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Arnie Shamrock grunzte genervt, als ihn das anhaltende Schrillen der Türklingel, das aus dem Erdgeschoss drang, aus seiner frühmorgendlichen Entspannung riss. Er griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Das verängstigte Wimmern des Mädchens, das bis eben noch den fensterlosen Raum erfüllt hatte, verstummte abrupt. Shamrock wälzte sich von der abgewetzten Couch und erhob sich schnaufend.
Zur Hölle, dachte er. Wer auch immer der Idiot sein mochte, der zu dieser frühen Morgenstunde ein derartiges Theater veranstaltete, er konnte sich auf etwas gefasst machen.
In Pantoffeln stapfte Shamrock die gewundene Kellertreppe hinauf.
Durch die Lücken zwischen den vor die Fenster gezogenen Gardinen sickerte grelles Sonnenlicht und verriet ihm, dass es später war, als er angenommen hatte.
Trotzdem kein Grund, solch einen Terror zu veranstalten ...
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Lykaons Söhne
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Volodymyr Tverdokhlib; tsuneomp/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8055-2
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Lykaons Söhne
von Ian Rolf Hill
Arnie Shamrock grunzte genervt, als ihn das anhaltende Schrillen der Türklingel, das aus dem Erdgeschoss drang, aus seiner frühmorgendlichen Entspannung riss. Er griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Das verängstigte Wimmern des Mädchens, das bis eben noch den fensterlosen Raum erfüllt hatte, verstummte abrupt.
Shamrock wälzte sich von der abgewetzten Couch, erhob sich schnaufend und zog die Jogginghose hoch.
Zur Hölle, dachte er. Wer auch immer der Idiot sein mochte, der zu dieser frühen Morgenstunde ein derartiges Theater veranstaltete, er konnte sich auf etwas gefasst machen.
In Pantoffeln stapfte Shamrock die gewundene Kellertreppe hinauf.
Durch die Lücken zwischen den vor die Fenster gezogenen Gardinen sickerte grelles Sonnenlicht und verriet ihm, dass es später war, als er angenommen hatte.
Trotzdem kein Grund, solch einen Terror zu veranstalten …
Arnie zerrte die Tür auf und musste blinzeln, weil er durch die Strahlen der Sonne geblendet wurde. Daher sah er die Umrisse des Besuchers nur schemenhaft.
»Was fällt …?«
Der Rest des Satzes blieb Arnie im Halse stecken, denn jetzt erkannte er, dass sein ungebetener Gast weiblich war. Bildhübsch und verdammt jung. So, wie er sie mochte. Augenblicklich ergriff Erregung von ihm Besitz. Vor allem, als er merkte, dass die blutjunge Frau mit dem lockigen blonden Haar, das wellig auf die Schultern fiel, nicht allein war.
Sie hielt ein ungefähr achtjähriges Mädchen in einem hellblauen Kleid an der Hand. Es hatte den Kopf gesenkt, sodass er nur den dunkelblonden Schopf sehen konnte, der zu dicken Zöpfen geflochten war. So jung, so zart, so unschuldig.
Das leise Weinen des Mädchens war Musik in seinen Ohren.
»Bitte Mister«, sagte die Ältere, vermutlich die Schwester der Kleinen. »Wir … wir haben uns verlaufen. Wir wollten mit dem Bus zu Oma und Opa … aber wir haben die Haltstelle verpasst. Und dann haben wir unser Geld verloren, und das Handy ist leer. Der Akku, meine ich.« Ihre Stimme zitterte, als stünde sie kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Ach, wenn sie es doch täte. Er mochte es, wenn sie weinten und dabei diese abgehackten Schluchzer ausstießen. Das Gör war vielleicht fünfzehn oder sechzehn, auf alle Fälle noch minderjährig. Er warf einen Blick über die Köpfe der beiden Mädchen hinweg, doch die Straße lag wie ausgestorben da. Sehr gut. Vermutlich hatten sie schon an anderen Häusern geklingelt, dort aber keinen Erfolg gehabt. Natürlich nicht, schließlich waren seine Nachbarn bei der Arbeit, brachten ihre Kinder zur Schule oder taten weiß der Teufel was.
Womit auch immer diese Schafe eben ihre Zeit vergeudeten.
»Na, na, na, kein Grund zur Panik.« Er lächelte freundlich und bemerkte zufrieden, wie sich das blonde Luder entspannte und ihre kleine Schwester aufhörte, zu heulen. Er hatte schließlich lange genug üben müssen, um dieses Lächeln zu perfektionieren.
»Kommt erst mal rein.« Er trat von der offenen Tür zurück und gab den Weg frei.
»Danke, Mister«, flüsterte das Blondchen und schob ihre Schwester ins Haus. »Nun geh schon!«, sagte sie sanft. Bevor Arnie die Tür ins Schloss drückte, warf er einen letzten Blick auf das gegenüberliegende Haus. Dort rührte sich nichts, aber das hatte er auch nicht erwartet.
Die Spencers waren das Paradebeispiel für kleinbürgerliche Spießigkeit. Puritaner wie sie im Buche standen. Immerhin hatten sie eine leckere Tochter, gleichwohl ihm Grace mit ihren siebzehn Jahren fast schon zu alt war.
Arnie Shamrock zog die Tür rasch zu, denn am Ende der Straße bog eben ein schwarzer Lincoln um die Ecke. Es fehlte ihm noch, dass später jemand bezeugen konnte, dass die Mädchen in seinem Haus verschwunden waren. Nicht, dass er etwas zu befürchten gehabt hätte, es war einfach nur lästig.
Er drehte sich um und sah, dass das Blondchen verboten kurze Hotpants trug. Ihre nackten Beine schimmerten seidig. Sie waren bestimmt ganz weich und glatt. Wie zart mochte erst ihr Schwesterchen sein.
Die beiden Mädchen standen unschlüssig in der Diele, und Arnie bemerkte den Blick der Älteren, die sich für die offene Kellertür zu interessieren schien.
Keine Bange, mein Herzblatt, du wirst mein Spielzimmer schon früh genug zu Gesicht bekommen.
Das Kind drückte sich eng an seine ältere Schwester und lugte schüchtern hinter ihrer Hüfte hervor.
Er machte eine einladende Geste in Richtung Küche. »Ihr seid bestimmt durstig. Wollt ihr was trinken? Ach, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Arnold Shamrock, aber ihr dürft mich Arnie nennen. Und wer seid ihr?«
»D…Denise«, stammelte die Fünfzehnjährige und deutete auf das Mädchen. »Das hier ist Lasarina.«
»Lasarina«, flüsterte Arnie und lauschte dem Klang, der wie Musik in seinen Ohren widerhallte.
»Ein schöner Name. Woher stammt er?«
»Aus Bulgarien.«
Denise bugsierte das Kind in die Küche, wo sie sich an den runden Küchentisch setzte. Es sah sich unbehaglich um, und seine große Schwester musste seine Hand beinahe mit Gewalt losreißen.
»Oh, das ist weit. Kommt ihr denn aus Bulgarien?«
Denise schüttelte den Kopf. »Nein, aber unsere Großeltern.«
Er grinste. »Also seid ihr Schwestern.«
Das Blondchen schien ein wenig aufzutauen, denn es schenkte ihm jetzt ebenfalls ein Lächeln und beugte sich dabei auf dem Stuhl sitzend zu Lasarina hinunter, um ihre Wange an die des Mädchens zu legen. »Ja, sieht man uns das nicht an?«
Arnie schürzte die Unterlippe und strich sich durch die Haare. »Hm, ein wenig.«
»Ja, ich komme mehr nach Daddy«, plapperte Denise fröhlich weiter. »Lasarina mehr nach unserer Mutter, beziehungsweise eher nach Opa, stimmt’s Rina?«
Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern und starrte unverwandt auf ihre Hände, die sie mit gespreizten Fingern auf die Wachstischdecke gelegt hatte.
»Willst du was trinken, Lasarina?«, fragte Arnie, der in der Tür stehen geblieben war.
Das Mädchen zögerte, traute sich offenbar nicht ihn anzusehen. Erst als Denise ihre Schwester ermutigte, nickte das Kind schüchtern.
»Was möchtest du denn? Saft, Limonade oder lieber einen Kakao?«
Lasarina sah zur Seite und blickte Denise fragend an, die laut vernehmlich seufzte. »Sie nimmt Orangensaft, wenn Sie haben.«
»Na klar. Und was möchtest du haben, Denise?«
»Eine Cola vielleicht?«
»Eine Cola. Dürfte kein Problem sein.« Er zwinkerte ihr zu und stellte sich so vor den Kühlschrank, dass sie nicht hineinsehen konnte. Die wirklich delikaten Dinge bewahrte er zwar woanders auf, aber sie mussten ja dennoch nicht gleich sehen, wie einseitig er sich ernährte.
Er holte den Plastikbehälter mit dem Orangensaft und eine Dose Cola heraus. Letztere reichte er Denise, die sie ihm aus der Hand nahm, wobei er es so einrichtete, dass sie seine Finger berühren musste. Es schien ihr nichts auszumachen.
Ja, dachte er. Du bist bestimmt kein Unschuldsengel. Im Gegensatz zu deinem zuckersüßen Schwesterchen.
Arnie holte ein Glas aus dem Hängeschrank, stellte es Lasarina vor die Nase und schenkte ihr ein. Gierig griff das Kind mit beiden Händen danach und trank in großen Schlucken.
»Wo kommt ihr denn her?«, fragte er und setzte sich jetzt ebenfalls.
Denise hob die Schultern. »Von der Küste.« Sie senkte die Lider und öffnete die Dose. Zischend schäumte ein wenig Cola unter der Lasche hervor und sickerte in die Rinne am Deckel. Schlürfend trank das Mädchen den ersten Schluck.
»Wollt ihr es mir nicht sagen?« Arnie verlieh seiner Stimme einen unbekümmerten Ton.
»Ist doch egal, wo wir herkommen, oder nicht?«
Beinahe hätte er gegrinst, stattdessen bemühte er sich, ernst und sorgenvoll dreinzublicken.
»Sagt mal, kann es sein, dass ihr von zu Hause weggelaufen seid?«
Lasarina stellte das Glas mit dem Orangensaft so heftig ab, dass es fast umkippte. Im letzten Augenblick wurde es von Denise aufgefangen.
»Pass doch auf!«, tadelte diese ihre Schwester.
Lasarina verzog das Gesicht, als wollte sie erneut anfangen zu weinen.
»Ich … will wieder zurück!«, jammerte das Mädchen, und dicke Tränen kullerten über seine Bäckchen.
»Das geht nicht! Hast du vergessen, was Daddy uns angetan hat?«
»Aber … aber er hat es doch bestimmt nicht so gemeint. Er hat mich lieb, hat er gesagt.«
»Ja«, zischte Denise. »Das hat er bestimmt, der kranke Drecksack. Weißt du, was der mit uns macht, wenn wir zurückkommen? Weißt du das?«
Lasarina antwortete nicht, sondern fing an zu heulen wie ein Schlosshund.
»Scheiße«, fluchte Denise und sah Arnie entschuldigend an. »Entschuldigen Sie, Mister. Es tut mir so leid. Am besten wir gehen wieder.« Sie traf Anstalten, sich zu erheben, und legte dabei einen Arm um die Schultern ihrer Schwester.
Arnie stand so ruckartig auf, dass er fast den Stuhl umgeworfen hätte. »Nein, nein. Alles okay. Aber mir scheint, dass ihr echt in Schwierigkeiten steckt. Wenn ich also irgendwie helfen kann …«
Denise verharrte mitten in der Bewegung, drückte Lasarina fest an ihre Brust und sah ihren Gastgeber über den Kopf ihrer Schwester hinweg nachdenklich an. Plötzlich schimmerten Tränen in ihren Augen. »Wir …« Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Ihr wisst nicht, wo ihr hin sollt, oder? Es gibt gar keine Großeltern, zu denen ihr hin könntet.«
Denise zog die Nase hoch. »Doch, aber da wird er uns als Erstes suchen.«
Arnie nickte verständnisvoll und tat, als würde er angestrengt nachdenken. Schließlich hob er den Kopf und lächelte. »Wenn ihr wollt, dann könnt ihr für eine Weile hierbleiben. Ich wohne alleine, und es macht mir wirklich nichts aus. Morgen können wir dann in Ruhe überlegen, was wir machen.«
Denise senkte den Blick. »Ich weiß nicht. Wir kennen Sie ja kaum. Ich … ich glaube, das ist keine gute Idee.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Komm, Lasarina. Wir gehen.«
Arnie war enttäuscht. Er wollte etwas sagen, doch das Mädchen kam ihm zuvor.
»Ich muss mal auf Klo.«
Denise seufzte und sah ihn flehend an. »Können …, äh, dürften wir bitte Ihre Toilette benutzen?«
»Natürlich«, erwiderte er jovial und deutete auf die Küchentür. »Draußen neben der Treppe ist ein kleines Bad.«
»Danke.« Denise nickte und nahm Lasarina bei der Hand.
Arnie erhob sich ächzend und atmete tief ein, als die Mädchen an ihm vorbeigingen. Ihr süßlicher Duft verursachte ihm eine Gänsehaut. Langsam folgte er den Schwestern und beobachtete, wie diese in dem Bad verschwanden.
Kurz darauf kam Denise wieder heraus und schloss die Tür hinter sich. Sie zuckte zusammen, als Arnie plötzlich dicht vor ihr stand. Das Blondchen wollte sich seitlich an ihm vorbeidrücken, doch er streckte den Arm aus und stemmte die Faust gegen die Wand.
»Wollt ihr es euch nicht noch mal überlegen?«
Denise wich seinem Blick aus. »Nein, wirklich. Das geht nicht, Mister.«
Er grinste anzüglich, griff mit der rechten Hand nach der Klinke des Badezimmers und öffnete die Tür einen Spaltbreit.
Lasarina quiekte erschrocken, was Arnie aber nicht kümmerte. Er wollte nur den Schlüssel aus dem Schloss ziehen, damit er von außen abschließen konnte.
»W…was soll das?«, fragte Denise, und ihre Unterlippe fing an zu zittern. »Machen Sie wieder auf. B…bitte …«
»Später, meine Kleine. Erst werden wir uns ein wenig unterhalten.«
»Aber worüber denn? Das haben wir doch schon.«
Er beugte sich näher zu ihr herunter. »Ich möchte aber gerne mehr von dir wissen, Denise.« Er senkte den Kopf und starrte auf ihre Brüste unter dem weißen T-Shirt. Er richtete sich auf und griff nach den Aufschlägen ihrer Lederjacke.
»Weißt du, die Benutzung meiner Toilette ist nicht ganz umsonst. Und die Cola und den Orangensaft musst du auch bezahlen.«
»A…aber wir haben doch gar kein Geld.«
Er grunzte amüsiert. »Das weiß ich. Und du kleines Miststück weißt genau, dass ich nicht von Geld spreche, oder?«
Denise atmete hörbar und tief ein. Sie hob den Kopf, erwiderte seinen Blick, und plötzlich lag da etwas Kaltes, Berechnendes in ihren Augen. Er wusste doch, dass die Kleine nicht so prüde war, wie sie tat. Nicht so wie die Spencer-Schlampe von gegenüber.
»Da sollte aber ein bisschen mehr rausspringen, als nur ne Cola, ein Saft und ne Sitzung auf dem Scheißhaus!«
Er hob die Schultern und nickte. »Mal sehen wie du dich so anstellst. Wenn du dir Mühe gibst, lasse ich vielleicht noch ein paar Doller springen.«
Arnie ließ eine Hand über den Stoff ihres T-Shirts gleiten, Denise wand sich, und er lachte leise. »Zier dich nicht so!«
»Tu ich gar nicht!«, erwiderte sie trotzig. »Aber geht’s nicht bequemer? Ich hab keine Lust, es im Flur zu machen, während meine Schwester nebenan ist.«
Er bleckte die Zähne und zog die halb offene Tür zur Kellertreppe auf. »Nach dir, mein Schätzchen. Jetzt zeigt dir Arnie sein Spielzimmer. Es wird dir gefallen. Du wirst es gar nicht mehr rauswollen. Das verspreche ich dir.«
Denise beugte sich zur Seite und spähte auf die holzgetäfelte Stiege. Dann zuckte sie mit den Schultern und stiefelte mit wiegenden Hüften die Stufen hinunter.
Arnie grinste. Oh ja, das kleine Luder hatte es faustdick hinter den Ohren.
Vielleicht war es sogar ihre Masche irgendwelche alleinstehenden Kerle auf diese Weise abzuzocken. Zu dumm nur, dass sie sich dieses Mal den Falschen ausgesucht hatte. Er würde ihr letztes Opfer sein, so viel stand fest.
Wenn du wüsstest, wer ich wirklich bin, würdest du nicht so mit dem Arsch wackeln, dachte er voller Vorfreude und folgte ihr.
Dass er von Lasarina keinen Mucks mehr hörte, fiel ihm in seiner Gier gar nicht auf.
☆
»Pass auf, Dad!«
Grace beugte sich vor und stützte sich mit der Hand am Armaturenbrett ab. Doch Maxwell Spencer hatte das Mädchen längst gesehen, das ohne zu gucken einfach auf die Straße rannte, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her.
Zum Glück fuhr er nicht allzu schnell, das tat er nie. Schon gar nicht hier, wo sie wohnten. Obwohl die meisten Kids bereits älter waren, gab es genug Haustiere, die sich nicht um Verkehrsregeln scherten. Brauchten sie auch nicht, denn hier war die Welt noch in Ordnung. Hier träumten die Menschen den Traum vom American Way of Life nicht, hier lebten sie ihn.
Eine Kleistadtidylle wie aus dem Bilderbuch.
Die Nachbarn kümmerten sich noch umeinander, und einmal im Jahr wurde sogar ein großes Straßenfest veranstaltet, dessen Vorbereitungen bereits in vollem Gange waren.
Heute Abend aber fiel ein Schatten auf die Idylle. In Form eines kleinen Mädchens, das plötzlich aus Maxwells Sicht verschwand, als es stolperte und dicht vor dem Jeep Cherokee auf die Straße vor der Garagenauffahrt stürzte.
Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, und sekundenlang schloss er die Augen und betete innerlich zum Herrgott, dass er die Kleine nicht erwischt hatte. Er hob die Lider erst wieder, als er das Geräusch hörte, mit dem seine Tochter den Gurt löste und die Beifahrertür öffnete.
»Grace, warte!«, rief er, doch da war sie längst aus dem Auto gesprungen und um den Kühler herumgelaufen.
Warum hätte sie auch warten sollen? Sie mussten schließlich nachgucken, ob die Kleine verletzt war. Und wo war sie überhaupt hergekommen?
Maxwells Blick fiel automatisch auf das Haus von Arnold Shamrock, der gegenüber wohnte. Die Tür war verschlossen und von dem Nachbarn nichts zu sehen. Auch hinter den Fenstern rührte sich nichts. Zumindest, soweit er erkennen konnte. Viel war das nicht, da das Licht der tiefstehenden Sonne sich in den Scheiben spiegelte.
Auch sonst befand sich niemand im Freien. Nirgends spazierten Leute herum oder stand ein fremdes Fahrzeug in der Auffahrt, das den Eltern des Mädchens gehören konnte.
Merkwürdig …
Das Jammern des Kindes beruhigte Maxwell im gleichen Maße, wie es ihn aufwühlte. Einerseits war er froh, dass das Mädchen noch in der Lage war zu weinen, zum anderen aber hoffte er, dass es nicht verletzt war.
»Pst, Kleine. Alles okay, ich bin ja da. Mein Name ist, Grace. Komm, ich helfe dir.«
Stolz erfüllte Maxwell, als er sah, wie sich seine siebzehnjährige Tochter, um das ungefähr siebenjährige Mädchen kümmerte. In diesen Sekunden erinnerte Grace ihn wieder an seine erste Frau, ihre Mutter, und ein Stich der Trauer und der Sehnsucht fuhr ihm durch die Brust.
Gott, wie er Elisabeth vermisste …
Nicht, dass er Pamela nicht liebte, aber sie war nun einmal nicht Graces Mutter. Und so erfolgreich sie auch war, ihr fehlte einfach diese Herzenswärme, die Beth ihrer Tochter zum Glück mit in die Wiege gelegt hatte.
Grace kniete mit einem Bein auf dem Asphalt und strich dem Mädchen das dunkelblonde Haar aus dem verheulten Gesicht.
»Ist sie verletzt?«, fragte Maxwell mit klopfendem Herzen und atmete erleichtert auf, als Grace den Kopf schüttelte, sodass ihre goldenen Kreolen unter dem offen auf die Schultern fallenden Haar aufblitzten.
»Ich … ich glaube nicht.« Sie sah ihn an. »Hast du gesehen, wo sie herkam?«
»Eben nicht«, platzte es aus ihm heraus. »Ich gehe mal zu Arnie rüber. Vielleicht weiß der, wo die Kleine hingehört.«
»Ich bring sie erst mal rein.« Grace stand auf und nahm das Mädchen an die Hand, das sich bereitwillig auf die Füße ziehen ließ. Es hatte aufgehört zu weinen und schien der Teenagerin zu vertrauen.
Maxwell Spencer stand neben dem Kotflügel und blickte seiner Tochter hinterher, wie sie mit dem Kind auf die Haustür zuging.
Wie Beth und Grace, als diese noch klein gewesen war, dachte er wehmütig.
Er wollte sich abwenden, als ihm seine Tochter über die Schulter zurief: »Und fahr den Wagen von der Straße, Dad!«
»Aye, Ma’am!«, rief er grinsend, und sofort wurde ihm leichter ums Herz. Als ob sie seine Gedanken gelesen oder geahnt hatte, dass er eine kleine Aufmunterung gebrauchen konnte. Er fuhr den Cherokee rasch auf die Einfahrt und eilte dann hinüber zu Arnie Shamrock.
Er war alleinstehend und arbeitete als Übersetzer und Verfasser von Gebrauchsanweisungen und Sicherheitsbroschüren. Maxwell fiel es schwer, sich vorzustellen, dass man sich davon ein Haus leisten konnte, doch angeblich hatte Shamrock ein bisschen Geld von seiner verstorbenen Mutter geerbt.