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Die Apokalypse wurde von Blitz und Donner begleitet. Aus dicken schwarzen Wolken zuckten die Entladungen, die das Firmament für Sekundenbruchteile aufrissen. Und doch fiel kein einziger Tropfen Regen vom Himmel.
Logan schrak zusammen, als ein besonders großer Blitz niederfuhr, in den sich übergangslos das Krachen des Donners mischte. Hastige Schritte auf dem Flur und ein wehleidiges Heulen drangen durch die geschlossene Tür in das Schlafzimmer des Neunzehnjährigen. Ohne nachzusehen wusste er, dass sich keine Menschenseele auf dem Korridor aufhielt.
Die Geister von Glamis Castle waren in Aufruhr ...
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Seitenzahl: 159
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Engelstöter
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Ballestar/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6626-6
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Engelstöter
von Ian Rolf Hill
Die Apokalypse wurde von Blitz und Donner begleitet.
Aus tiefhängenden schwarzen Wolken zuckten die Entladungen, die das Firmament für Sekundenbruchteile aufrissen und ebenso schnell verschwanden, wie sie aufgeflammt waren. Das Bemerkenswerte an diesem Naturphänomen war die Trockenheit, mit der es sich abspielte. Kein einziger Tropfen Regen fiel vom Himmel.
Logan schrak zusammen, als ein besonders großer Blitz niederfuhr, in den sich übergangslos das Krachen des Donners mischte. Hastige Schritte auf dem Flur und ein wehleidiges Heulen drangen durch die geschlossene Tür in das Schlafzimmer des Neunzehnjährigen. Ohne nachzusehen wusste er, dass sich keine Menschenseele auf dem Korridor aufhielt.
Die Geister von Glamis Castle waren in Aufruhr …
Als Sohn des Earls of Strathmore, der in diesem historischen Gemäuer aufgewachsen war, in dem schon die Queen ihre Kindheit verbracht hatte, kannte er natürlich die Geschichten über die Geister und Gespenster, die jedes Jahr ganze Busladungen von Touristen anzogen.
Nur dass es eben nicht bloß Geschichten waren.
Die Geister existierten wahrhaftig, obwohl sie nicht oft zu hören und noch seltener zu sehen waren. Er selbst hatte sie erst vor anderthalb Jahren zu Gesicht bekommen, kurz bevor seine Mutter auf tragische Weise ihr Leben verlor. Seitdem war seines komplett aus dem Ruder gelaufen.
Mit Alkohol und Drogen hatte er den Schmerz über ihren gewaltsamen Tod zu überwinden versucht. Sich kopfüber in das Nachtleben von Dundee gestürzt und Trost in den Armen von Prostituierten gesucht, die meist deutlich älter gewesen waren als er.
Seiner Familie gegenüber hatte er sich vollständig verschlossen. Wie hätte er mit seinem Vater oder seiner Großmutter über diese Dinge sprechen sollen? Über die Geister und Dämonen, die in jenen schicksalhaften Nächten das Schloss heimgesucht und den Tod nach Glamis Castle gebracht hatten?
Sein Bruder Colin, der kurz nach den tragischen Ereignissen seinen zwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte und nun selbst Anspruch auf den Titel des Earls hatte, hatte sich in Konventionen geflüchtet. Er gab sich nach außen als souveräner Aristokrat, dem der Ruf der Familie Boleyn-Crawford wichtiger schien als alles andere. Früher hatten sie über alles reden können und gemeinsam harmlose Streiche ausgeheckt, mit denen sie die Dienstboten, allen voran den Butler Cameron, geneckt hatten.
Auch Cameron war gestorben, kurz nachdem Jack the Runner, einer der Geister, Logan fast zu Tode erschreckt hatte. Seine Mutter hatte alles darangesetzt, ihre Kinder vor dem Grauen zu bewahren, und war schließlich selbst Opfer jenes Dämons geworden, der in den Katakomben des Schlosses gehaust hatte. Jahrhundertelang war er gebannt gewesen, bis das Geheimnis des verborgenen Zimmers gelüftet worden war und ihre Familie ins Unglück gestürzt hatte.1)
Obwohl Sir Mortimer die besten Psychologen für seine Söhne engagiert hatte, hatten auch diese nicht zu verhindern gewusst, dass Logan in die Drogenabhängigkeit abdriftete. Sein Vater war in jener Zeit oft in London gewesen, um seinen dortigen Pflichten nachzugehen, immerhin hatte er als Earl of Strathmore einen Sitz im House of Lords.
Und so oblag es Colin, seinen Bruder zu maßregeln und die Wogen zu glätten, die sein ungebührliches Verhalten verursachten. Es hatte die Boleyn-Crawfords viel Geld und Einfluss gekostet, dass Logan mit seinen Eskapaden nicht von der Presse bloßgestellt wurde. Doch erst jener Vorfall mit Mary, der Küchenhilfe ihrer Köchin Margarete, hatte ihn wachgerüttelt.
Fast ein Jahr Therapie in den besten Einrichtungen Schottlands, und er war zumindest so weit stabil, dass er nach Glamis Castle hatte zurückkehren können. Seine Familie gab sich alle Mühe, ihm zu helfen. Vor allem seine Großmutter, Lady Blair, war ihm dabei eine große Hilfe, zeigte Verständnis und erdolchte ihn nicht mit vorwurfsvollen Blicken voller Enttäuschung, wie sein älterer Bruder sie ihm zuwarf. Auch wenn dieser glaubte, Logan würde es nicht bemerken.
Trotz der langen Therapie war Logan weit davon entfernt, geheilt zu sein. Besonders die Nächte waren die Hölle. Abgesehen von dem Suchtdruck und der damit einhergehenden anhaltenden Schlaflosigkeit war es vor allem die Angst, die den Puls in die Höhe schnellen ließ.
Seine Kehle fühlte sich rau und ausgedörrt an. Er sehnte sich nach einem Schluck Wasser und traute sich doch nicht, sein Schlafgemach zu verlassen. Mehr als der Durst plagte ihn aber das Verlangen nach den Tabletten oder wenigstens einem Glas Whisky. Die Innenflächen seiner Hände waren klebrig, und er ballte sie so fest zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervorsprangen und sich die Nägel in das Fleisch des Ballens gruben. Der Schmerz linderte das Bedürfnis kaum.
Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
Wieder zuckte ein Blitz über den schwarzen Himmel, und was er in seinem Licht sah, ließ ihm das Mark in den Knochen gefrieren. In dem stroboskopartig flackernden Schein, der die sorgsam gestutzten Bäume, Sträucher und Hecken aus der Finsternis schälte, erkannte er die Gestalt eines Menschen. Keine der kunstvollen Marmorstatuen, die überall auf dem Anwesen verteilt standen, sondern ein echter Mensch, der in der Dunkelheit durch den Garten schlich. Oder vielleicht doch ein Geist?
Der grollende Donner entlockte ihm ein erschrockenes Keuchen. In der anschließenden Stille klang das harte Hämmern an die Tür noch lauter. Abermals entfleuchte ein leiser Schrei des Entsetzens seinen spröden Lippen, und er fuhr wie von der Tarantel gebissen auf der Stelle herum. Alles in ihm drängte danach, sich wieder in sein Bett zu verkriechen, die Decke über den Kopf zu ziehen und zu warten, bis die Sonne aufging.
Trotzdem hielt ihn etwas davon ab, genau das zu tun.
Es war mehr als bloße Neugier, die ihn dazu trieb sich der Tür des modern eingerichteten Zimmers, das er seit Kindestagen bewohnte, zu nähern. Er fühlte sich wie ferngesteuert. Wie eine Marionette, und er fragte sich automatisch, wer der Puppenspieler war, an dessen unsichtbaren Fäden er hing.
Auf nackten Sohlen tapste er über den dichten Teppich, der verhindern sollte, dass sich die Schlossbewohner auf dem Steinfußboden klamme Füße holten. Seine Hand zitterte, als er sie auf die Klinke legte. Sie war eiskalt!
Kälter als normal. Als würden Minusgrade im Schloss herrschen, was selbst im Winter nicht der Fall war. Und schon gar nicht jetzt im Sommer. Gleißendes Licht zuckte durch den dunklen Raum und warf Logans Schatten gegen die Innenseite der Tür. Die Umrisse der Möblierung erschienen an den Wänden, verschmolzen aber ebenso schnell wieder mit der Finsternis, wie sie aufgetaucht waren.
Schon wetterte der Donner gegen das dicke Gemäuer.
Ein kalter Hauch streifte seinen Nacken, ein hohes Kichern drang an sein rechtes Ohr. Logan schrie, wirbelte herum und erkannte für die Spanne eines Lidschlags die helle, durchscheinende Gestalt einer Frau. Dann wurde die Tür von außen aufgestoßen und flog so dicht an seinem Gesicht vorbei, dass er den Luftzug spürte. Das Türblatt versperrte die Sicht auf das Gespenst.
Dafür nahm er im Augenwinkel einen weiteren schemenhaften Umriss wahr, der sich mit raschen Schritten entfernte, als Logan sich umwandte.
Von Grauen gepackt floh er aus dem Zimmer. Hals über Kopf rannte er durch den Flur, begleitet vom hellen Licht der Blitze, die jetzt im Sekundentakt vom Himmel zuckten. Der Donner brachte die hohen Scheiben entlang des Korridors zum Beben. Es hörte sich an wie ein Bombardement.
Im Laufen presste sich Logan die Hände auf die Ohren, taumelte vorwärts, die Treppe hinunter in das Vestibül. Doch er rannte weder zum Portal noch in Richtung der Bibliothek. Stattdessen wandte er sich dem Trakt mit den Wirtschaftsräumen zu, an den sich der feudale Speiseraum anschloss. Dort befand sich auch der Wintergarten, von dem aus er in den großen Schlosspark gelangte. Logan riss die Türen so hastig auf, dass sie gegen die Wände schlugen.
Atemlos hetzte er in den Garten.
Dieser war für die Touristen gesperrt und wurde von mannshohen Hecken gesäumt, die wie ein kleines Labyrinth angelegt worden waren, zwischen denen sich vereinzelt Bäume erhoben und tagsüber Schatten spendeten. Bänke luden zum Verweilen ein. Logan ignorierte sie ebenso wie die weißen Marmorstatuen.
Noch immer fiel kein einziger Tropfen Regen zur Erde, doch selbst wenn es wie aus Kübeln gegossen hätte, hätte sich Logan nicht davon abhalten lassen, hinaus ins Freie zu laufen. Obwohl die gleißenden Blitze weiterhin unablässig aus den Wolken zuckten und den Park taghell beleuchteten.
Logan ignorierte den Schmerz, den die Kieselsteine an den nackten Füßen verursachten. Sturmböen schlugen ihm entgegen, zerrten an der spärlichen Kleidung, die nur aus Boxershorts und T-Shirt bestand. Die Bäume und Sträucher bogen sich unter den Naturgewalten.
Mit flackerndem Blick suchte Logan den Geist von Jack the Runner, der ihn nach draußen gelockt hatte. Er drehte sich auf der Stelle, schaute am Gemäuer empor zum Fenster des geheimen Zimmers, hinter dem sich ein bleiches Gesicht abzeichnete, das starr zu ihm hinab stierte.
Straff zurückgebundenes Haar, eingefallene Wangen und tief in den Höhlen liegende Augen verliehen dem Antlitz etwas Totenschädelartiges.
Der Schreck lähmte seine Glieder. Wie angewurzelt blieb Logan stehen. Die Arme sanken hinab, und er konnte den Blick einfach nicht von der bleichen Gestalt abwenden. Unendlich langsam begann er den Kopf zu schütteln, während die Tränen in langen Bahnen über seine Wangen strömten und sein Stichfeld trübten.
»Nein, nein, nein …«
Er wimmerte und wich zurück. Nach wenigen Schritten stießen seine Fersen gegen einen schweren, weichen Widerstand. Logan stolperte und fiel. Er flog über das Hindernis hinweg und setzte sich unsanft auf den Hintern. Mit den Händen stützte er sich im Kies ab.
Die bleiche Silhouette jenseits der Fensterscheibe des verborgenen Zimmers geriet augenblicklich in Vergessenheit. Er hatte nur noch Augen für die hagere Gestalt von Hamish Stepford, dem Gärtner, der mit verdrehten Gliedern vor ihm lag.
☆
»Mummy, ich hab Angst!«
Joel stand barfuß in der offenen Tür des Schlafzimmers, in der Hand den plüschigen Löwen, den er von seiner Oma geschenkt bekommen hatte. Davina McCarthy richtete sich im Bett auf und tastete nach der Nachttischlampe. Verschlafen strich sie sich die langen blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dabei hätte sie das Licht gar nicht anschalten müssen, denn auch so war es hell genug, was an den beständig vom Himmel zuckenden Blitzen lag, die von grollendem Donner begleitet wurden.
Die Chefinspektorin runzelte verwunderte die Stirn.
Dass sie bei diesem Lärm überhaupt hatte schlafen können, war merkwürdig, ebenso dass Joel sich vor dem Gewitter fürchtete, beziehungsweise es offen zugab. Immerhin war er mit seinen acht Jahren fast ein Mann, und echte Kerle hatten keine Angst.
Zumindest zeigten sie sie nicht. Eine von vielen stupiden Dummheiten, die ihm sein Vater in schöner Regelmäßigkeit alle vierzehn Tage einimpfte. Rein rechnerisch blieben ihr dann locker zwölf Tage, um ihm diesen Nonsens wieder auszureden. Allerdings war sie nebenbei noch die Leiterin der Mordkommission Dundee, und auch wenn die Stadt im Norden Schottlands nicht mit London, Edinburgh oder Glasgow zu vergleichen war, so hatte Davina dennoch mehr als genug zu tun.
»Es ist nur ein Gewitter, Joel. Außerdem zieht es an Dundee vorbei, so wie sich das anhört.«
»K …kann ich nicht bei dir schlafen?«, fragte er mit zittriger Stimme, und Davina konnte förmlich hören, wie schwer es ihm fiel, diese Frage zu stellen. Von der Vorderseite des Schlafanzugoberteils ihres Sohnes warf ihr Ezra, der jugendliche Held der Trickserie STAR WARS REBELS, einen kecken Blick zu.
Sie seufzte innerlich und musste unwillkürlich lächeln.
»Also schön«, sagte sie und schlug die Decke beiseite. »Aber lass es nicht zur Gewohnheit werden, mein Lieber.«
»Nein, bestimmt nicht.«
Erleichtert sprang er ins Bett und berührte mit seinen Zehen ihre entblößte Wade.
»Gott, du bist ja eiskalt. Seit wann stehst du da schon herum?«
Er zuckte mit den Schultern. »Du hast so tief geschlafen. Und ich hab mich nicht getraut, dich zu wecken.«
»Zieh dir das nächste Mal einfach ein paar Socken über, und dann kommst du einfach rein, ja?«
»Okay.«
Davina schaltete das Licht wieder aus und ließ sich zurück ins Kissen sinken. Wenig später vernahm sie die leisen, regelmäßigen Atemzüge Joels, der sofort eingeschlafen sein musste.
Na prima, dachte sie missmutig. Dafür bin ich jetzt hellwach. Was tut man nicht alles für sein Kind?
Die Mittvierzigerin lächelte und beobachtete die Blitze unter den halb heruntergezogenen Jalousien. Das Gewitter schien tatsächlich nördlich von Dundee vorbeizuziehen. Und wieder wunderte sie sich darüber, dass Joel sich davon so hatte beeindrucken lassen. Andererseits wusste sie, wie sensibel er sein konnte, auch wenn er gerne den harten Mann spielen wollte. Dabei hatte er eher was von Harry Potter als von James Bond.
Wieder wurden ihre Gedanken durch Blitz und Donner abgelenkt. Komisch, dass es überhaupt nicht regnet, schoss es ihr durch den Kopf. Vielleicht zieht das Unwetter gerade in Richtung von Glamis Castle.
Seit den verhängnisvollen Ereignissen vor anderthalb Jahren, bei dem ihr damaliger Partner ums Leben gekommen war, gab es ein unsichtbares Band, das sie mit dem Schloss und seinen Bewohnern verknüpfte.2)
Unsinn, schalt sie sich in Gedanken und wollte aufstehen, um die Jalousie herunterzuziehen. Doch ihre Beine fühlten sich träge und schwer wie Blei an, ebenso wie ihre Lider, die sich über den Augen schlossen. Joels gleichmäßiger Atem begleitete sie in den Schlaf.
Sie hatte gar nicht auf die Uhr gesehen, wie spät …
Das schrille Klingeln, ihres Diensthandys schnitt so scharf in ihr Bewusstsein, dass sie mit einem leisen Schrei hochschreckte. Draußen ballte sich immer noch die Dunkelheit und wurde auch nicht mehr von grellen Blitzen erhellt. Dafür schlief Joel jetzt so tief und fest, dass er selbst durch das Handy-Gebimmel nicht wach wurde.
Du Glücklicher, sinnierte Davina und griff nach dem Smartphone, um den Anruf entgegenzunehmen. Allein schon, damit ihr Sohn nicht doch noch aus dem Schlaf gerissen wurde.
»Ja bitte?«, raunte sie leise in den Hörer, war aber trotzdem verstanden worden.
»Inspektor McAllister, Sir. Es gibt ein Problem.«
Beth McAllister war ihr neuer Attaché, mit dem sie mittlerweile nun schon über ein Jahr zusammenarbeitete. Fünfzehn Jahre jünger, vollkommen teamunfähig und ehrgeizig von der Schuhsohle bis zum Scheitel. Wenn sie anrief, war vermutlich das gesamte vereinigte Königreich in Gefahr. Davina machte gar nicht erst den Versuch, ihr Seufzen zu unterdrücken.
»Was ist los, Beth, dass Sie mich mitten in der Nacht aus dem Bett klingeln? Wurde die Queen entführt?«
»Da wir die Mordkommission leiten, sollte Ihnen klar sein, dass dieses Kind bereits in den Brunnen gefallen ist.«
Davina entging keineswegs, dass ihre engste Mitarbeiterin im Plural gesprochen hatte, als sie die Leitung der Mordkommission erwähnte. Dabei war der Posten der Chefinspektorin für Beth lediglich eine weitere Stufe auf dem langen Weg zum Amt des Superintendenten, das bislang noch von ihrem Boss Cutter bekleidet wurde, der bereits die Jahre bis zu seiner Pensionierung zählte.
»Wer ist das Opfer?«
»Ein gewisser Hamish Stepford. Und er sieht wirklich übel aus.«
Ein rascher Blick über die Schulter zu Joel, dann schwang Davina vorsichtig die Beine aus dem Bett. Ebenso behutsam stand sie auf, wobei sie die Decke sorgfältig über ihren Sohn drapierte, der schräg auf der Matratze lag. Sie lächelte versonnen, trotz der wenig erbaulichen Mitteilung, die sie gerade von Beth bekommen hatte.
»Okay, wo muss ich hin?«
Ihr Lächeln zerbrach, als sie die Antwort erhielt.
»Glamis Castle.«
☆
Sie trafen sich abseits der Dimensionen.
In einem Reich zwischen den Welten, das kein Sterblicher betreten konnte, ohne dem Wahnsinn zu verfallen und unmittelbar danach zugrunde zu gehen. Doch die beiden Geschöpfe waren keine gewöhnlichen Männer, obschon sie einst welche gewesen waren, ehe mächtigere Entitäten sie mit einer Macht ausgestattet hatten, die jenseits menschlichen Begriffsvermögens lag.
Im Prinzip waren sie Feinde, obwohl sie ähnliche Interessen und Ziele verfolgten. Aus diesem Grund hatten sie ihre Differenzen beigelegt und sich zu einem Treffen verabredet.
Der schwarzgekleidete Mann mit den ebenmäßigen Gesichtszügen und den blauen Augen, deren Blick kälter war als Gletschereis, erschien als Erster am Treffpunkt. Er stand auf einem Felsbrocken, der frei durch die lichtlose Schwärze driftete, die den Wartenden an einen Dämon erinnerte, der nicht gerade zu seinen Freunden zählte. Und das nicht allein deshalb, weil dieser vor Kurzem erst versucht hatte, ihn zu vernichten.
Zeit hatte an diesem Ort keine Bedeutung, und trotzdem hatte der Mann das Gefühl, schon eine Ewigkeit zu warten, als die Schwärze von einem grellen Blitz durchbrochen wurde, der die Finsternis spaltete. Es knisterte und knackte, als wäre das Vakuum, das hier anstelle einer atembaren Atmosphäre herrschte, elektrisch aufgeladen.
Gleißende Helligkeit füllte den entstandenen Spalt, aus dem ein hochgewachsener Mann mit markantem Kinn und blondem Schopf dem Wartenden entgegentrat.
»Du kommst spät!«, stellte der Schwarzgekleidete mit schneidender Stimme fest.
Der Neuankömmling lächelte mokant. »Ich wurde aufgehalten.«
Es war eine Lüge, das wusste der Dunkelhaarige nur zu gut, immerhin galt sein Herr und Meister als die Personifizierung selbiger. Es war Bestandteil ihrer Ränkespiele, die unter ihresgleichen fast schon zum guten Ton gehörten. Oder besser gesagt, zum bösen?
Der Schwarzgekleidete erwiderte das Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte. Im Gegenteil sie funkelten noch kälter und verachtender.
»Du spielst ein gefährliches Spiel, Metatron.«
»Tun wir das nicht immer?«, antwortete der in Ungnade gefallene Engel und seufzte larmoyant, als wäre er unendlich müde.
»Komm zur Sache. Ich habe nicht viel Zeit.«
Diese Aussage brachte Metatron zum Lachen, das in der Stille blechern klang und regelrecht schepperte. Es schürte den Zorn seines Gesprächspartners, dessen Augen aufflammten, als wollten sie Blitze verschießen.
»Was hast du denn so Dringendes vor? Dem Sohn des Lichts eine weitere Falle stellen, aus der er in letzter Sekunde gerettet wird?«
Der Schwarzgekleidete trat so schnell an den Engel heran, dass sich ihre Gesichter beinahe berührten. »Du glaubst, du wüsstest alles und würdest sämtliche Geheimnisse der Hölle kennen. Doch hüte dich, Metatron. Luzifer beobachtet dich, und sein Geduldsfaden wird dünner. So wie meiner. Schon bald wirst du dich für eine Seite entscheiden müssen. Wähle die richtige, oder es wird dein Untergang sein.«
Metatron verzog die Lippen zu einem verzückten Lächeln. »Oh, wie sehr ich diese subtilen Drohungen vermisst habe.« Seine Miene wurde abrupt ernst. »Nun gut. Ich verrate dir, weshalb ich dich sprechen wollte. Du selbst warst der Stein des Anstoßes, der zu den Ereignissen führte, in deren Folge etwas in Bewegung geriet, dessen Konsequenzen selbst für mich nicht absehbar sind.«
Der Schwarzgekleidete trat zurück und breitete generös die Arme aus, präsentierte dem Engel, der auch als Stimme Gottes bezeichnet wurde, seine offenen Handflächen.
»Du hast meine ungeteilte Aufmerksamkeit.«
»Es geht um den Engelstöter!«
Die Gesichtszüge des dunkelhaarigen Mannes entgleisten, und Metatron genoss sichtlich die Überraschung seines Gegenübers, bevor er ihm den Plan verriet, auf dem ihr Pakt basierte und den sie per Handschlag besiegelten.
☆
Davina McCarthy zog sich an, schrieb eine Notiz, die sie neben ihren Sohn auf das Kopfkissen legte und verließ das Haus, um nebenan zu klingeln. Es dauerte nicht lange, bis eine ältere Frau im Morgenmantel mit hochgesteckten Haaren und verschlafen blinzelnden Äuglein in der Tür erschien. Sie gähnte ausgiebig und sah demonstrativ auf ihre Armbanduhr.
»Kind, es ist halb fünf Uhr Morgens.«
»Sorry, Mum. Ich such mir die Zeiten nicht aus.« Davina hob bedauernd die Schultern.
»Was soll’s. Schläft Joel noch?«