John Sinclair 2145 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2145 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Rückkehr in die Totenstadt

Morgens beim Frühstück erreichte mich der Anruf meiner russischen Kollegin Karina Grischin. "Ihr müsst sofort kommen, John!", sagte sie. "Rasputin und Chandra haben wieder zugeschlagen!"
Die beiden Namen versetzten Suko und mich in höchste Alarmbereitschaft, denn wir wussten, dass etwas Schreckliches im Gang war, wenn diese zwei Gegner im Spiel waren. Wir begaben uns nach Russland und nach Zombieville, einem Ort, mit dem ich nur grausige Erinnerungen verband! Dort erwarteten uns der Mensch-Dämon und die Kugelfeste ‒ und eine ganze Armee Untoter, die nach Menschenfleisch gierten!

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Seitenzahl: 136

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

Cover

Impressum

Rückkehr in die Totenstadt

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Selin Serhii/shutterstock

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-8395-9

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Rückkehr in die Totenstadt

von Ian Rolf Hill

Der Mann, den man »das Reptil« nannte, schlug die Augen auf und lauschte.

Die Dunkelheit, die ihn umgab, wurde nur von einem schmalen Lichtstreifen unterbrochen, der unter der Tür durchsickerte. Kein Laut drang aus dem dahinterliegenden Flur in die winzige Zelle, in der das Reptil seit Jahren dahinvegetierte.

Als Staatsfeind und Terroristen hatte man ihn abgestempelt, angeklagt und verurteilt. Danach war er in dieses Loch im Westen Sibiriens, nördlich des Polarkreises, gesteckt worden. Wer hier inhaftiert war, konnte jede Hoffnung fahren lassen, der kam nie wieder frei.

Bis auf das Reptil!

Er spürte, dass sich seine Gefangenschaft dem Ende näherte.

Oberst Leonid Jaschin verzog die strichdünnen Lippen zu einem erwartungsvollen Lächeln …

»Was ist denn jetzt los?«

Konstantin Saizew rollte auf dem Schreibtischstuhl zurück und wandte den Kopf, um seinen Kollegen anzuschauen. Dessen Gesicht war im fahlen Licht des Mondes, das durch das Fenster ihrer Baracke fiel, nur schemenhaft zu erkennen.

Vladislav Borissow stand auf und angelte nach der Kalaschnikow, die an der Wand lehnte. »Ein Stromausfall, das siehst du doch.«

»Ich sehe gar nichts«, lautete Konstantins Antwort.

»Eben!«

Der blonde Soldat spürte das drückende Gefühl der Furcht in seinem Magen, und das verunsicherte ihn. Er hasste es, Angst zu haben, und reagierte auf diese Empfindung in der Regel mit Wut und Aggression.

»Red keine Scheiße, Vladi! Das ist doch nicht normal. Warum springen die Notstromaggregate nicht an?«

»Das müssen wir eben herausfinden! Und jetzt komm!«

Vladislav Borissow, ein Hüne, dessen dichter Vollbart die gesamte untere Gesichtshälfte verbarg, setzte die Fellmütze auf und öffnete die schwere Tür der Baracke. Dahinter befand sich ein schmaler Steg. Der führte zum innersten der insgesamt fünf Sicherheitszäune, die das Hochsicherheitsgefängnis umgaben. Dort standen die Dieselgeneratoren, die dafür sorgen sollten, dass die Polareule stets mit Energie versorgt wurde.

Schließlich saßen hier knapp achthundert von Russlands schwersten Jungs ein.

Kalter Wind schlug Vladislav und Konstantin ins Gesicht, obwohl es Sommer war. Doch hier oben, nördlich des Polarkreises, wurde es nie richtig warm.

Die beiden Soldaten, die in der Zentrale Nachtwache hatten, waren kaum aus der Tür getreten, als das aufgeregte Heulen und Kläffen der Wachhunde an ihre Ohren drang.

Die Tiere befanden sich direkt hinter der äußeren Umzäunung und reagierten auf jedes noch so kleine Geräusch. Selbst wenn es nur ein dämliches Rentier war, das sich von der Herde entfernt hatte.

Doch Konstantin glaubte nicht daran, dass sich ausgerechnet, wenn der Strom ausfiel und die Notstromaggregate versagten, irgendwelche Viecher hierher verirrten.

Das konnte durchaus ein Angriff sein.

Sein Puls beschleunigte sich, als er an die Berichte einiger Kollegen dachte, die ihm von einem Vorfall erzählt hatten, der schon ein paar Jahre zurücklag.

Damals war die Polareule angeblich von einem Rudel mutierter, intelligenter Wölfe angegriffen worden. Sie hatten es nur auf die Aufseher und Soldaten abgesehen gehabt. Es waren zwar auch ein paar Gefangene verletzt und getötet worden, aber niemand war entkommen.1)

Nicht, dass Konstantin das beruhigt hätte.

Er bezeichnete sich zwar als harten Burschen, doch das bedeutete noch lange nicht, dass er lebensmüde war. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, einschließlich Vladislav, legte Konstantin keinen Wert auf Abenteuer. Er genoss das relativ ruhige Leben in Salechard, der nächstgelegenen Ortschaft.

Wie aus dem Nichts kam ein heftiger Sturm auf, der an ihren Militärmänteln zerrte. Dabei stand nicht eine Wolke am Himmel, dessen Sternenzelt ein atemberaubendes Panorama bot. Doch auch dafür hatte Konstantin keinen Blick.

»Das glaub ich einfach nicht!«, rief Vladislav und starrte mit offenem Mund an seinem Kameraden vorbei in die Höhe. Konstantin drehte sich langsam um und legte den Kopf in den Nacken, um dem Blick seines Kollegen zu folgen.

Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und plötzlich wusste er, woher der böige Wind stammte. Wie ein vorzeitliches Ungeheuer schob sich der schwarzen Schatten hinter dem Wachturm in die Höhe.

Die Umrisse des Monstrums waren länglich und zugleich klobig.

Bei Vladislav fiel die Kopeke zuerst.

»Das … das ist ein Hubschrauber!«, stammelte er.

»Unmöglich«, platzte es aus Konstantin hervor. »Kein Hubschrauber ist in der Lage, vollkommen lautlos zu fliegen.«

Und doch stand der Beweis schräg über ihm am Himmel.

Nicht allein, dass kein Laut von dem Fluggerät zu hören war, es flog auch völlig ohne Positionslichter. Was das für ein Helikopter war, konnte man aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse nicht erkennen.

Für Konstantin lag jedoch auf der Hand, dass die Besatzung keine guten Absichten hegte.

Erst der Stromausfall, jetzt der Hubschrauber.

Da musste ein Zusammenhang bestehen. Also waren die Leute an Bord der stählernen Libelle seine Feinde. Konstantin wollte die Kalaschnikow bereits in den Anschlag bringen, als ein zweiter Helikopter in ihr Sichtfeld schwebte.

Ein Schauer lief dem hartgesottenen Soldaten über den Rücken.

Wie ein Hai, der einen sterbenden Wal umkreist, dachte er mit Schrecken.

Knatternde Schüsse gesellten sich zu dem erbarmungswürdigen Winseln und Kläffen der Köter, den bislang einzigen Geräuschen in der ansonsten herrschenden gespenstischen Stille.

Weder Konstantin noch Vladislav hatten geschossen, sondern ihre Kollegen von den Wachttürmen. Die Soldaten nahmen den zweiten Hubschrauber unter Feuer, in dessen offener Seitentür ein Licht aufflackerte.

Rasend schnell wurde es größer, flammte regelrecht auf und wurde zu einem feurigen Kometen, der wie an einer Schnur gezogen aus dem Hubschrauber fegte. Kurz nachdem er im Freien war, teilte er sich. Jetzt gab es zwei Feuerbälle, die auf jeweils einen der beiden Wachtürme zu jagten und in sie einschlugen wie Fernlenkraketen.

Die Türme explodierten.

Trümmer wurden meterweit in die Luft geschleudert, und Konstantin musste mitansehen, wie einer seiner Kameraden lichterloh brennend über die Brüstung kippte und in die Tiefe stürzte.

Der Beschuss der Soldaten hatte dagegen keinen sichtbaren Effekt auf den Angreifer, und mit einem Mal kam sich Konstantin mit seiner Kalaschnikow in den Fäusten lächerlich vor. Vladislav kam wohl zu demselben Schluss. Er packte den Kollegen mit der freien Hand und zog ihn dicht zu sich heran.

»Wir müssen Meldung machen.«

Konstantin ersparte sich die Bemerkung, dass die Soldaten in den Mannschaftsunterkünften von den Schüssen sicher längst geweckt worden waren. Doch wer mit Feuerbällen um sich warf, der hatte vielleicht noch ganz andere Tricks auf Lager. Und obwohl er bezweifelte, dass sie in der Zentrale sicher waren, wirbelte er herum und wollte auf die Tür der Baracke zulaufen ‒ als er wie angewurzelt stehen blieb.

Der Hubschrauber stand mittlerweile über dem Dach der Zentrale.

Auch hier war die Seitentür geöffnet, aus der jedoch kein Feuerball stob. Stattdessen seilte sich eine Person ab.

Keine Einheit schwerbewaffneter Soldaten, sondern nur eine einzelne Person!

Es gab einen scheppernden Laut, als sie mit ihren schweren Armeestiefeln auf den Metallsteg aufkam und dabei leicht in die Knie ging.

Der Fremde wandte ihnen den Rücken zu und hakte den Karabiner mit dem Seil vom Gürtel, ehe er sich aufrichtete und zu den beiden Soldaten umdrehte. Er trug eine weite Jacke mit Pelzbesatz, aber weder Mütze noch Helm, sodass Konstantin die schwarzen Haare sah, die raspelkurz waren.

Den Soldaten blieb vor Überraschung die Spucke weg, als der Fremde ihnen das Gesicht zuwandte. Es war das einer Frau!

Das war trotz ihrer kantigen Mimik deutlich zu erkennen. Hinzu kam eine zierliche Figur, denn die Lederjacke stand vorne offen und erlaubte freie Sicht auf den dunkel gekleideten Körper, der vom flackernden Schein der brennenden Wachtürme beleuchtet wurde.

Konstantin wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er wollte die Frau ansprechen, die keine Waffe in Händen hielt, doch Vladislav kam ihm zuvor. Er stieß seinen Kollegen zur Seite, legte die Kalaschnikow an und befahl der Frau mit harter Stimme, die Arme zu heben und auf die Knie zu gehen.

Sie tat nichts davon, sondern schüttelte lediglich den Kopf.

Das genügte Vladislav, um eiskalt abzudrücken.

Grelle Flammen tanzten vor der Mündung, als sich das automatische Gewehr krachend entlud. Ein scharfer Schmerz zuckte durch Konstantins rechtes Ohr. Er schrie, sackte in die Knie und presste sich die Hand gegen die Muschel, aus der eine warme, klebrige Flüssigkeit rann.

Das Einzige, was er noch zu hören vermochte, war ein hohes Pfeifen.

Konstantin sah erstaunlich deutlich, wie die Kugeln den Körper der Frau trafen, während sie ihre Unterarme vor dem Gesicht kreuzte. Er kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Mit offenem Mund starrte er auf die Fremde, die von den Geschossen weder zerfetzt noch zurückgeschleudert wurde, sondern sich gegen den Beschuss stemmte, als handelte es sich um eine Windböe.

Auch Vladislav hatte mitbekommen, dass die Schüsse der Unbekannten nichts anhaben konnten.

Konstantin dachte an diesen amerikanischen Superheldenfilm, in dem ebenfalls eine Frau Kugeln abgewehrt hatte.

Er konnte gar nicht anders, er musste einfach lachen.

Bis die Fremde mit beiden Händen unter die Jacke griff und zwei Pistolen hervorholte, deren Läufe sie auf Vladislav richtete.

Die Schüsse klangen durch das hohle Pfeifen in Konstantins Ohren sonderbar dumpf. Die Wirkung aber war frappierend. Vladislav brach zusammen. Die Kalaschnikow fiel neben Konstantin auf den Steg, doch der Soldat hatte nur Augen für seinen Kameraden, der mit gebrochenem Blick in den Nachthimmel starrte.

Ein Schatten trat in Konstantins Sichtfeld. Er selbst hob langsam den Kopf ‒ und starrte geradewegs in die Mündungen der Pistolen, mit denen ihm die Frau direkt ins Gesicht zielte.

Über die Läufe hinweg konnte er der Fremden in die Augen blicken, die im Widerschein des Feuers wie schwarze Opale funkelten.

Sie sagte etwas zu ihm, dass er wegen des Pfeifens in seinem Ohr nicht verstand.

Das begriff die Fremde ebenfalls. Sie schob eine ihrer Pistolen ins Halfter und griff mit der freien Hand in sein Haar.

Brutal drückte sie seinen Kopf zur Seite und brüllte ihm ins unversehrte Ohr: »Wenn dir dein Leben lieb ist, bringst du mich zu Leonid Jaschin!«

Oberst Leonid Jaschin hob den Kopf und lauschte den Schüssen, die dumpf in sein Gefängnis drangen. Es war wie damals, als die Polareule von Werwölfen angegriffen worden war. Nur dass diese neuerliche Attacke ihm allein galt, das spürte er nicht nur, es war ihm sogar auf telepathischem Weg mitgeteilt worden.

Der Lichtstreifen an der Türschwelle war längst erloschen.

Das Lächeln auf den strichdünnen Lippen des ehemaligen Obersts verbreiterte sich zu einem faunischen Grinsen. Flackernder Feuerschein fiel durch das vergitterte Fenster dicht unter der Decke und malte zuckende Schatten an die kahlen Wände.

Jaschin, das Reptil, erhob sich von der harten Pritsche, die ihm bereits viel zu lange als Schlafstatt gedient hatte. Er hasste sie ebenso wie diese Zelle, in der er dreiundzwanzig Stunden täglich, sieben Tage in der Woche verbrachte. Sechzig Minuten Hofgang standen ihm pro Tag zu, die er in einem Käfig mit auf den Rücken gefesselten Händen absolvieren musste.

Das würde schon bald der Vergangenheit angehören.

Ebenso wie die Misshandlungen und Demütigungen, die er täglich erdulden musste.

Früher hätte sich das niemand getraut und nicht einmal gewagt, daran zu denken. Den Spitznamen »Reptil« hatte er schließlich nicht umsonst bekommen. Zum einen wegen des glatten, ausdruckslosen Gesichts, und zum anderen aufgrund seiner Gefühlskälte. Stets war er rücksichtslos über Leichen gegangen.

Russland brauchte wieder eine starke Hand, die es führte. Jetzt noch mehr denn je. Am meisten frustrierte Leonid die Heuchelei seiner ehemaligen Genossen und ihre scheinheilige Doppelmoral. Solange alles nach Plan lief, hatte niemand Einwände erhoben, ihm sogar großzügige Mittel zur Verfügung gestellt.

Das Projekt Zombieville war drauf und dran gewesen, ein voller Erfolg zu werden.

Bis er von seinen eigenen Kameraden verraten worden war.

Ausgerechnet Wladimir Golenkow hatte ihm eine Top-Agentin auf den Hals gehetzt, die mit zwei englischen Spezialisten in die Totenstadt eingedrungen war und das Projekt enttarnt hatte.2) Und plötzlich hatte niemand mehr etwas von Oberst Leonid Jaschin wissen wollen.

Man hatte ihn fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.

Allerdings konnte er seinen Mitverschwörern nicht wirklich einen Vorwurf machen. Sie hatten schon bei der Gründung ihrer Organisation festgelegt, dass sich im Ernstfall jeder selbst der Nächste war. Nur so konnte ein langfristiges Überleben der Gruppe gewährleistet werden.

Einer Organisation, die nach seiner Inhaftierung erheblich an Macht und Einfluss gewonnen hatte. Wie viel Macht und Einfluss das wirklich waren, hatte Leonid Jaschin erst vor wenigen Tagen erfahren, als er eines Nachts den telepathischen Ruf jenes Mannes vernommen hatte, dem er ewige Treue geschworen hatte.

Rasputin!

Die graue Eminenz am Zarenhof, die heimtückisch ermordet worden war, was schlussendlich zum Sturz der Romanows geführt und das Ende der Zarenzeit in die Wege geleitet hatte.

Man hatte Rasputin vergiftet, erschossen und in die Newa geworfen, und das bereits vor über hundert Jahren. Und trotzdem war er wieder da.

Leonid Jaschin stellte sich in die Mitte der winzigen, zehn Quadratmeter großen Zelle, mit dem Gesicht zur Tür. Diese zehn Quadratmeter, die er sich mit der Pritsche und einer schmutzigen Toilette teilte, waren die letzten Jahre über seine ganze Welt gewesen. Eine Welt, die er zu hassen gelernt hatte. Und er wusste auch schon, an wem er sich dafür rächen würde.

Zwei Namen standen auf seiner Liste an oberster Stelle.

Wladimir Golenkow und Karina Grischin!

Leonids Hände zitterten in freudiger Erwartung, als er sich über die schlichte Kleidung strich. Die dunkle Hose und der kratzige Pullover stanken nach Mottenkugeln, doch das roch Jaschin schon lange nicht mehr.

Plötzlich erstarrte das Reptil und hielt den Atem an.

Für einen kurzen Augenblick glaubte er, sich verhört zu haben, doch dann wurden die Geräusche lauter, und je näher sie kamen, desto schneller schlug sein Herz. Die Handinnenflächen wurden ihm feucht, und seine Knie fingen an zu zittern.

Leonid Jaschin, das Reptil, war nervös wie ein kleines Kind am Morgen seines Geburtstags.

Gleich … gleich war es soweit. Sein Atem ging schneller, als stünde er nicht in einer kalten, schmucklosen Gefängniszelle, sondern läge in den Armen einer willigen Frau.

Harte Schläge erschütterten die Tür.

Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben und umgedreht. Das Knacken, mit dem der Bolzen zurückfuhr, hallte durch den winzigen Raum. Jetzt mussten noch zwei Riegel zur Seite bewegt werden, dann war der Weg frei.

Auch das tat sein geheimnisvoller Retter.

Jaschin konnte sich nicht vorstellen, dass es Rasputin persönlich war. Vermutlich hatte er einen Handlanger geschickt.

Die Angeln quietschten, als die schwere Metalltür aufgezogen wurde. Dunkelheit ballte sich in dem dahinterliegenden Flur.

Die Gestalt eines Mannes hob sich schemenhaft im offenen Rechteck ab. Der schwache Widerschein des Feuers reichte dennoch, um das wachsbleiche Gesicht des späten Besuchers zu erkennen.

Es war einer der Wachsoldaten, dessen Namen Jaschin aber nicht kannte.

In der Polareule stellte sich niemand vor. Hier gab es weder Respekt noch Achtung vor den Gefangenen.

Das Reptil wollte dem Mann bereits die Faust ins Gesicht schlagen, als sich zwei schlanke weiße Hände rechts und links am Kopf des Soldaten vorbeischoben.

Dann ging alles blitzschnell.

Die Hände griffen brutal zu, und die Augen des Mannes, der in den letzten Sekunden seines Lebens offenbar ahnte, was ihm blühte, weiteten sich. Ein harter Ruck, unmittelbar gefolgt von einem durchdringenden Knirschen, dann erschlaffte der Leib des Wachsoldaten, der vor Leonids Füßen zusammensackte wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte.

Dahinter kam eine kleinere Gestalt zum Vorschein, die das Bein hob, um über den Leichnam hinwegzutreten.

Es handelte sich um eine Frau, die ihn hier herausholte.

Aber nicht um irgendeine.

Oberst Leonid Jaschin lachte leise, als er sie trotz des kurz geschnittenen Haares erkannte.

»Chandra, mein süßes Mädchen. Kommst du, um deinen Onkel Leonid zu umarmen?«

Ohne ein Wort zu erwidern, stapfte sie auf das Reptil zu und rammte ihm die Faust ins Gesicht.

Sankt Petersburg, vor vielen Jahren

»Hier entlang, meine Herren. Die Mädchen befinden sich gerade beim Unterricht. Wir werden sie nacheinander herausholen. Sie haben die freie Auswahl.«

Der junge Mann an Jaschins Seite räusperte sich, was den Oberst sichtlich amüsierte. Ja, Wladimir Golenkow war kein typischer Vertreter seines Standes. Ein Wunder, dass jemand mit seinen moralischen Ansprüchen überhaupt Karriere im KGB gemacht hatte. Daran war er, Leonid Jaschin, allerdings nicht ganz unschuldig gewesen.