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Das Erwachen der Angst
(1.Teil)
Von einem Augenblick zum anderen änderte sich praktisch alles.
Der Ruck, mit dem die über dreihundert Meter lange USS Abraham Lincoln zum Stillstand kam, erfolgte so abrupt, dass sämtliche Anwesenden auf der Brücke den Halt verloren. Wer nicht aufs Deck schlug, der prallte gegen die Konsolen oder den Plantisch im hinteren Teil des Kommandozentrums.
Schlagartig erlosch das Licht, und quasi in derselben Sekunde erfolgte ein durch Mark und Bein dringendes Dröhnen, mit dem der hunderttausend Tonnen schwere Flugzeugträger nach Backbord kränkte.
Captain Lewis Aldridge klammert sich an der Kante des Plantisches fest und blickte in das von Entsetzen gezeichnete Antlitz von Master Chief Warren Kelley, dessen Augen in der Dunkelheit weiß leuchteten.
"Meldung!", bellte der kommandierende Offizier. "Was zum Henker ist da gerade passiert?"
Lange brauchte Aldridge nicht auf die Antwort zu warten. Ein Beweis für die Effizienz seiner Mannschaft, die den Captain trotz der angespannten Lage mit Stolz erfüllte.
"Wir sind auf Grund gelaufen, Sir!"
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Seitenzahl: 137
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Das Erwachen der Angst
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: camilkuo/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8711-7
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Das Erwachen der Angst
(1. Teil)
von Ian Rolf Hill
Von einem Augenblick zum anderen änderte sich praktisch alles.
Der Ruck, mit dem die über dreihundert Meter lange USS Abraham Lincoln zum Stillstand kam, erfolgte so abrupt, dass sämtliche Anwesenden auf der Brücke den Halt verloren. Wer nicht aufs Deck schlug, der prallte gegen die Konsolen oder den Plantisch im hinteren Teil des Kommandozentrums.
Schlagartig erlosch das Licht, und quasi in derselben Sekunde erfolgte ein durch Mark und Bein dringendes Dröhnen, mit dem der hunderttausend Tonnen schwere Flugzeugträger nach Backbord krängte.
Captain Lewis Aldridge klammert sich an der Kante des Plantisches fest und blickte in das von Entsetzen gezeichnete Antlitz von Master Chief Warren Kelley, dessen Augen in der Dunkelheit weiß leuchteten.
»Meldung!«, bellte der kommandierende Offizier. »Was, zum Henker, ist da gerade passiert?«
Lange brauchte Aldridge nicht auf die Antwort zu warten. Ein Beweis für die Effizienz seiner Mannschaft, die den Captain trotz der angespannten Lage mit Stolz erfüllte.
»Wir sind auf Grund gelaufen, Sir!«
Captain Lewis Aldridge glaubte, sich verhört zu haben. Andererseits würde niemand an Bord, schon gar nicht in einer solchen Situation, auf die Idee kommen, sich einen derart makabren Scherz zu erlauben.
»Das ist unmöglich!«, rief Warren Kelley. »Die Wassertiefe betrug zuletzt zweiundfünfzig Faden!«
Aldridge achtete nicht auf seinen Master Chief, ihn kümmerte auch nicht, was Lieutenant Vivien Forbes erwiderte. Sein Blick schweifte durch die Frontscheibe des Deckshauses nach draußen.
Er konnte nicht glauben, was er sah. Und den restlichen Mannschaftsmitgliedern der Kommandobrücke erging es nicht anders. Bis auf Warren Kelley, der sich in Rage redete und drauf und dran war, Lieutenant Forbes nach allen Regeln der Kunst zusammenzuscheißen.
Kelleys Meinung nach hatten Frauen in der Navy ohnehin nichts verloren, und durch ihre in seinen Augen hanebüchenen Meldung hatte Forbes ihn in dieser Ansicht eben massiv bestärkt.
Nur hörte Vivien überhaupt nicht mehr zu, denn auch sie hatte längst bemerkt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Nur Master Chief Warren Kelley schien das noch nicht erkannt zu haben. Möglicherweise stand er unter Schock.
»Roter Alarm!«, schrie in diesem Augenblick Commander Templeton.
Nichts geschah. Nicht einmal die Notbeleuchtung sprang an. Trotzdem war es auf der Brücke nicht völlig dunkel. Ein graues Wabern erfüllte die Kommandozentrale mit unwirklichem Licht.
»Captain! Was geht hier vor?«, rief Lieutenant Commander Richard Montoya.
»Keine Ahnung, Dick!«, schrie Aldridge und hangelte sich an dem schräg abfallenden Plantisch nach vorne. Dabei achtete er stets darauf, sich irgendwo festzuhalten. Nicht, weil er sonst den Halt verloren hätte – die Neigung betrug maximal zehn Grad –, nein, er hielt sich fest, damit niemand das Zittern seiner Hände sah.
Mit brennenden Augen starrte der Captain auf die dichten Nebelschleier, die am Deckshaus vorbeitrieben und nicht den geringsten Lichtstrahl durchließen, obwohl eben noch die Sonne gleißend hell am Firmament gestanden hatte. Keine Wolke hatte sich am Himmel gezeigt. Das ideale Wetter für ein Übungsmanöver auf hoher See.
Und jetzt trieben dichte graue Schwaden wie Leinentücher um die Insel herum.
»Wir werden angegriffen!«, keuchte jemand, und anhand der Stimme glaubte Aldridge, Charles Baxter, Lieutenant Junior Grade, zu erkennen.
»Vielleicht ein elektromagnetischer Impuls!«, rief Commander Lucinda Templeton, die erste Offizierin der Abraham Lincoln. Sie blutete aus einer Platzwunde an der Stirn. Die Uniformmütze war verschwunden, lag vermutlich irgendwo an Deck. Momentan plagten sie ohnehin andere Sorgen, als die Kleiderordnung an Bord.
»Versuchen Sie, die Mannschaft zu erreichen, und benachrichtigen Sie die Basis!«, befahl Aldridge.
»Ja, Sir!« Lucy wandte sich an Baxter, der hektisch an der Funkkonsole hantierte.
Angespannte Stille herrschte auf der Brücke. Jeder der Anwesenden schien den Atem anzuhalten.
Bis Charles die Schultern hängen ließ. »Keine Chance. Das Funkgerät ist tot!«
Captain Aldridge fing sich als Erster. »Okay, schauen wir draußen nach! Commander, Sie bleiben mit den Lieutenants Forbes und Baxter auf der Brücke. Versuchen Sie, weiter Kontakt mit der Basis aufzunehmen. Von mir aus geben Sie Lichtsignale. Funken Sie SOS!«
»Sir?«
»Wir sind auf Grund gelaufen, Commander! Selbst wenn das kein Angriff war, dieser Nebel ist alles andere als normal!«
»Vielleicht ein Seebeben«, meldete sich Montoya. »Dadurch könnte es zu tektonischen Veränderungen gekommen sein. Wenn ein Teil der Kontinentalplatte angehoben wurde und Lava ausgetreten ist, würde das auch den Nebel erklären.«
»Aber nicht, warum wir keinen Saft mehr haben. Außerdem sind wir über hundert Seemeilen vom Kontinentalsockel entfernt«, rief Lucy erregt.
Aldridge hob die Hände. »Schluss damit. Alles Spekulieren hilft uns nicht weiter. Wir gehen raus. Commander, Sie haben Ihre Befehle.«
»Und wenn der Nebel giftig ist?«, fragte Lieutenant Forbes verängstigt.
Aldridge blickte seine Begleiter der Reihe nach an. Selbst Warren war bleich geworden. Im grauen Licht sah sein Gesicht aus wie das einer wächsernen Leiche.
Der Captain presste die Kiefer aufeinander und versuchte, sich seinen Ärger nicht ansehen zu lassen. Seine Wut richtete sich nicht gegen Vivien, sondern gegen die eigene Person. Er hätte selbst daran denken müssen, dass dieser Nebel gefährlich war. Entweder, weil es sich um einen Anschlag mit Giftgas handelte, oder tatsächlich um schwefelhaltige Gase aus dem Erdinneren. Das würde erklären, warum sie noch nichts von der restlichen Crew gehört hatten.
Er nickte Warren knapp zu. »Gasmasken!«
Der Master Chief salutierte, was in Anbetracht der Lage irgendwie albern wirkte. Er winkte einem jungen Lieutenant zu und begab sich in den rückwärtigen Teil der Brücke, wo sich die Schränke mit der Notausrüstung befanden.
»Wir werden das Schiff systematisch durchsuchen und fangen auf dem Flugdeck an«, skizzierte Aldridge sein Vorhaben. »Oberste Priorität haben die Wiederherstellung der Stromversorgung und des Funks!«
»Man sieht gar nichts von der Besatzung auf dem Flugdeck!«, murmelte Lucy.
Wenn Aldridge es nicht besser gewusst hätte, er hätte geschworen, dass sie Angst hatte. Er erschauerte bei dem Gedanken, dass es etwas gab, das seinen ersten Offizier in Schrecken versetzte.
Warren kehrte zurück und reichte dem Captain eine Gasmaske und ein Colt M4 inklusive Scheinwerfer, der über einen Bajonettverschluss kurz hinter dem Lauf angebracht worden war.
Lewis Aldridge nickte dem Master Chief dankbar zu, prüfte das Magazin und checkte die Taschenlampe. Enttäuscht nahm er sie aus der Halterung. »Kein Saft!«
Warren überprüfte seinen eigenen Scheinwerfer mit demselben niederschmetternden Ergebnis. Kein einziger Strahler funktionierte.
»Magnesiumfackeln«, schlug der Master Chief vor, und Aldridge nickte.
Montoya holte eine Kiste hervor und verteilte an jeden fünf selbstentzündende Fackeln.
Anschließend stülpten sie sich die Gasmasken über die Köpfe.
Zu fünft verließen Sie die Brücke.
Aldridge ging voran, dicht gefolgt von Lieutenant Commander Montoya und den Lieutenants Harrison und Gregson. Master Chief Warren Kelley bildete die Nachhut.
Im Treppenhaus des Decksaufbaus, der sogenannten Insel, herrschte vollkommene Finsternis. Angespannt lauschte Aldridge und vernahm aus der Tiefe ein leises, rhythmisches Klopfen, dessen metallisches Echo bis zu ihnen heraufdrang.
Aldridge biss sich auf die Unterlippe und hob die Faust. Seine Kameraden stoppten. Ihre Umrisse sahen vor dem milchig grauen Licht aus wie die Schemen außerirdischer Besucher.
Die Kehle des Captains trocknete aus. Das Ganze erinnerte ihn frappant an eine Folge von »The Outer Limits« oder an den Film »Langoliers«, den er erst kürzlich mit seinem Sohn geguckt hatte. Ob er Jamie und seine Frau Maggy je wiedersehen würde?
Aldridge schüttelte die trüben Gedanken ab und zog eine der Magnesiumfackeln hervor. Das M4 hängte er sich über die Schulter, ehe er den Verschluss löste und am Stift zog. Eine grelle Flamme schoss zischend aus dem anderen Ende und tauchte den Niedergang des Deckshauses in rotes Licht. Aldridge trat an die Brüstung und ließ die rauchfrei brennende Fackel in die Tiefe fallen.
Sechzig Sekunden würde sie brennen. Zeit genug, um nach unten zu gelangen.
Der Captain zog das Sturmgewehr unter der Achsel hervor und gab seinen Leuten einen Wink, ihm zu folgen. Auf dem letzten Absatz der Metalltreppe blieb der Captain stehen. Die rot leuchtende Fackel war direkt vor die Füße eines Matrosen gefallen, der mit dem Rücken am Außenschott lehnte. Sein Gesicht war in Schweiß gebadet, der die dunkle Haut aussehen ließ, als wäre sie mit Öl eingerieben worden.
Mit geweiteten Augen, in denen die Furcht flackerte, starrte der Seemann auf die Bewaffneten. »Captain!«, keuchte er. »Captain, der Nebel!«
»Haben wir gesehen, Matrose.«
»Aber Sir, Sie verstehen nicht! W…wir waren draußen auf dem Flugdeck, als das Schiff stoppte und … der Nebel auftauchte.«
»Sie waren draußen?«
Aldridge eilte die Stufen hinab und blieb dicht vor dem Matrosen stehen. Durch die Augengläser der Gasmaske versuchte er herauszufinden, ob der Mann Vergiftungserscheinungen zeigte. Doch da war nur die nackte Angst, die sein Gesicht zu einer Fratze verzerrte.
»J…ja, Sir! Da ist etwas! Im Nebel! Es hat … es hat uns angegriffen!«
☆
Im Pentagon herrschte heller Aufruhr.
Die Leitungen zwischen dem US-amerikanischen Verteidigungsministerium und dem Weißen Haus glühten förmlich.
Eine Krisensitzung wurde einberufen, an der auch der Präsident der Vereinigten Staaten teilnahm. Grund dafür war das Verschwinden eines Flugzeugträgers, das im Zusammenhang mit einer Nebelbank stand, die aus heiterem Himmel erschienen war und die USS Abraham Lincoln verschluckt hatte.
Auf den Radar-Schirmen tauchte zugleich das Echo einer gewaltigen Landmasse auf.
Für den Präsidenten und seine Berater war die Sachlage klar.
Es konnte sich nur um einen Angriff handeln!
Dass es zu keinem übereilten Vergeltungsschlag kam, lag einzig und allein an der Tatsache, dass man sich noch nicht schlüssig darüber war, wer für den Angriff zur Rechenschaft gezogen werden sollte.
Natürlich erinnerte man sich daran, dass in diesem Bereich des Meeres früher schon Schiffe verloren gegangen waren, bislang aber ausschließlich zivile Boote und Yachten. Insgesamt waren in den vergangenen Jahren drei Fälle registriert worden, die das gespenstische Erscheinen der Landmasse dokumentierten, für die die Eierköpfe des Pentagons keine Erklärung gefunden hatten.
Da konnte der Präsident so viel Druck ausüben und toben, wie er wollte.
Ein Seebeben schied ebenso aus wie das Erscheinen einer Insel durch tektonische Aktivitäten oder einen unterseeischen Vulkan. Ein solches Phänomen hätte auf jeden Fall messbare Spuren hinterlassen.
Am Ende der Krisensitzung wusste man also, dass man eigentlich gar nichts wusste!
Man war ratlos.
Ein Zustand, den Amerikaner – mehr noch als alle anderen Völker – zutiefst verabscheuten.
Den einzigen Anhaltspunkt, den man hatte, war der, dass in zwei von drei Fällen, in denen die Geisterinsel aus dem Nichts auftauchte, das FBI involviert gewesen war. Gemeinsam mit Beamten von New Scotland Yard, die einer Spezialabteilung angehörten, die sich mit rätselhaften Phänomenen beschäftigten.
Und so wurden zwei Entscheidungen getroffen!
Erstens: Der G-Man Abe Douglas wurde zu Vernehmungszwecken in das Pentagon beordert.
Zweitens: DEFCON 1 wurde ausgelöst.
Maximale Einsatzbereitschaft des gesamten Militärapparates, inklusive der Mobilisierung sämtlicher Truppen.
☆
Es war die Hölle auf Erden!
Ein anderer Begriff wollte ihm nicht dafür einfallen. Sooft er sein, im wahrsten Sinn des Wortes, verfluchtes Dasein auch verwünscht hatte, kürzlich erst war ihm auf drastische Weise klargemacht worden, dass sich der Schrecken stets noch weiter steigern ließ.
Und das Schicksal schien eine perfide Freude daran zu haben, ihn zu quälen und zu demütigen. Hatte er nicht schon genug unter dem Fluch des Kroagh agh Toghan zu leiden gehabt?
Lurion, der Herrscher des entrückten Landes, war es gewesen, der ihn zum ewigen Leben verdammt hatte. Sicher, er konnte sterben und hatte dies auch mehrfach getan. Doch sobald jemand seinen Leichnam berührte, sog dieser dem ahnungslosen Opfer erbarmungslos die Lebenskraft aus, bis von den Bedauernswerten nichts weiter übrig blieb, außer einem formlosen, organischen Klumpen.
Rudy vermochte selbst nicht zu sagen, wie vielen Menschen er schon den Tod gebracht hatte. Darunter auch Menschen, die er geliebt hatte.
Ihre Gesichter erschienen ihm bisweilen noch heute. Jedes Mal, wenn er die Lider schloss, sah er sie vor sich. Allen voran Sarah, seine älteste Tochter, die es als Erste erwischt hatte. Direkt vor den Augen ihrer Geschwister Henry, Sally und Jane, ihrer eigenen Tochter Belinda und seiner Frau Mary.
Er hörte ihre Schreie jede Nacht, sah im Geiste den vorwurfsvollen Blick seiner Gattin, aus dem ihm pure Verachtung entgegensprang.1)
Obwohl das alles bereits vor knapp vierhundert Jahren passiert war, schien es seiner Empfindung nach gerade erst ein paar Tage zurückzuliegen. Tatsächlich hatte sich seine Erinnerung an die damaligen Geschehnisse in den vergangenen Wochen noch verschärft.
Seit er vom Hals abwärts gelähmt vor sich hinvegetierte.
Anders konnte – nein, wollte er es nicht bezeichnen. Vielleicht hätten andere in seiner Situation um Tod und Erlösung gebetet.
Nur zog Ersterer unweigerlich die Vernichtung eines unschuldigen Lebens nach sich, womit ihm Zweitere ohnehin verwehrt bleiben würde. Es war ja nicht so, als ob er seine Freunde nicht darum gebeten hätte, ihn von seinem Leid zu erlösen.
Und wenn sie ihn nur aus einem Hubschrauber in den Krater eines Vulkans stürzten. Natürlich hatten sie sich geweigert, und Rudy akzeptierte es, obwohl er es nicht verstand. Aber das konnte wohl nur jemand, der ein ähnliches Schicksal erlitten hatte wie er. In seinen Augen wäre es schließlich kein Mord gewesen, doch das sahen seine Freunde selbstverständlich anders.
Freunde!
Rudy musste bei diesem Gedanken glucksen. Besaß er überhaupt Freunde?
Seit den grauenhaften Vorfällen vor knapp vierhundert Jahren führte er ein regelrechtes Einsiedlerdasein. Die Rechnung war einfach, denn je weniger Menschen sich in seiner Nähe aufhielten, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass er ihnen den Tod brachte.
Und doch hatte er in den vergangenen Jahren und vor allen Dingen in den letzten Wochen und Monaten die Bekanntschaft von Menschen gemacht, die ihm tatsächlich das Gefühl gaben, gemocht zu werden.
Vor allem Stephanie kümmerte sich gemeinsam mit ihrem Skipper Ben und dessen Familie auf geradezu rührende Weise um ihn.
Nicht, dass es das besser machte, denn zu den Depressionen und der Scham, gesellte sich nun auch noch eine gehörige Portion Schuld. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Stephanies Aufopferungsbereitschaft aus einem ähnlichen Gefühl heraus resultierte, wenngleich er tief in seinem Inneren wusste, dass er der Meeresbiologin damit unrecht tat.
Aber es machte die Sache zumindest ein bisschen erträglicher für ihn.
Und er war Stephanie und ihren Freunden dankbar dafür, dass sie ihm die Möglichkeit gaben, in seinem Haus am Strand von Kill Devil Hills wohnen zu bleiben. Dabei ging es ihm weniger darum, dass dieses Heim sein Zuhause war. Der Grund war ein anderer.
Durch Lurions Fluch war Rudy nämlich in der Lage, das Erscheinen des entrückten Landes Toghan gewissermaßen vorauszuahnen. Er fungierte als eine Art magischer Detektor, was ihn zu einem wertvollen Verbündeten des FBI-Agenten Abe Douglas und seiner englischen Freunde John Sinclair und Suko machte.
Zwar waren Lurion und seine Drengars vernichtet worden, doch Toghan existierte weiterhin. Und die latente Bedrohung, die von diesem Eiland ausging, konnte leicht zu einer handfesten Gefahr ausarten, denn einem Hexer namens Jeremiah Flynn war es offenkundig gelungen, einen Weg in das entrückte Land zu finden.
Sein Ziel: die Gräber mächtiger Dämonen ausfindig zu machen und diese zu erwecken.
Laut den Aussagen von John Sinclair ging es ihm dabei vorrangig um den Angstdämon Barantar, einen sogenannten Schwarzen Diener, von denen es einst vier gegeben haben sollte.
Dienen sollten sie einem mächtigen Dämon, dem Schwarzen Tod!
Das war der Wille der Großen Alten gewesen, die sowohl den Schwarzen Tod als auch dessen Diener erschaffen hatten.
Doch der Dämon hatte seine Lakaien verraten und sich der Hölle angeschlossen.
Der Schwarze Tod hatte Lurion zum Kroagh agh Toghan ernannt, dem Herrscher des entrückten Landes, und somit zum Wächter der Grabstätten der Schwarzen Diener.
Lurion war von John Sinclair und seinen Verbündeten in einem mörderischen Kampf vernichtet worden. Was nichts anderes bedeutete, als dass der Weg für Flynn endlich frei war.2)
Zumindest sprach alles dafür.
In erster Linie ein Traum, der ihn dazu veranlasst hatte, im Schlaf so laut zu schreien, dass Stephanie in sein Schlafzimmer gekommen war und ihn geweckt hatte.
Sie hatte natürlich wissen wollen, was geschehen war, und Rudy war dankbar dafür, dass er vor ihr kein Blatt vor den Mund nehmen musste und offen sprechen konnte. Sie selbst hatte am eigenen Leib erfahren, was geschah, wenn die Grenzen zwischen Toghan und der realen Welt verschmolzen und die Dimensionen sich überlappten.
Und so erzählte er ihr von der Albtraumgestalt, die ihm im Traum erschienen war.
Niridis!
Der Schwarze Diener des Wahnsinns und der Verzweiflung.