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Diener des Wahnsinns
Seit der letzten Nacht herrschte in der psychiatrischen Klinik Bedlam eine merkwürdige Stimmung. Irgendetwas lauerte im Verborgenen, ohne dass das Klinikpersonal es so recht in Worte zu fassen wusste.
Es hatte mit dem neuen Patienten zu tun, der stumm vor dem Dienstzimmer saß und die Pfleger einfach nur anstarrte. Er war in der Nacht eingeliefert worden.
Dieser Patient war ich, John Sinclair!
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Diener des Wahnsinns
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Wuerz
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8710-0
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
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www.bastei.de
Diener des Wahnsinns
von Ian Rolf Hill
Aus dem Vernehmungsprotokoll des Krankenpflegers Martin Sherman
Bei Dienstantritt saß er vor dem Büro. Er musste in der Nacht eingewiesen worden sein und kam mir von Anfang an komisch vor. Erwiderte nicht mal meinen Morgengruß, sondern starrte mich nur an. Ich wusste, mit dem würden wir noch richtig viel Ärger bekommen. Tja, jetzt haben wir den Salat, nicht wahr? Jedenfalls bin ich erst mal ins Dienstzimmer. Die Kollegen der Nachtschicht wollten schließlich nach Hause. Der Rest der Frühschicht war auch schon da. Glotzten mich nur an und tranken ihren Kaffee. War ne Stimmung wie auf ner Beerdigung. Zumindest schien niemand verletzt worden zu sein. Ich wollte natürlich wissen, wer der Knilch auf dem Flur war. Für mich stand von Anfang an fest, dass er für die schlechte Stimmung verantwortlich war. Die Antwort überraschte mich dann aber doch irgendwie.
Aus den Erinnerungen von Martin Sherman
»Ja, und?«, fragte ich und goss mir im Stehen einen Kaffee ein. »Hat sich jemand umgebracht?«
Emily Shouton wartete, bis ich mich gesetzt hatte, bevor sie mir eine Antwort gab. Sie gähnte und strich sich eine Strähne des dunkelblonden Haars aus dem Gesicht. Unter ihren Augen lagen dicke Ringe. Über dem dünnen Pullover trug sie eine Strickjacke, die sie vor der Brust zusammenraffte.
Sie wirkte blass und ausgezehrt, aber das war ja schließlich auch kein Wunder. Es war ihre dritte und vorletzte Nacht, die sie sich zusammen mit unserem Pflegehelfer Randy um die Ohren schlug. Er gehörte erst seit knapp sechs Monaten zum Team der Croydon Psychiatric Intensive Care Unit, kurz PICU. Wussten Sie, dass das Bethlem Royal Hospital angeblich die älteste psychiatrische Einrichtung der Welt ist?
Ich muss gestehen, dass ich stolz darauf bin, ein Teil davon zu sein. Trotz der wechselvollen Geschichte des Bedlam. Im Mittelalter, bis hinein ins späte neunzehnte Jahrhundert, fanden hier entsetzliche Gräueltaten statt, das kann ich Ihnen flüstern. Sie müssten sich mal das Museum anschauen. Aber egal. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, bei unserem Scotland-Yard-Inspektor.
»Nein«, beantwortete Emily meine Frage. »Es hat sich niemand umgebracht. Zumindest nicht bei uns. Mister Sinclair ist ein neuer Patient. Er wurde vor zwei Stunden hergebracht. Hat bei einem Einsatz wild um sich geschossen und gebrüllt, dass er die Welt von den Dämonen befreien müsse.«
»Ach, du Scheiße!«, lautete mein Kommentar.
Verstehen Sie mich nicht falsch, wir haben öfter mit Psychotikern und Schizophrenen zu tun, die unter Wahnvorstellungen leiden. Aber das sind in der Regel keine Polizeibeamten mit Nahkampfausbildung.
Victor neben mir kaute hektisch auf der Unterlippe, und mir war klar, dass er morgen krank sein würde. Wäre nicht der Erste, der schlappmacht, sobald es bedrohlich wird. Ich ärgere mich zwar jedes Mal darüber, wenn Kollegen sich auf diese Weise aus der Verantwortung stehlen, aber ich kann es auch nicht ändern. Daher konzentrierte ich mich lieber auf Emily.
»Das kannst du laut sagen. Sein Partner hat ihn glücklicherweise überwältigt, bevor Unschuldige verletzt werden konnten. Oder Schlimmeres. Vermutlich PTBS und ABR.«
»Klingt fast so, nicht wahr?« Ich nickte vor mich hin und trank einen Schluck Kaffee. Die Abkürzungen stehen übrigens für posttraumatische Belastungsstörung und akute Belastungsreaktion. Gar nicht so ungewöhnlich bei Opfern von Gewaltverbrechen. Erstere ist ein Zeichen für eine länger andauernde psychische Traumatisierung. Die akute Belastungsreaktion erfolgt dagegen ziemlich schnell. Kommt häufig vor, wenn Leute beobachten, wie sich jemand vor die Tube wirft. Polizisten sind für beides geradezu, äh, prädestiniert, möchte ich hinzufügen.
Ich wollte natürlich wissen, was vorgefallen war, aber Emily musste mich enttäuschen.
»Keine Ahnung. Offenbar leidet Mister Sinclair unter einer schweren Psychose.«
Ich nickte und dachte an den seltsamen Blick, mit dem er mich angesehen hatte. Mich schaudert es jetzt noch, wenn ich ehrlich bin.
»Leidet er unter einem Wahn?«, fragte ich.
»Größenwahn«, bestätigte Emily prompt. »Hält sich für den Sohn des Lichts, der auserwählt ist, die Menschheit vor der Hölle zu beschützen.«
»Na, prima. Noch so ein Fanatiker, der sich für Jesus hält. Er sieht aber nicht so aus, als ob er auch die andere Backe hinhalten würde.«
»Nein, weiß Gott nicht. Seit er hier eingeliefert wurde, hat er übrigens noch kein Wort gesprochen. Selbst mit Frank wollte er nicht reden.«
Dr. Frank Benning ist unser Stationsarzt, müssen Sie wissen. Zufälligerweise war er in der fraglichen Nacht auch der zuständige Arzt vom Dienst. Er ist ziemlich jung, gerade mal Anfang dreißig, aber keineswegs unsicher oder so. Alle mögen ihn.
»Wir haben versucht, ihm Haloperidol und Diazepam zu verabreichen, aber er hat es nicht genommen. Frank meinte, dass wir ihn erst mal in Ruhe lassen sollen. Er hat ja nichts getan.«
»Noch nicht!«, murmelte Victor, und Lisa nickte dazu. Lisa Abbott ist Anfang dreißig und arbeitet schon seit zehn Jahren auf dieser Station. Ihr kann man so leicht nichts vormachen.
Emily ging gar nicht auf den Kommentar ein. »Jedenfalls hat er bereitwillig alles abgegeben, was er bei sich trug.« Sie deutete auf eine transparente Plastikbox, wie man sie auch zum Einlagern von Lebensmitteln benutzt.
Wir verwenden sie für die Verwahrung des persönlichen Eigentums der Patienten. Während der Behandlung können wir keine Haftung für die Wertgegenstände übernehmen, und nirgends wird so viel gestohlen wie im Krankenhaus. Höchstens im Hotel, aber da besteht kaum ein Unterschied, wenn Sie mich fragen.
Außerdem werden in diesen Boxen Gegenstände sichergestellt, mit denen die Patienten sich oder andere verletzen können.
Ich zog den Kasten zu mir heran und öffnete ihn. Darin befanden sich eine Brieftasche, der Dienstausweis, ein Smartphone, und so’n Lippenbalsam. Selbst den Gürtel hatte man Sinclair abgenommen. Er lag zusammengerollt bei den restlichen Gegenständen. Dann war da noch ein Etui mit Dietrichen und ein silbern glänzender Nagel, in den seltsame Symbole eingraviert waren.
»Was ist denn das?«, fragte ich und nahm das Ding in die Hand.
»Ein Nagel!«, antwortete Emily.
»Das sehe ich selbst«, entgegnete ich mürrisch. »Aber das ist doch kein normaler Nagel. Sieh dir das Ding doch mal an. Ist der aus Silber?«
Emily zuckte mit den Schultern. »Sieht fast so aus!«
»Und was will er damit? Vampire pfählen?«
»Ich dachte, Silber hilft nur gegen Werwölfe?«, mischte sich Victor ein.
Ich legte den Nagel zurück und verschloss die Box wieder. »Ich gehe mal davon aus, dass seine Pistole bereits von seinen Kollegen sichergestellt wurde.«
Emily nickte. »Ja, sein Partner hat sie an sich genommen. Er hat Mister Sinclair auch hier abgeliefert. Zusammen mit drei weiteren Polizisten. Aber das ist noch nicht alles!« Sie tippte mit dem Zeigefinger auf den Plastikdeckel. »Das hier hat Mister Sinclair alles freiwillig herausgerückt. Aber von einem wollte er sich partout nicht trennen.«
Ich spürte, wie ich ärgerlich wurde. »Und was ist das?«
»Ein Kreuz!«
»Wie bitte?«
»Ja, ungefähr so groß.« Sie spreizte Daumen- und Zeigefinger. »Es scheint aus Silber zu sein und ist voller seltsamer Zeichen. So ähnlich wie dieser Nagel, aber trotzdem irgendwie anders.«
»Aha, und wir sollen jetzt darauf warten, dass er es dem erstbesten ins Auge rammt, weil er ihn für einen Zombie hält?«
»Frank will warten, bis Doktor Partridge im Haus ist, und dann noch mal auf Station kommen.«
»Dann kann ja nichts mehr schiefgehen«, erklärte ich, und es war genauso sarkastisch gemeint, wie es klang.
Danach widmeten wir uns den anderen Patienten, denn ob Sie es glauben oder nicht, Mister Sinclair ist schließlich nicht unser einziger Kunde. Wir haben zehn Betten für Männer zwischen achtzehn und fünfundsechzig Jahren. Das scheint Ihnen wenig vorzukommen, aber bedenken Sie, dass wir eine Akutstation sind. Die Leute, die zu uns gebracht werden, stehen unter Drogen, sind extrem psychotisch und oft hochaggressiv. Sobald die Diagnostik durch ist und die Patienten anbehandelt sind, werden sie zügig auf andere Stationen verlegt.
Nachdem die Übergabe beendet war und Emily und Randy sich verabschiedet hatten, besprach ich mit Lisa und Victor, wie wir uns aufteilen wollten. Lisa wollte das Frühstück vorbereiten und Victor würde durch die Zimmer gehen und die Patienten wecken. Momentan hatten wir nur einen, der Unterstützung bei der Körperpflege benötigte.
Ich sollte die Medikamente verteilen. Zu Stellen brauchen wir sie glücklicherweise nicht, das erledigt der Nachtdienst. Es würde noch ein paar Minuten dauern, bis die ersten Patienten eintrudelten, um sich ihre Pillen und Tropfen zu holen.
Zeit genug, um mich bei Mister Sinclair vorzustellen.
☆
»Guten Morgen, Mister Sinclair. Mein Name ist Sherman, ich bin Krankenpfleger.«
Und wieder beäugte er mich misstrauisch. Auch das ist nicht ungewöhnlich. Jedenfalls nicht für Menschen mit akuter Psychose. Wahrscheinlich litt der Inspektor nicht nur unter Größenwahn, sondern auch an einer ausgewachsenen Paranoia. Der Ärmste sah vermutlich überall Gespenster und Dämonen.
Doch da lag noch etwas Anderes in seinem Blick. Etwas Stechendes und Sezierendes. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er auf den Grund meiner Seele sehen konnte, falls Sie das glauben. Nein, ich hatte eher den Eindruck, als wollte er mich überprüfen.
Es kommt nicht selten vor, dass Patienten mit paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie glauben, dass sie Opfer einer Verschwörung sind. Es ist quasi unmöglich, als Teil des Pflegeteams nicht mit in diesen Wahn einbezogen zu werden. Es bringt auch nichts, den Patienten davon überzeugen zu wollen, dass es keine Verschwörung gibt. Selbst mit logischen Argumenten kommen Sie da nicht weiter, glauben Sie mir. Das Einzige, was Sie machen können, ist dem Patienten immer wieder die Realität zu spiegeln und ihm klarzumachen, dass Sie seine Sicht der Dinge nicht teilen. Auf keinen Fall dürfen Sie den Patienten in seinem Wahn bestärken.
In Mister Sinclairs Fall sollte das ja nicht allzu schwer sein. Dachte ich jedenfalls. Ich glaube nämlich nicht an Vampire, Gespenster und Werwölfe.
Er ergriff meine Hand und hielt sie länger fest, als unbedingt nötig gewesen wäre. Er hatte Kraft, und mir wurde bereits ein wenig mulmig zumute.
»Guten Morgen, Mister Sherman. Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin?«
»Ja, John Sinclair. Inspektor bei Scotland Yard!«
»Es heißt Oberinspektor. Aber ich bin weit mehr als das. Man nennt mich den Sohn des Lichts.«
Bei diesen Worten sah er mich so scharf an, als wartete er auf eine bestimmte Reaktion. Ich hatte das Gefühl, meine Hand stecke in einem Schraubstock, und tastete bereits nach dem tragbaren Telefon mit dem integrierten Notfallknopf.
Mister Sinclair griff derweil an seinen Hals und zog an einer dünnen silbernen Kette.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür der Schleuse schräg hinter mir. Ich erschrak und Sinclair ließ meine Hand so hastig los, als hätte er sich verbrannt. Er richtete sich im Sessel sitzend kerzengerade auf und reckte dabei den Hals, um an mir vorbeizusehen.
Ich machte es ihm leichter, indem ich zur Seite trat und mich umdrehte.
Unser Stationsarzt, Doktor Frank Benning, kam in Begleitung des Chefarztes Doktor Walther Partridge auf Station.
Sinclair sah sie und rastete aus!
☆
Aus dem Vernehmungsprotokoll des Krankenpflegers Martin Sherman
»Wie meinen Sie das, er rastete aus?«
»Er sprang auf und griff sie an. Stieß mich einfach beiseite. Dann zog er dieses Kreuz unter dem Hemd hervor und wollte damit auf Doktor Partridge einstechen.«
»Einstechen?«
»Na ja, oder ihn berühren. Keine Ahnung, es ging alles so schnell.«
»Hat er es geschafft?«
»Nein! Frank, also Doktor Benning, ging dazwischen.«
»Und was haben Sie getan?«
»Na, was glauben Sie denn? Alarm gegeben hab ich. Außerdem waren da schon Victor und Lisa zur Stelle.«
»Haben Sie es geschafft, Mister Sinclair zu überwältigen?«
»Ja, aber erst nachdem die Kollegen der anderen Stationen eintrafen.«
»Wurde jemand verletzt?«
»Nicht ernsthaft. Victor hat einen Ellenbogenstoß abgekommen und sich krankgemeldet. War ja klar. Frank wurde mit dem Kreuz am Ohr getroffen. Nur ein Kratzer.«
»Hat er in irgendeiner Weise drauf reagiert?«
»Sie meinen, ob er allergisch auf Silber ist?«
»Zum Beispiel!«
»Nein, der Kratzer hat nur ein wenig geblutet. Mehr nicht.«
»Und was war mit Doktor Partridge?«
»Was soll mit dem gewesen sein? Hat sich gleich wieder in die Schleuse zurückgezogen und alles durch die Scheibe beobachtet. Der Vorteil, Chef zu sein ist der, dass man sich nicht mehr ins Gerangel stürzen muss.«
»Okay, und was ist dann passiert?«
»Mister Sinclair wurde fixiert.«
»Sie meinen, er wurde gefesselt?«
»Ja, Fünfpunktfixierung, inklusive Bauchgurt. Außerdem hat er eine Injektion Haloperidol gegen die Wahnvorstellungen und Diazepam zur Beruhigung erhalten. Anschließend wurde er in die Überwachung geschoben.«
»Und das Kreuz?«
»Wie bitte?«
»Was ist mit dem silbernen Kreuz passiert?«
»Keine Ahnung. Hab’s seitdem nicht mehr gesehen.«
»Könnte es jemand mitgenommen haben?«
»Sie meinen, ob es jemand gestohlen hat?«
»Ja.«
»Glaube ich nicht. Ich nehme an, dass es zu Sinclairs restlichen Habseligkeiten gelegt wurde.«
»Dort haben wir bereits nachsehen lassen.«
»Auch im BTM-Fach?«
»Was meinen Sie damit, Mister Sherman?«
»Den Tresor für die Betäubungsmittel. Manchmal schließen wir da besonders wertvolle Sachen ein.«
»Und wer hat alles einen Schlüssel dafür?«
»Nur die Schichtleitung.«
»Und wer hatte die an diesem Morgen?«
»Ich! Ja, ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen. Aber ich habe den Schlüssel bei der Mittags-Übergabe weitergereicht. Kann sein, dass es den Kollegen von der Spätschicht zu heikel war, das Kreuz im Schrank liegen zu lassen.«
»Könnten Sie das bitte prüfen?«
»Selbstverständlich. War es das jetzt? Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber ich habe wirklich keine Ahnung, wo Mister Sinclair stecken könnte.«
»Schon gut. Nur eine Frage noch, dann können Sie wieder an die Arbeit gehen.«
»Bitte!«
»Sagt ihnen ‚Der Graue Mann’ etwas?«
»N-nein. Ist das so etwas wie der Schwarze Mann?«
»Das wissen wir nicht, Mister Sherman. Könnte sein. Sie kennen Lorimer Dryer?«
»Ich … glaube schon. Der Name kommt mir jedenfalls bekannt vor …«
»Das sollte er auch. Er war bis vor zwei Wochen Patient bei ihnen.«
»Tut mir leid, aber wir haben hier einen ziemlich hohen Durchlauf. Ich kann mir unmöglich jeden Namen merken. Was ist denn mit ihm? Ist er der Graue Mann?«
»Nein, aber er hat ihn erwähnt. Kurz bevor er drei Menschen umbrachte und sich anschließend selbst tötete.«
»Wollen Sie damit sagen, dass er Amok gelaufen ist?«
»So könnte man sagen, ja.«
»Moment mal, der Vorfall in dem Wohnheim! Das war Mister Dryer?«
»Offenkundig. Können Sie sich erinnern, weshalb Mister Dryer bei Ihnen in Behandlung war?«
»Ich kann mich ja kaum an den Mann selbst erinnern. Offenbar hat er keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.«
»Und trotzdem ist er durchgedreht. Es gibt auf dieser Station übrigens mehrere Patienten, die den Grauen Mann gesehen haben.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Mister Sinclair erzählte es mir am Telefon. Edward Morris hat ihn ebenfalls gesehen.«
»Der Erhängte?«
»Ganz recht. Sie haben den Toten gefunden, ist das richtig?«
»Ja, das stimmt. Emily und Randy hatten die Nachtschicht. Aber die waren natürlich längst zu Hause.«
»Haben die beiden irgendetwas darüber berichtet, was mit Mister Sinclair passiert ist?«
»Nein, angeblich hat er durchgeschlafen.«
»Und jetzt ist er verschwunden!«
»Ja, ich kann mir das auch nicht erklären!«
»Gut, das wäre zunächst alles. Bitte halten, Sie sich für weitere Fragen zu Verfügung.«
»Keine Angst, ich laufe Ihnen schon nicht weg.«
☆
Aus dem Vernehmungsprotokoll des Psychiaters Doktor Frank Benning
»Geht es ihnen gut, Doktor Benning?«
»Nun, ich kann nicht klagen. Weshalb fragen Sie?«
»Wegen des Pflasters über ihrem linken Ohr. Mister Sherman sagte uns, dass Mister Sinclair Sie dort mit dem Kreuz getroffen hat.«
»Ja, aber das war halb so wild. Ein Kratzer, mehr nicht. Es tut mir leid wegen ihres Kollegen.«
»Sie waren der diensthabende Arzt in jener Nacht, als er eingewiesen wurde.«
»Ja, Sie haben Ihn doch selbst bei mir abgeliefert!«
»Natürlich! Ich wiederhole das lediglich fürs Protokoll.«
»Verstehe.«
»Welchen Eindruck hatten Sie von Mister Sinclair?«
»Nun, äh, es ist etwas früh für eine abschließende Diagnose. Aber aufgrund der ersten Anamnese bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Mister Sinclair unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer akuten Belastungsreaktion und vermutlich einer rezidivierenden Depression litt.«
»Mister Sherman erwähnte auch etwas von Größenwahn und Paranoia.«
»Ja, Mister Sinclair hält sich offenbar für eine Art Messias und fühlte sich von Dämonen verfolgt.«
»Sind das nicht Anzeichen für eine Schizophrenie oder Psychose?«
»Nicht zwingend. Um die Diagnose Schizophrenie zu stellen, braucht es mehr als nur ein Symptom, Inspektor. Eine solche wahnhafte Episode kann auch durch verschiedene andere Faktoren ausgelöst werden.«
»Die da wären?«
»Stress, Alkohol, Drogen, Infektionen, Tumore …«
»Danke, das reicht.«
»Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, dass Mister Sinclair ausschließlich unter PTBS und Depressionen litt.«
»Wie kommen Sie da drauf?«
»Nun, im Gespräch versuchte Mister Sinclair immer wieder von sich abzulenken. Er hat versucht, uns auszuhorchen.«
»Er ist Polizist. Gewohnheiten lassen sich schlecht ablegen.«
»Da mögen Sie recht haben, Inspektor.«
»Können Sie uns sagen, wo sich Mister Sinclair zurzeit befindet?«
»Leider nein! Das ist es ja, was ich nicht verstehe.«
»Mit wem hatte Mister Sinclair während seines Aufenthalts auf Ihrer Station Kontakt?«
»Nun, äh, das kann ich Ihnen nicht mit Gewissheit sagen. Ich denke, mit allen.«
»Präzisieren Sie das bitte.«
»Nun, also, da wären Doktor Partridge, das Pflegepersonal, die Patienten und ich natürlich.«
»Wissen Sie wer vom Pflegepersonal alles mit Mister Sinclair zu tun hatte?«
»Bedaure, nein. Da müssten Sie die Kollegen schon selbst befragen.«
»Danke, das werden wir. Können Sie uns sagen, wer während der Fixierung bei Mister Sinclair geblieben ist?«
»Die zuständige Sitzwache, Lisa Abbott.«