berger spürte den Schmerz mit jeder Faser ihres Körpers.
Barfuß schritt sie durch das grüne, saftige Gras, dessen Halme sich sanft im warmen Frühlingswind wiegten. Es herrschte Nacht in Avalon, doch die Temperaturen veränderten sich kaum im Vergleich zum Tage. Genauso wenig wie die Nebelinsel von den Jahreszeiten abhängig war.
Die ehemalige Schauspielerin hatte die Präsenz einer vertrauten Person gefühlt, die auf dem Glastonbury Tor stand und Einlass begehrte. Normalerweise war es keinem Sterblichen möglich, die Grenzen zwischen den Dimensionen zu überwinden.
Die Schuld aus einem anderen, früheren Leben zwang Nadine dazu, sich dem Mann zu offenbaren. Dem Mann namens Bill Conolly, der seine tote Frau auf den Armen hielt. Sheila.
In Nadines Hals bildete sich ein Kloß. Sie musste helfen und für den Freund da sein, das war sie ihm und seiner Frau schuldig.
Vielleicht ignorierte sie deshalb die Zeichen der Gefahr …
Obwohl sie den Dunklen Gral nicht bei sich trug, öffnete sich das Tor in die andere Welt.
Es hatte die Form eines spitz zulaufenden Rundbogens und entsprach somit dem Durchgang innerhalb der Turmruine, die von der Abtei St. Michael’s übrig geblieben war.
Und dahinter, zwischen träge dahinziehenden Nebelschleiern sah Nadine die Gestalt des Reporters stehen. Auch er hatte die Frau erkannt, deren Seele einst im Körper eines Wolfs gefangen gewesen war. Bei den Conollys hatte Nadine damals Zuflucht gefunden und war infolgedessen zur Beschützerin des kleinen Johnny geworden.
Johnny, der in einer fremden Dimension verschollen war. Niemand wusste, ob er lebte oder bereits tot war. Auch dieser Umstand nagte an der ehemaligen Schauspielerin und verstärkte ihre Schuldgefühle. Das Gefühl, die Familie Conolly im Stich gelassen zu haben, zermürbte ihren Geist.
Bill setzte sich in Bewegung, doch so leicht konnte es Nadine ihm nicht machen. Auch wenn sie sich nichts sehnlicher wünschte, als den Reporter in den Arm zu nehmen, so musste sie den ehernen Gesetzen dieser Insel Tribut zollen.
Sie trat ihm im offenen Durchgang entgegen und versperrte ihm den Weg. Sie lächelte traurig, als er verdutzt stehen blieb, die Mimik ein einziges Fragezeichen.
»Nadine, was …?« Seine Stimme klang so schwach und brüchig, dass sie einen Stich in Höhe des Herzens fühlte.
Nur zu gut erinnerte sie sich an die Szene bei den Flammenden Steinen, als sie wie aus einem tiefen Schlaf erwacht war und den Reporter zum ersten Mal nach Sheilas Tod wiedergesehen hatte. Sie war zutiefst erschrocken gewesen, was aus ihm geworden war. Ein Schatten seiner selbst. Gezeichnet von der Trauer und dem unendlichen Schmerz.
Wie oft hatten er und Sheila vom Fluch der Conollys gesprochen? Oft im Scherze, manchmal grüblerisch und bisweilen sogar verzweifelt. Doch dass der Fluch sie einmal derart schrecklich einholen könnte, damit hatten sie alle nicht gerechnet. Am allerwenigsten wohl Bill Conolly selbst, der vermutlich der Ansicht gewesen war, wenn es jemanden aus der Familie erwischte, dann ihn.
Immerhin war er es, der sich häufig an die vorderste Front wagte. Doch Sheila und Johnny waren trotz allem die schwächeren Glieder in der Kette des Sinclair-Teams. Das hatten ihre Gegner schon früh erkannt und immer wieder auf perfide Weise ausgenutzt.
Der Krug geht bis zum Brunnen bis er bricht, lautete ein Sprichwort. Und dieser Krug war aufs Grausamste gebrochen. Mit dem grässlichen Knacken einer berstenden Halswirbelsäule.
Und sie, Nadine, war nicht da gewesen, um die Familie zu beschützen, wie sie es zuvor so oft getan hatte. Nicht nur als Wölfin, auch später, als sie schon auf Avalon, ihrer neuen Heimat, weilte. Hatte sie die Conollys nicht vor der Jenseitskutsche gerettet und sogar die blonde Bestie Justine Cavallo in ihre Schranken gewiesen?
Letztendlich war alles umsonst gewesen. Was konnte sie jetzt noch tun? Wieso kam Bill mit dem Leichnam seiner Frau, die sie längst begraben hatten? Und warum …
Ihre Gedanken stockten. Warum war der Körper nicht verwest? Warum zeigte das Gesicht der Freundin einen derart schrecklichen Ausdruck der Qual? Lag es an der Dunkelheit, oder hatte die Haut der Leiche tatsächlich einen blauen, metallischen Glanz?
»Was ist los, Nadine? Warum sagst du nichts?« Bills Stimme vibrierte wie eine Klaviersaite, die kurz vorm Reißen war. Der Reporter stand unter maximaler Anspannung, und Nadine konnte es ihm nicht verdenken.
Sie schüttelte leicht den Kopf. »Warum hast du das getan?«, hauchte sie ergriffen. »Warum hast du Sheila hierhergebracht?«
»Warum?«, fragte er leise mit erstickter Stimme. »Warum? Damit sie Frieden findet, Herrgott noch mal!«, schrie er.
Nadine zuckte bei dem unerwarteten Ausbruch zusammen. Mit einer derart heftigen Reaktion des Reporters hatte sie nicht gerechnet. Verlegen strich sie über den Stoff des blauen Kleids, dessen Saum bis zu den Knöcheln reichte.
Es war ein schlichtes Kleidungsstück, das aber dennoch feierlich aussah. Eine angemessene Tracht für eine Bewohnerin der Nebelinsel. Der seidenweiche Stoff umwehte Nadines Körper wie ein Dunstschleier.
»Aber wir haben sie doch beerdigt. Wir beide standen gemeinsam vor ihrem Grab. Wieso glaubst du, dass sie dort keinen Frieden findet?«
Bill schluchzte und kniff die Augen zusammen. »W …weil … weil sie es mir gesagt hat.«
»Was?«, schnappte die ehemalige Schauspielerin.
»Ja, ja, ja, genau so ist es. Du hast dich nicht verhört. Sie … sie hat es mir gesagt. Sie hat mich angerufen. Mich angefleht, sie aus dem Grab zu holen und nach Avalon zu bringen. Nur hier könne ihre Seele Frieden finden.«
»Aber … aber das ist doch Irrsinn, Bill.« Kaum, dass sie diese Worte ausgesprochen hatte, bereute sie sie auch schon, denn sie erkannte an der Reaktion des Reportes, dass sie ihn schwer getroffen hatten.
»Wie kannst du so etwas sagen, Nadine? Waren wir nicht immer gut zu dir? Haben wir dir nicht ein Zuhause gegeben, als du heimatlos im Körper eines Wolfs umhergestreift bist? Haben wir dir nicht Liebe geschenkt?«
Nadine wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, bevor sie erwiderte: »Doch natürlich. Es … es tut mir leid. Aber«, sie deutete fahrig auf den Leichnam mit dem verzerrten Gesicht, »schau sie dir doch an. Sie ist nicht einmal ver …«
Verwest, hatte sie sagen wollen, doch im letzten Augenblick schluckte sie die Silbe hinunter und biss sich buchstäblich auf die Zunge. Sie wich unwillkürlich zurück, als Bill mit der Toten auf den Armen auf sie zukam. Nicht, weil sie sich vor ihr fürchtete oder sich gar schämte. Es war etwas anderes, das Nadine mit einem Mal einen kalten Schauer über den Rücken rieseln ließ.
Seit sie auf Avalon weilte und zur Hüterin des Dunklen Grals geworden war, konnte man die ehemalige Schauspielerin als durchaus sensitive Person bezeichnen. Sie hatte ein feines Gespür für Menschen und Magie gleichermaßen. Deshalb hatte sie auch den Schmerz des Reportes so klar und deutlich wahrgenommen, als wäre es ihr eigener. Doch da war noch etwas, das ihr unvermittelt entgegenbrandete wie der eisige Wind des Atlantiks.
Die pure Bosheit!
Nadine blieb stehen und breitete die Arme aus. Sie war plötzlich eiskalt und biss die Zähne aufeinander. Ohne dass sie in einen Spiegel sah, wusste sie, dass ihre Augen schockgrün aufflammten.
»Bleib stehen, Bill Conolly. Du wurdest getäuscht. In diesem Körper ist keine Seele. Er ist leer. Es ist nur noch die Hülle der Frau, die du geliebt hast. Schau sie dir an. So sieht niemand aus, der ein Jahr im Grab gelegen hat.«
Bills Gesicht glänzte feucht von dem Schweiß, der ihm vom Haaransatz über die bleiche Haut rann. Zu dem Ausdruck der Qual und des Schmerzes gesellte sich noch eine weitere Empfindung hinzu: die kalte Wut.
Er wusste offenbar, dass er nicht so leicht an Nadine vorbeikam, und bückte sich, um Sheila auf den Boden zu legen. Ein Wunder, dass er ihren toten Körper überhaupt so lange hatte halten können. Ein Beweis mehr für Nadine Berger, dass hier etwas nicht stimmte.
»Mag sein«, murmelte Bill. Gebückt kauerte er über seiner Frau, präsentierte der Hüterin von Avalon Rücken und Hinterkopf.
Zärtlich strich er Sheila die blonden Haare aus der Stirn. Im Angesicht ihres starren Totengrinsens ein mehr als bizarrer Anblick. Grauenerregend traf es besser.
Bill ging in die Hocke, näherte sein Gesicht dem der Toten und presste die Lippen auf die ihren. Nadine wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte, sie fühlte Rührung und Abscheu zugleich. Auch ihre sensitiven Sinne befanden sich in einem inneren Widerstreit zwischen dem Wunsch, zu helfen und dem Drang, eine drohende Gefahr von Avalon abzuwenden. Eine nicht fassbare, diffuse Bedrohung, die sie nicht zu konkretisieren vermochte.
Ein ziehender Schmerz in ihrem Bauch warnte sie, aber sie wusste nicht, wovor. Vor dem blutroten Licht am Fuß des Hügels? Vor der toten Sheila? Oder gar vor Bill Conolly?
Der richtete sich langsam auf und gab den Blick wieder frei auf den Leichnam, dessen Augen weiterhin offen standen und glanzlos in eine imaginäre Ferne blickten. Stumpf, seelenlos, leer …
Nein, nicht leer. War da nicht ein Licht in ihnen?
Nadine runzelte die Stirn. Kein Zweifel, ein grünlich-gelbes Flackern, als würde der Schein eines Feuers in den Pupillen reflektieren. Doch nirgends brannte ein Solches. Nein, dieses Feuer, kam direkt aus den Augen und wäre allein diese Tatsache nicht schon völlig absurd, wusste Nadine plötzlich, um was für Flammen es sich handelte: Höllenfeuer.
Wie von der Tarantel gebissen fuhr sie auf, spannte die Muskeln – und erstarrte, als sie in das dunkle Mündungsloch der Beretta blickte, die Bill auf ihren Kopf richtete.
»Schluss mit dem Geplänkel«, knurrte er. »Bring mich zu Merlin, oder Avalon wird zu deinem Grab werden.«
***
Der Geheimagent Ben Essex traute seinen Augen nicht.
Alles in ihm schrie danach, wegzulaufen! Raus aus diesem Horror-Keller, weg von der Ruine, irgendwohin, wo es keine Monster, Dämonen, Teufel – oder was auch immer – gab.
Am besten in die Kirche. Er war gewiss kein gläubiger Mensch und schon gar kein Chorknabe. Er hatte selbst bereits Dinge getan, wofür ihm vermutlich ein Platz in der Hölle gewiss war, obwohl er davon überzeugt war, auf der richtigen Seite zu stehen.
Doch jetzt, von Angesicht zu Angesicht mit diesem riesigen Fliegenmonstrum wollte er sich nur noch verkriechen. Woher das Untier so plötzlich gekommen war, wusste er nicht. Gemeinsam mit Sandra und Suko hatte er das Gewölbe unter der Klosterruine betreten, war aber mit dem Mädchen vor der Gruft stehen geblieben, aus der dieses unwirkliche orangerote Leuchten kam.
Er hatte noch die Stimme des Inspektors vernommen, dem Partner von Oberinspektor John Sinclair, mit dem er, Essex, hierher nach Peelham gekommen war. Dabei hatte er sich gewundert, dass Suko offenbar Selbstgespräche führte, und dann riss seine Erinnerung unvermittelt ab.
Im nächsten Moment war Suko wie vom Erdboden verschwunden. Stattdessen stand Ben vor dieser Monstrosität, die flankiert von zwei Teufelsstatuen in dem Gewölbekeller hing. Gefesselt von grünschwarzen, schleimigen Fäden, die zu einer harten Masse getrocknet waren. Als hätte eine riesige Spinne ihre Beute eingesponnen.
Die Beretta hielt er weiterhin in der Faust, als wäre sie mit seiner Hand verwachsen. Seit dem Überfall der Eulen und dieser schleimigen Tentakel würde er sie so schnell auch nicht mehr wegstecken.
Und Sandra? Das Mädchen kniete mit seinem weißen, mittlerweile stark mitgenommenen und verschmutzten Kleid unter dem Schädel der Abscheulichkeit und starrte ausdruckslos zu ihr hinauf, als lausche es einer unsichtbaren Stimme. Hatte die Szene ohnehin schon etwas beklemmend Surreales, so wurde die Irrealität durch Sandras blonde Zöpfe, die Kniestrümpfe und die kleinen Lackschühchen noch verstärkt.
Als betrachtete er den Ausschnitt einer Horror-Version von »Alice im Wunderland«.
Ben wollte eine Frage stellen, doch die Stimme versagte ihm, sodass er sich erst räuspern musste. Danach klappte es besser. »Sandra. Was tust du da? Wo ist Suko?«
Die Kleine, die vielleicht neun oder zehn Jahre alt sein mochte, drehte den Kopf und sah den Agenten über die Schulter hinweg an. Ihre Augen waren wieder so schwarz, dass es ihm kalt den Rücken hinunterlief. Langsam erhob sich Sandra, hielt die Arme dicht vor ihren Bauch, sodass Ben sie nicht sehen konnte.
Als sie sich umdrehte, wanderten sie automatisch auf den Rücken. Versteckte sie etwas vor ihm? Aber was?
Ben schüttelte den Kopf. Sein Puls raste, und er schwitzte, als würde er in einer Sauna stecken. Gott, er hielt das nicht mehr lange aus. Sollte er all das hier einigermaßen unversehrt überstehen, würde er nicht nur den Dienst beim MI5 quittieren, sondern auch lange, sehr lange, Urlaub machen. Endlich für die Familie da sein. Seine Tochter aufwachsen sehen …
Mit drei schnellen Schritten war Sandra bei ihm, blieb dicht vor ihm stehen und legte den Kopf in den Nacken. »Er ist in der Hölle!«, spie sie hervor, und die Worte klirrten vor Hass und Kälte. »Und du wirst ihm jetzt dorthin folgen!«
Ben wusste nicht, wie er auf diesen Ausbruch reagieren sollte. Die Situation überforderte ihn. Obwohl Sandras Gesicht eine Fratze der Bosheit war, konnte er den Blick immer noch nicht von dem Fliegenmonster abwenden. Merkwürdig, aber er wurde den Eindruck nicht los, dass die Worte von dieser Kreatur formuliert worden waren, die Sandra nur als Mittlerin missbrauchte.
Hatte Suko nicht gesagt, dass die Bewohner von Peelham von einem Teufel namens Beelzebub besessen waren? Jenem Beelzebub aus der Bibel, den er zumindest aus dem Sprichwort kannte, in dem es hieß, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben?
Und vor ihm standen zwei Teufelsstatuen.
Was, zur Hölle, hatte das alles zu bedeuten?
Ein hysterisches Lachen drängte in ihm hoch und blieb ihm regelrecht in der Kehle stecken. Ein heftiger Druck in seinem Bauch nahm ihm die Luft zum Atmen. Starke Übelkeit wallte in ihm auf, und dann kam der Schmerz. Er war grausam und endgültig, schien ihn in der Mitte auseinanderzureißen. Die Sicht verschwamm, und das Fliegenmonster – Beelzebub? – verschwand hinter einem Schleier aus Tränen.
Die Knie begannen zu zittern. Ben hatte das Gefühl, seine Knochen würden aufweichen. Langsam, wie an der Schnur gezogen, senkte er den Blick. Sein Gehirn benötigte mehrere Herzschläge lang, bis es begriff, was er verschwommen wahrnahm.
Sandra stand immer noch dicht vor ihm. Doch sie hatte den linken Arm hinter dem Rücken hervorgeholt und drückte ihre kleine Faust gegen seine Bauchdecke.
Nur warum tat es so weh?
Die Lippen des Mädchens zogen sich über ihre winzigen Zähne zurück. Sie bleckte ihr Gebiss und grinste dem Agenten boshaft ins Gesicht.
Dann zog sie mit einem Ruck den Arm zurück, und etwas Dunkles, Glattes und zugleich Längliches glitt aus seinem Bauch. Ein gleißender Schmerz durchfuhr ihn, überdeckte sekundenlang die Übelkeit, und ihm wurde schwarz vor Augen. Grelle Lichtexplosionen zerplatzten in der Finsternis, und als sich die Sicht wieder klärte, sah er Sandras hassverzerrte Fratze auf Augenhöhe direkt vor sich.
Er war auf die Knie gefallen und spürte, wie das Blut aus dem Schnitt strömte wie Wasser aus dem Hahn. »Wa … warum?«, gurgelte er.
Er wollte noch mehr sagen, doch das Sprechen wurde zur Qual, sein Herz raste.
Das Gesicht seiner Tochter, wie sie ihn mit ihren kleinen Milchzähnchen anlachte, schob sich über die Fratze von Sandra Forbes. Dahinter erschien das liebevolle Lächeln seiner Frau.
Oh Gott, er durfte doch hier nicht sterben. Er musste kämpfen. Für seine Familie. Hatte dieser Inspektor – wie hieß er noch gleich? – nicht Kräfte, die es ihm ermöglichten, Wunden allein durch Handauflegen zu heilen?
Er musste nur durchhalten. Er wollte Sandra wegstoßen, die Hand mit der Beretta heben, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Er spürte weder Arme noch Beine, dafür kroch eine klamme und irgendwie klebrige Kälte in ihm hoch, fror ihn auf der Stelle ein.
Die Gesichter von Frau und Tochter wurden beiseite gewischt. Sandras höhnisch grinsende Fratze erschien in seinem Blickfeld. Mit dem Arm vollführte sie eine schnelle Geste von rechts nach links. Der Schmerz im Bauch schwand sekundenlang. Etwas schnürte ihm die Kehle zu, während eine dunkle Flüssigkeit unter dem Kinn hervor in das Gesicht des Mädchens spritzte.
Ihr Lachen hörte er nur gedämpft. Eine warme, metallisch schmeckende Flüssigkeit füllte seinen Mund aus. Plötzlich fühlte er sich unendlich leicht und sah sich selbst auf dem Boden knien. Eine Kaskade dunkelroten Blutes strömte ihm aus dem Hals über Brust und Bauch, färbte Hände und Arme des Mädchens rot und besudelte auch das Kleid.
Schmerzen spürte er keine.
Als diese sein Gehirn erreichten, war er längst tot.
***
Suko riss sich mit geradezu übermenschlicher Anstrengung zusammen, um nicht laut aufzubrüllen, zu toben und wie ein Irrer herumzuschreien. Nach all dem war ihm beim Anblick seines besten Freundes nämlich zumute.
Seines Freundes John Sinclair, der als deformierter Klumpen bestehend aus Fleisch, Blut und Knochen über die wie geleckt aussehende Straße von Lauder kroch. Die Wirbelsäule musste wie ein Korkenzieher gewunden sein, die Arme verdreht, sodass er sich lediglich mit den Ellenbogen abstützen konnte. Die Finger standen in alle möglichen und unmöglichen Richtungen ab, als hätte ein Kind wahllos Wachsmalstifte in einen Klumpen Knete gesteckt.
Ein hoher wimmernder Ton drang aus dem Mund des Geisterjägers, und Suko wurde bei diesen Lauten schwindelig. Für mehrere Augenblicke starrte er auf die menschenunwürdige Szenerie, kniete am Rand der Straße, während stumm die Tränen aus seinen Augen liefen.
Sehen konnte sein Freund ihn nicht, denn Suko hatte bei seinem Höllensturz geistesgegenwärtig die Krone der Ninja aufgesetzt, die wie eine Tarnkappe funktionierte und ihn unsichtbar machte.
Fraglich blieb, ob John ihn ohne die Krone gesehen, beziehungsweise wahrgenommen hätte. Wichtig war in diesen Momenten allerdings nur, dass ihn keine der drei anderen Personen sah. Vor dem Geisterjäger standen nämlich dessen Eltern Mary und Horace F. Sinclair oder zumindest diejenigen, die sich für sie ausgaben, denn beide waren schon vor Jahren gestorben.
Sie verhöhnten John, machten sich über ihn lustig, während sie ihn spöttisch anfeuerten wie einen Hund, dem sie Kunststücke beibrachten. Doch mehr noch als Johns Eltern, bei denen es sich vermutlich um Dämonen handelte, interessierte Suko die Person, die langsam hinter John her schlenderte und ein breites, süffisantes Grinsen zur Schau stellte.
Matthias!
Der Höllensohn fühlte sich als der große Sieger. Und das zu Recht!
Er hatte gewonnen. Asmodis mochte John in die Hölle gestoßen haben, doch Matthias hatte ihn im wahrsten Sinn des Wortes gebrochen. Er hatte seine speziellen Kräfte, die ihm von Luzifer persönlich verliehen worden waren, eingesetzt und John zu einem verkrüppelten Haufen Fleisch gemacht. Eine Leichtigkeit für ihn, denn man hatte John zuvor das silberne Kreuz, das ihn stets vor Luzifer und Matthias geschützt hatte, abgenommen.
Suko hatte es zum Glück wiedergefunden und trug es sogar bei sich, doch er war zu spät gekommen. Fortan würde er den Kampf gegen die Mächte der Finsternis alleine austragen müssen. Selbst wenn es ihm gelang, den Freund aus der Hölle zu befreien, würde dieser körperlich kaum in der Lage sein, die Arbeit fortzusetzen.
Es war vorbei. Die Hölle hatte gesiegt!
Die Erkenntnis traf Suko mit der Wucht von Kugeleinschlägen, und beinahe hätte er sich übergeben. Im letzten Augenblick riss er sich zusammen. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Ein Erbe seiner Mentalität, vielleicht auch das Ergebnis der Erziehung und Ausbildung im Shaolin-Kloster.