John Sinclair 2154 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2154 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Hölle im Herzen

Die Schreie der Möwen erinnerten die einsame Gestalt an ihre eigenen Schreie, die sie ausgestoßen hatte, als sie gequält und geschändet worden war. Aber auch an die Todesschreie der Sterbenden. Sie waren ihr mindestens ebenso vertraut wie das beständige Rauschen der Wellen, die unermüdlich auf den Strand rollten und nach den nackten Füßen der Frau leckten, deren Blick über das dunkle Wasser gen Horizont schweifte, wo die Sonne vom Ozean verschlungen wurde.
Fast so wie er jenes Eiland verschlungen hatte, das über Jahrhunderte ihre Heimat gewesen war - Toghan, das entrückte Land ...

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Seitenzahl: 301

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

Cover

Impressum

Hölle im Herzen

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Timo Wuerz

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-8860-2

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Hölle im Herzen

von Ian Rolf Hill

Das gleichförmige Rauschen der Brandung wurde nur von den Schreien der Möwen unterbrochen. Sie erinnerten die einsame Gestalt an ihre eigenen Schreie, die sie ausgestoßen hatte, als sie gequält und geschändet worden war. Aber auch an die Todesschreie der Sterbenden. Sie waren ihr mindestens ebenso vertraut wie das Rauschen der Wellen, die unermüdlich an den Strand rollten und nach den nackten Füßen der Frau leckten, deren Blick über das dunkle Wasser gen Horizont schweifte, wo die Sonne vom Ozean verschlungen wurde.

Fast so wie er jenes Eiland verschlungen hatte, das über Jahrhunderte ihre Heimat gewesen war – Toghan, das entrückte Land …

So nannten es zumindest die Menschen, die die Frau aufgenommen hatten.

Doch egal, welchen Namen man dieser verfluchten Insel auch geben mochte, für sie würde es stets die Hölle bleiben, die ihr alles genommen hatte.

Dennoch war sie ihr entkommen.

Als Einzige von Tausenden.

In Jennifer Goulds Herz herrschte seitdem gähnende, schmerzhafte Leere, ohne zu wissen, wie sie sie füllen konnte.

Aus den Erinnerungen von Jennifer Gould

27. September 1587

Der Duft von frisch geschlagenem Holz lag in der milden Sommerluft und zauberte ein Lächeln auf Jennifers Lippen. Das gleichmäßige Klopfen, mit dem Simon und Benjamin abwechselnd die scharfen Klingen ihrer Äxte in das Fleisch des Baumes trieben, war das einzige Geräusch weit und breit.

Abgesehen von dem leisen Plätschern des Baches und dem Zwitschern der Vögel in den Baumwipfeln. Mit einem warmen Gefühl im Herzen beobachtete Jennifer, wie Bartholomew am Ufer des Bächleins auf den Fersen kauerte und Schiffchen aus frischem Laub schwimmen ließ. Er war jetzt fünf Jahre alt und seinem Vater Simon wie aus dem Gesicht geschnitten.

Jennifer hielt in ihrer Tätigkeit inne und nahm sich die Zeit, ihren Sohn ein Weilchen zu beobachten. In Gedanken versunken, mit einer Aufmerksamkeit, wie sie nur Kinder in jungen Jahren aufbrachten, ließ er ein Schiffchen nach dem anderen auf Reisen gehen, bis eine ganze Flotte den Bach hinunter zuckelte.

Simon hätte es zwar lieber gesehen, wenn Bartholomew sich mehr für die harte Arbeit der Männer interessiert oder zumindest mit den anderen Kindern gespielt hätte, doch Bart hielt sich am liebsten in der Nähe der Mutter auf, selbst wenn diese bloß Wäsche waschen ging.

»Wenn alles gut geht, werden wir nächsten Monat die Schule aufmachen können«, sagte Elisabeth, Benjamins Frau, die neben Jennifer am Ufer des Baches saß. »Dann wird auch Bartholomew Freunde in seinem Alter finden, wirst schon sehen. Und wenn nicht, dann bekommt er ja demnächst vielleicht ein kleines Brüderchen, um das er sich kümmern kann.«

Zaghaft lächelnd strich sich Jennifer über den Bauch. Bis ihr zu Bewusstsein kam, was Elisabeth’ Worte zu bedeuten hatten. Erschreckt blickte sie auf.

»Was meinst du damit? Woher weißt du das?«

Lächelnd zog Beth die nassen Hosen aus dem Wasser und rieb sie heftig auf dem Waschbrett. »Ich bin eine Frau. Ich spüre so etwas. Ich hoffe nur, dass Simon es verkraftet, in nächster Zeit etwas kürzertreten zu müssen.«

Jennifer spürte, wie sie rot wurde. »Waren wir denn so laut?«

»Laut genug!«, erwiderte Beth und musste lachen, als Jenny beschämt den Kopf senkte. Die Rothaarige legte ihrer Freundin die Hand auf den Unterarm. »Nun mach nicht so ein Gesicht. Da ist doch nichts dabei. Wir sind schließlich nicht mehr in England. Und wer weiß, wenn eure Liebe Früchte trägt, wird dein Kind das zweite sein, das in Roanoke das Licht der Welt erblickt.«

»Hoffentlich! Sofern uns die Indianer nicht vorher massakrieren!«

»Mach dir darüber mal keine Sorgen. Solange sie genug Feuerwasser bekommen, sind sie viel zu beschäftigt, um uns zu drangsalieren.«

Die Frauen beendeten ihre Arbeit und machten sich beladen mit Körben feuchter Wäsche auf den Rückweg zu den Blockhütten, die die Männer im Schweiße ihres Angesichts förmlich aus dem Wald herausgeschlagen hatten.

Das lag bereits sechs Wochen zurück, und Jennifer konnte ihr Glück immer noch nicht fassen.

Sie hatten es geschafft!

Nachdem die erste Kolonie es sich vergangenes Jahr mit den Wilden verscherzt hatte, waren die Siedler von Sir Francis Drake zurück nach England gebracht worden. Nur eine Handvoll Männer war zurückgeblieben, denn Drake hatte versprochen, zurückzukehren, doch dazu war es nie gekommen. Stattdessen hatte sich John White mit hundertfünfzig Männern und Frauen ein Jahr später auf den Weg gemacht, um einen zweiten Versuch zu wagen.

White, der bereits zu den ersten Kolonisten gehört hatte, befand sich in Begleitung seiner schwangeren Tochter Eleanor und ihres Gatten Ananias Dare, deren Töchterchen Virginia als erstes Kind englischer Siedler auf amerikanischem Boden zur Welt gekommen war. Aus diesem Grund war Jennifers Nachwuchs nur der zweite Platz vergönnt.

Beunruhigend war lediglich der Umstand, dass keiner der zurückgelassenen Männer bei ihrer Ankunft vor wenigen Wochen auf sie gewartet hatte. Die Kolonie war menschenleer gewesen, die Indianer wussten angeblich von nichts!

Ihre Angst dagegen war deutlich spürbar gewesen.

Doch davon hatten sich die Siedler nicht abschrecken lassen. Da die ursprüngliche Kolonie zu klein gewesen war, hatten die zurückgebliebenen Behausungen für die Neuankömmlinge nicht genug Platz geboten. Daher hatten sich die Gebrüder Gould mit ihren Frauen freiwillig bereit erklärt, abseits der eigentlichen Kolonie neue Blockhütten unter den Kronen der Pinien zu errichten.

Simon und Benjamin hatten darauf geachtet, dass sie nicht zu weit entfernt lagen, denn es konnte gut sein, dass man schnell Hilfe benötigte. Und so hatten sie einen schmalen Pfad in den dichten Wald geschlagen, über den die Goulds die Hauptsiedlung in nur dreißig Minuten erreichen konnten.

»Wenn wir die Wäsche aufgehängt haben, kannst du mir helfen, das Mittagessen vorzubereiten, Bartholomew.«

Der Junge trottete mit gesenktem Kopf neben seiner Mutter her und nickte stumm.

»Dad wird auf dem Rückweg die Fallen kontrollieren. Wer weiß? Mit ein wenig Glück gibt es einen saftigen Braten.«

»Kriegt Francis dann auch was ab?«, fragte Bart neugierig und blinzelte seine Mutter von unten her an.

»Francis kann sich selbst was zu Fressen fangen. Wenn Katzen zu dick werden, werden sie träge und fangen keine Mäuse mehr.«

»Hm, na gut.«

Jennifer lächelte und strich ihrem Sohn durch das dichte braune Haar, als sie bemerkte, dass Elisabeth stehen geblieben war. Irritiert wandte sich Jennifer zu der Frau ihres Schwagers um, deren Blick starr nach vorne gerichtet war, wo bereits die Dächer der Blockhütten durch die Kronen der Bäume schimmerten.

Rauch kräuselte sich aus den Schornsteinen und verfing sich zwischen den Ästen wie dünne Spinnweben. Kein Laut war zu hören, dabei hätten sie doch das Grunzen der Schweine und das Gackern der Hühner vernehmen müssen.

»Was ist los?«, erkundigte sich Jennifer bang.

»Da stimmt was nicht!«, murmelte Beth. »Es ist viel zu still. Hör mal, selbst die Vögel haben aufgehört zu zwitschern.« Sie hob den Kopf und ließ den Blick über die Baumkronen schweifen.

Jennifers Magen zog sich zusammen.

Sie erschrak, als sie aus der Ferne das Brechen und Bersten des Baumes hörte, den ihr Mann und sein Bruder gefällt hatten. Sie sah das leichte Zittern benachbarter Kronen, und kurz darauf senkte sich die Stille erneut über den Wald.

Beth nickte ihrer Freundin zu. »Lass uns weitergehen, sonst …«

Sie verstummte abrupt, und jetzt sah auch Jennifer die dunklen Erhebungen auf dem freien Platz zwischen Blockhütte und Hühnerstall. Der Wäschekorb entglitt ihrem Griff, die feuchte Kleidung fiel in den Schmutz.

Jennifer schlug die Hand vor den Mund. Ihr entsetzter Blick schweifte über die Kadaver der Hühner, die mit beispielloser Grausamkeit getötet worden waren.

»Das waren keine Tiere!«, flüsterte Beth betroffen. Sie stellte den eigenen Wäschekorb ab und ging auf die abgeschlachteten Hühner zu. Jennifer schob Bartholomew hinter sich und beobachtete, wie die Freundin vor dem Hahn stehen blieb, der aus zwei Hälften bestand.

»Er wurde mit einer Axt oder einem Beil getötet«, rief Elisabeth mit zitternder Stimme, während Jennifers Blick zum Schweinekoben glitt. Selbst aus der Entfernung sah sie die Pfeilschäfte aus den Kadavern ragen.

»Francis!«, kreischte Bartholomew in diesem Augenblick und warf sich gegen seine Mutter. Das Gesicht an ihrer Schürze verborgen, fing er hemmungslos zu Schluchzen an. Sie selbst musste sämtliche Willenskraft aufbieten, um es ihm nicht gleichzutun.

Der Kater war an die Tür ihrer Blockhütte genagelt worden!

Heute

»Sie sitzt jetzt schon seit Stunden dort draußen!«

Chloe Maxwell warf einen Blick aus dem Küchenfenster, das zur Rückseite des kleinen Häuschens am Strand von Kill Devil Hills wies. Gedankenverloren trocknete sie die Gabeln und Messer ab, die vor ihr im Besteckkorb standen, den sie aus der noch warmen Spülmaschine genommen hatte.

»Du musst ihr Zeit lassen! Du kannst nicht von ihr erwarten, dass sie einfach zur Tagesordnung übergeht. Nicht nach dem, was sie durchgemacht hat.«

Rudy Grenville wischte die Restfeuchtigkeit von der Unterseite eines Tellers und stellte ihn zu den anderen auf den Stapel im Hängeschrank.

»Das tue ich auch nicht. Aber es ist bereits zwei Wochen her, seit wir sie aus Toghan zurückgebracht haben. Ich mache mir Sorgen!«

»Vergiss nicht, wie viel Zeit sie auf der Insel verbracht hat. Mehr als ein Menschenleben. Trotzdem ist sie um keinen Tag gealtert, wie sie gesagt hat.«

Chloe nickte und legte das Messer, das sie gerade abgetrocknet hatte, in die Besteckschublade.

»Das stimmt, auch wenn die Zeit dort schneller ablief als hier. Ich verlange ja auch gar nicht, dass sie so tut, als ob nichts gewesen wäre.« Sie lachte bitter. »Das ist auch wohl kaum möglich. Immerhin stammt sie aus einer Zeit, die über vierhundert Jahre zurückliegt. Genau das ist ja mein Problem!«

Rudy runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

Chloe drehte sich zu ihrem Freund um und musterte ihn aus dunklen Augen, die hinter den Gläsern ihrer Brille funkelten. »Stell dir vor, du stammst aus einer Zeit, in der es noch keine Elektrizität gab. Jeder Tag, war ein Kampf ums Überleben. Wenn du etwas essen wolltest, konntest du nicht mal eben in den Supermarkt um die Ecke gehen, sondern musstest es sammeln, jagen oder anbauen. Allein wenn ich mir vorstelle, auf welchem Stand die Medizin zu dieser Zeit war, wird mir ganz anders. Aber selbst den wenigen Luxus, den sie in England gehabt hat, hat sie aufgegeben, um auf Roanoke ein neues Leben anzufangen. Wärst du da nicht neugierig? Doch sie hat all dies einfach fraglos zur Kenntnis genommen.«

»Na ja, ganz so fraglos nun auch wieder nicht!«

»Sie hat hier und da mal kurz gezuckt, als sie das erste Mal ferngesehen hat oder ein Smartphone benutzte, aber das ganz große Staunen ist ausgeblieben.«

»Ich denke einfach, dass sie noch sehr viel zu verarbeiten hat. Zwischen der Zeit, als sie nach Roanoke Island kam, und jetzt liegen Jahrhunderte, die sie auf Toghan ums nackte Überleben kämpfen musste. Buchstäblich wohlgemerkt. Sie hat gegen Drengars gekämpft und Lurion die Stirn geboten. Wenn du so etwas erlebt hast, kann dich so leicht nichts mehr erschüttern.«

»Mag sein. Trotzdem hat sie nicht ein einziges Mal nach ihrer alten Heimat gefragt. Sie hätte genauso gut mit John und Suko nach England reisen können.«

»Hättest du das getan? Wenn du all die Schrecken und Gräuel von Toghan am eigenen Leib zu spüren bekommen hättest, nur um dich plötzlich vierhundert Jahre in der Zukunft wiederzufinden? Abgesehen davon, dass sie ihrer Heimat absichtlich und aus freien Stücken den Rücken kehrte. Genau genommen ist dies hier ihr Zuhause.«

»Und auch dafür zeigt sie kein Interesse. Jeden Abend sitzt sie am Strand und starrt auf das Meer hinaus.« Chloe wandte sich wieder dem Fenster zu.

»Vielleicht weil es die einzige Konstante in ihrem Leben bildet. Es ist das Einzige, was sich in all den Jahrhunderten nicht verändert hat. Zumindest nicht sichtbar. Ich finde es gut, dass Stephanie sie zum Schnorcheln mitnehmen will. Vielleicht bekommt sie ja den Zugang zu Jenny, der uns versagt bleibt.«

»Ja, vielleicht«, murmelte Chloe und stellte den leeren Besteckkorb zurück in die Spülmaschine.

Rudy lächelte verloren, trat hinter seine Freundin und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Du bist nicht überzeugt, oder?«

Die junge Frau runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir doch einen Therapeuten zu Rate ziehen.«

»Das haben wir versucht. Sie wollte nicht mit ihm reden!«

»Möglicherweise war der Rahmen zu förmlich. Vielleicht sollten wir es zwangloser gestalten. Jemanden zum Essen einladen.«

»Ich weiß nicht, ob das das Richtige für Jenny wäre.«

Wütend fuhr Chloe herum, sodass seine Hände von ihren Schultern glitten.

»Was ist dann das Richtige für sie? Glaubst du wirklich, es reicht, wenn wir sie allein im Sand sitzen lassen?«

Rudy hob beide Hände, verblüfft über Chloes Wut. »So meinte ich das doch gar nicht. Und das weißt du auch. Niemand will sie alleine lassen. Abe hat sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt und ihr sogar eine Identität verschafft, Stephanie und Ben nehmen sie regelmäßig mit aufs Meer und wir geben ihr ein Zuhause.« Er deutete auf seine Freundin. »Du willst sie sogar zum plastischen Chirurgen begleiten. Was willst du noch?«

Chloe ließ die Schultern sinken und lehnte sich an Rudy. »Ich will ihr helfen!«

»Das kann ich verstehen, Liebes. Aber dazu muss sie sich auch helfen lassen wollen.«

Und das war nicht nur so daher gesagt. Schließlich wusste er, wovon er sprach. Er war selbst ein Kind jener Zeit, aus der Jennifer Gould ursprünglich stammte. Nur war er im Gegensatz zu ihr nicht Jahrhunderte über auf einem von Raum und Zeit entrückten Eiland verschollen gewesen, dessen Magie seine unfreiwilligen Bewohner vor Krankheit und Alter bewahrt hatte.

An ihm waren die letzten vierhundert Jahre menschlicher Entwicklung nicht vorbeigegangen. Trotzdem war auch sein Leben nicht frei von Entbehrungen und Leid geblieben. Im Gegenteil. Es waren ja nicht nur die globalen Krisen und Konflikte, die er im Laufe der Zeit mittelbar und unmittelbar miterlebt hatte, sondern vor allem die persönlichen Schicksalsschläge, die ihn heute noch schweißgebadet aus dem Schlaf auffahren ließen.

Das Meiste war in den Schleiern des Vergessens verloren gegangen. Wer konnte sich schon das gesammelte Wissen von gut fünf oder sechs Menschenleben merken? Vieles jedoch war ihm immer noch präsent. Insbesondere das Gesicht von Mary, seiner Frau aus dem ersten Leben.

Dabei war es vor allem ihr vorwurfsvoller Blick, so voller Furcht und Verachtung, der sich wie ein glühendes Eisen in seine Seele gebrannt hatte. Diesen Blick würde er in tausend Jahren nicht vergessen. Im Gegensatz zu den Gesichtern seiner Kinder Henry, Sally, Jane und Sarah.

Sarah, die als Erstes dem Fluch zum Opfer gefallen war, der seit jenen schicksalhaften Tagen auf seinen Schultern lastete.

Sein sterbender Leib hatte ihr erbarmungslos das Leben ausgesaugt. Und das vor ihren Geschwistern, ihrer Mutter und ihrer eigenen Tochter, seiner Enkelin Belinda.

Wenn er schlief, sah er ihre vor Angst und Panik verzerrten Gesichter deutlich vor sich. Kurz bevor er schreiend und in Schweiß gebadet aufwachte. Aber noch ehe sich sein heftig klopfendes Herz beruhigte, verblassten die Gesichter seiner Familie zu verschwommenen Schemen.

Was blieb, war einzig und allein der durchdringende Blick seiner Frau Mary.

Seit diesen Tagen hatte Rudy Grenville es vermieden, sich neu zu verlieben, geschweige denn eine Familie zu gründen, wissend, dass er ihnen nur allzu leicht den Tod bringen konnte. Im Gegensatz zu den Toghanern alterte er nämlich sehr wohl.

Er konnte krank werden und sterben wie jeder andere Mensch.

Und wer auch immer seinen Leichnam als Erster berührte, besiegelte damit sein eigenes Schicksal. Erbarmungslos entzog sein toter Körper dem lebenden die Kraft und hinterließ nicht mehr als eine Pfütze gräulicher Schlacke, zu der die Tiere und Menschen zerflossen.

Aus diesem Grund hatte er die Menschheit fortan gemieden. Er war zum Einsiedler geworden. Ein vereinsamter Sonderling, der zwar jahrhundertelang existiert, aber nie wirklich gelebt hatte.

Und Chloe Maxwell?

Sie hatte ebenfalls eine besondere Geschichte hinter sich, denn bis vor Kurzem hatte ihr Körper nicht weniger als drei verschiedene Seelen beherbergt. Zum einen ihre eigene, dann die einer Frau namens Deborah Arrington, der Tochter von Jeremiah Flynn, und die der Chronistin Vrytha, deren Geist Jahrtausende über an einen alten Folianten gebunden gewesen war.

Durch einen Unfall waren diese Geister mit Chloe Maxwell verschmolzen.1) Dadurch verfügte sie aber auch über ein immenses Wissen. So wurde ihr im Kampf gegen den Kroagh agh Toghan, den Herrscher des entrückten Landes, eine Schlüsselrolle zuteil.

Bis Lilith, eine grausame Urdämonin, ihren Leib übernommen hatte, um mit seiner Hilfe nach Toghan vorzustoßen. Durch die Okkupation war jedoch das Bewusstsein von Deborah Arrington vollständig ausgelöscht worden.

Was aus Vrytha geworden war, das wusste Chloe nicht. Seit ihrer Rückkehr schwieg die Chronistin von Toghan. Gut möglich, dass ihre Seele, die eng mit dem entrückten Land verknüpft gewesen war, mit dem Untergang der Insel ebenfalls erloschen war.

Doch selbst wenn das der Fall sein sollte, so stand für die junge Frau einwandfrei fest, dass sie keineswegs in ihr altes Leben zurück wollte. Zu viel war geschehen, zu viel hatte sie gesehen und erleben müssen, als dass sie einfach wieder zur Tagesordnung übergehen konnte. In London hielt sie nichts mehr, denn während ihrer Abwesenheit war auch ihr demenzkranker Vater verstorben. Einen passenderen Zeitpunkt für einen Neubeginn konnte es wohl kaum geben,

Doch im Gegensatz zu Jennifer Gould hatte sie wenigstens so etwas wie eine Tagesordnung gehabt. Rudy vermutete dennoch, dass die Sorge um die neue Freundin vor allem aus Chloes eigenem Schicksal resultierte.

Dabei hätte sie genug zu tun gehabt, um sich abzulenken, denn zwischen ihr und Rudy hatte es gefunkt, wie man so schön sagte. Es war nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick, und zumindest was ihn anging, so wollte er nichts überstürzen. Das gebrannte Kind scheute schließlich das Feuer. Und selbst wenn die Gefahr durch Toghan gebannt sein sollte, so bedeutete das noch lange nicht, dass dies auch für den Fluch galt.

Der hatte schließlich sogar die Vernichtung des Kroagh agh Toghan überstanden.

Trotzdem war dieser, wie auch die Vernichtung der Schwarzen Diener und der Untergang des entrückten Landes wie ein Befreiungsschlag für ihn gewesen. Seit der Fluch auf ihm lastete, hatte er sich nicht mehr so frei und unbeschwert gefühlt wie jetzt. Ob er sich deshalb auf Chloe Maxwell eingelassen hatte oder ob ihre Liebe einen nicht unerheblichen Teil zu dieser Unbeschwertheit beigetragen hatte, vermochte er nicht zu sagen.

Er genoss dieses Gefühl nur in vollen Zügen.

Deshalb verspürte er auch wenig Lust, sich die abendliche Stimmung mit schwermütigen Gedanken über Jennifer Gould zu verderben. Es mochte hart klingen, aber nichtsdestotrotz war sie nun mal eine erwachsene Frau.

Sie hatte es sogar allein mit den gefährlichen Drengars aufgenommen. Mit nicht mehr als archaischen Waffen aus Feuer und Stein.

Chloe hätte sich also vollkommen auf ihren Umzug von London nach Kill Devil Hills konzentrieren können. Rudy ertappte sich dabei, wie er argwöhnte, dass sie sich vielleicht deshalb so sehr um Jennifer bemühte, weil sie so einen Grund hatte, sich um den Stapel Papierkram herumzudrücken, den es auszufüllen galt, sobald ein Ausländer seinen Hauptwohnsitz in die Vereinigten Staaten von Amerika verlegen wollte.

»Du hast ja recht!«, murmelte Chloe und umarmte ihn.

Sie drückte sich an ihn, und er spürte das heftige Schlagen ihres Herzens dicht an seiner Brust. Unwillkürlich beschleunigte sich sein eigener Puls. Ihre Lippen fanden sich wie von selbst und verschmolzen zu einem innigen Kuss.

Automatisch gingen Rudys Hände auf Wanderschaft, und was er ertastete, half ihm dabei, die Gedanken an Flüche, Dämonen und die Geister der Vergangenheit in einen entfernten Winkel seines Unterbewusstseins zu verbannen.

Auch Chloe schien auf andere Ideen zu kommen, was er anhand ihres schneller werdenden Atems und ihres leidenschaftlichen Kusses zu erkennen glaubte. Seine Finger glitten unter das weit fallende T-Shirt, zupften am Bund ihrer Hose und fuhren zu ihrem Hinterteil.

»Wieso setzen wir unsere kleine Diskussion nicht einfach im Schlafzimmer fort?«, raunte er ihr leise ins Ohr und konnte fühlen, wie sie unter dem sanften Kuss, den er ihr dabei auf den Hals hauchte, erschauerte.

»Gute Idee!«, erwiderte sie und ergriff seine Hand, um ihn hinter sich her aus der Küche zu ziehen.

Ein hoher Schrei entfuhr Chloe, als sie erschrocken zusammenzuckte.

Vor ihnen in der Tür stand Jennifer Gould und starrte das Pärchen stumm an. Rudy lief beim Anblick der verbrannten Gesichtshälfte ein Schauer über den Rücken.

Jeremiah Flynn hatte ihr mit einer Fackel das linke Auge aus der Höhle gebrannt und dabei auch die sie umgebende Haut in Mitleidenschaft gezogen. Doch das war es nicht, was Rudy eine Gänsehaut bescherte.

Es war der Blick des verbliebenen Auges, unter dem er erschauerte.

Er war eiskalt und sezierend. Für einen Moment glaubte er sogar, blanken Abscheu darin flackern zu sehen, doch das mochte genauso gut eine Täuschung gewesen sein.

»Du liebe Güte, Jenny«, rief Chloe japsend. »Hast du mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Bitte, schleich dich nie wieder so an mich heran, wenn du nicht willst, dass ich einen Herzkasper kriege.«

Jennifers Auge verengte sich. »Einen was?«

Chloe lachte erleichtert, vielleicht eine Spur zu schrill. »Mein Gott, einen Herzinfarkt. Einen Anfall, verstehst du?«

Die Frau, die aussah wie Mitte Zwanzig und doch mehr als vier Jahrhunderte alt war, nickte zögernd und verzog die Lippen. Vermutlich sollte es ein Lächeln werden, heraus kam jedoch lediglich eine Grimasse.

Kein Wunder, auf Toghan dürfte es kaum Gelegenheiten zum Lachen gegeben haben.

»Verzeih, das wollte ich selbstverständlich nicht!«

Die Geste, mit der sie den Kopf senkte, war beinahe devot. Ohne das Pärchen eines weiteren Blickes zu würdigen, ging Jenny auf den Kühlschrank zu und holte eine Flasche Bier hervor.

Rudy strich sich verlegen durchs Haar.

Die Atmosphäre in der Küche hatte sich schlagartig abgekühlt. Und obwohl ihm sämtliche Lust auf ein amouröses Stelldichein mit Chloe vergangen war, wollte er nichts sehnlicher als so schnell wie möglich verschwinden.

»Wir waren gerade auf dem Weg ins Bett, weißt du? Es war ein langer Tag und …«

»Ja, ja, geht nur«, unterbrach ihn Jenny hastig. Sie stand vor der Spülmaschine und wandte ihren Gastgebern den Rücken zu. Sie sah aus dem Fenster wie Chloe wenige Minuten zuvor.

Ob sie ahnte, dass sie sie beobachtet hatten?

»Es bleibt doch dabei, dass ich dich morgen zu Doktor Carson begleite, oder?«, fragte Chloe unsicher.

Jenny nickte langsam und trank einen Schluck Bier.

»Ja«, meinte Chloe schließlich. »Dann wünschen wir dir eine gute Nacht, Jenny!«

Wieder nickte diese nur.

Rudy suchte ihren Blick in der Spiegelung der Fensterscheibe. »Brauchst du noch was?«

Jenny schüttelte den Kopf. »Nein! Schlaft gut!«

Sie verließen die Küche, in der Jennifer Gould alleine zurückblieb. Während er sich bettfertig machte, spukte Rudy nur ein Gedanke im Kopf herum: Wie lange hatte Jennifer schon vor der Tür gestanden und sie beobachtet?

Jennifer betrachtete ihr Spiegelbild und lauschte dabei den Schritten, die sich entfernten.

Minutenlang blieb sie stocksteif auf der Stelle stehen, starrte aus dem Fenster, trank Bier und wartete darauf, dass das verhaltene Stöhnen und unterdrückte Kieksen einsetzte, das Chloe stets dann ausstieß, wenn Rudy sie bestieg.

Jennifers Mundwinkel zuckten verächtlich. Glaubten sie tatsächlich, sie würde nicht mitbekommen, wie sie es quasi vor ihrem Auge trieben?

Sie nahm es ihnen nicht übel. Immerhin hatte sie es auf Toghan auch getan. Oft und mit wechselnden Partnern beiderlei Geschlechts. Tatsächlich war es eines der wenigen Vergnügen gewesen, das ihnen der Kroagh und seine dämonischen Schergen nicht hatten nehmen können.

Nein, was Jennifer Gould störte, war die allgegenwärtige Maßlosigkeit, die ihr an jeder Ecke und in jedem Winkel dieser Welt vorgehalten wurde. Egal, ob es um Essen, Hygiene oder Luxus ging.

Hinzu kamen die technischen Errungenschaften, die ihr wie reine Magie erschienen.

Der tägliche Überlebenskampf war purem Stumpfsinn und sinnloser Trägheit gewichen. Die Menschen flanierten über die Straßen und Wege wie Untote. Als ob sie nichts mit sich anzufangen wussten. Sie fuhren in stinkenden Maschinen aus Metall, starrten mit seelenlosen Blicken in diese winzigen, flachen Apparate, die Chloe und Rudy als Mobiltelefone bezeichneten. Dabei trugen sie Kleidung, die in Jennifers Augen nicht mehr als Fetzen waren.

Die Welt hatte sich in einem erschreckenden Maße gewandelt, sodass sie sie nicht mehr wiedererkannte. Es war nicht so, dass sie sich zurück nach Toghan sehnte, weiß Gott nicht, aber sie bezweifelte, dass es in dieser Welt einen Platz für sie gab. Auch wenn sich alle redlich bemühten, ihr zu helfen.

Das war ja das Schlimme!

Rudy und Chloe, vor allem Chloe, begegneten ihr mit so viel Mitgefühl und Wärme, dass sie es kaum ertragen konnte.

Wann hatte ihr zuletzt jemand aus Selbstlosigkeit einen Gefallen getan oder sie um ihrer selbst willen geliebt? Bis vor Kurzem hatte sie sich nicht mehr daran erinnern können. Doch ihre Rückkehr auf die Erde hat längst verschüttete Erinnerungen wachgerufen.

Erinnerungen an ihre Familie. Ihren Sohn Bartholomew und das ungeborene Leben, dass sie unter dem Herzen getragen hatte. Geblieben war eine endlose, kalte Leere.

Ein schmerzhafter Stich zuckte durch ihren Brustkorb. Jennifer keuchte und krümmte sich. Sie musste sich am Rand der Spüle abstützen und hätte dabei fast die Bierflasche fallen gelassen. Draußen war die Sonne längst untergegangen und Jennifer sah in der Fensterscheibe, hinter der sich die Dunkelheit der Nacht ballte, ihr versehrtes Gesicht. Doch es war nicht die grässliche Narbe, die sie entsetzte, es war die Träne, die aus ihrem verbliebenen Auge quoll und über ihre Wange rollte.

Jennifer Gould biss sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte, und hieß den Schmerz willkommen.

Er war so viel leichter zu ertragen.

Aus den Erinnerungen von Jennifer Gould

»Was ist passiert?«

Simon Gould stand in der offenen Tür, die Axt in der schwieligen Faust. Holzspäne und Schmutz klebten auf der gebräunten Haut, die immer noch von dem Schweiß glänzte, den er bei der schweren Arbeit vergossen hatte. Sein blonder Schopf war zerzaust und hing ihm strähnig ins Gesicht. Sein Bruder Benjamin stand hinter ihm und bis auf die Tatsache, dass sein Haar dunkler und das Kinn ein wenig weicher war, ähnelte er Simon, als wären sie Zwillinge.

Unter der Bräune waren beide Männer bleich geworden.

Elisabeth warf sich an die Brust ihres Gatten. Jennifer dagegen blieb sitzen, Simons Blick stumm erwidernd. Stumm und vorwurfsvoll. Bartholomews Kopf ruhte auf ihrem Schoß. Er hatte sich in den Schlaf geweint.

Sie selbst war es gewesen, die Francis abgenommen hatte, indem sie den Pfeil aus seinem steifen Körper gezogen hatte. Die Kadaver der Schweine und Hühner hatten sie liegen gelassen. Dafür hatte sie die alte Muskete abgefeuert, um die Männer zu alarmieren.

Danach war sie ins Haus gegangen, hatte die Muskete erneut geladen und Elisabeth verboten, die Hütte zu verlassen. Die Mörder konnten schließlich noch in der Nähe lauern.

»Es waren die Indianer«, schluchzte Beth. »Sie haben das gesamte Vieh getötet. Bald werden sie wiederkommen und dann …«

»Werden wir sie bezahlen lassen!«

Simon wandte den Kopf und sah seine Frau verblüfft an. Erst jetzt stellte er die Axt gegen die Wand und eilte auf Jennifer zu, ging vor ihr und Bartholomew auf die Knie. »Ist alles in Ordnung, Darling? Geht’s dem Baby gut?«

Er streichelte ihr Gesicht, fuhr sanft über ihren Bauch.

»Dem Baby ist nichts passiert«, erwiderte Jennifer kühl und schob seine Hand zur Seite. »Und ich werde dafür sorgen, dass es so bleibt.«

»Wir müssen die anderen warnen«, murmelte Benjamin und strich seiner Frau zärtlich durch das Haar. Simon wandte sich zu seinem Bruder um und nickte.

»Du hast recht. Ich werde gehen!«

Ben schüttelte den Kopf. »Nein, du wirst hier bei deiner Familie gebraucht. Ich gehe!«

Simon musterte seinen Bruder sekundenlang, dann nickte er. Er wusste genau, wann Benjamin es ernst meinte. Und dieses Mal war es ihm todernst. Das demonstrierte er, in dem er die schwere Axt mit einer Hand in die Höhe hob.

»In Ordnung«, erwiderte Simon. Er richtete sich auf und ging zu einer Truhe im Hintergrund der Hütte. Kurz darauf kehrte er mit einer alten Radschlosspistole zurück und überreichte sie seinem Bruder. Sie stammte aus Deutschland und wurde allgemein nur »Puffer« genannt.

Wortlos nahm Benjamin sie entgegen und schob sie sich in den Gürtel.

»Nein Ben, geh nicht!«, rief Elisabeth.

»Ich muss!«, lautete die knappe Antwort.

»Dann komme ich mit dir!«

»Auf keinen Fall!«, energisch schüttelte er den Kopf. »Du bleibst hier. Am besten hilfst du Simon und Jennifer, die Hühner zu rupfen. Sobald ich zurückkomme, werde ich euch helfen. Vielleicht bringe ich noch ein paar starke Arme mit. Solange das Fleisch nicht verdorben ist, müssen wir es verarbeiten.«

Beth nickte, sie wusste, dass ihr Gatte keinen Widerspruch duldete.

»Was wenn die Pfeilspitzen vergiftet sind?«, fragte Jennifer. »Bring am besten noch ein paar Hunde oder Katzen mit, damit sie von dem Fleisch kosten können.«

Simon erschauerte bei den kaltherzigen Worten seiner Frau, wusste aber, dass sie recht hatte. Er trat auf Benjamin zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Viel Glück, Bruder!«

»Danke, Simon.«

Ben küsste seine Frau auf die Stirn und verließ die Hütte. Sie sahen ihn nie wieder. Zumindest nicht in dieser Welt …

Heute

»Wann sagten Sie, sei dieser Unfall passiert?« Dr. Carson legte zwei Finger unter Jennifers Kinn und hob ihren Kopf leicht an. Dabei drehte er ihn zur Seite, damit das Licht des Scheinwerfers genau auf ihre versehrte Gesichtshälfte schien.

Jennifer Gould wandte das Haupt und fixierte den Chirurgen. »Ich sagte gar nichts«, erwiderte sie kühl.

Dr. Carson lächelte und warf ihrer Begleiterin, die auf einem Stuhl neben der Tür saß, einen verunsicherten Blick über die Schulter zu. Er wurde nicht so recht schlau aus dieser Frau, die den Eindruck machte, als ob sie überhaupt nicht behandelt werden wollte. Es kamen zahlreiche Patienten zu ihm, um sich die Nase verkleinern, die Brust vergrößern, das Fett absaugen oder die Falten glätten zu lassen.

In siebzig Prozent der Fälle handelte es sich um rein kosmetische Eingriffe. Bei ungefähr weiteren zwanzig Prozent ging es um die Entfernung von Melanomen zur Hautkrebsprophylaxe. Und dann gab es noch die restlichen zehn. Diejenigen, die nach Unfällen entstellt waren und hofften, dass er und sein Team ihnen ein neues Gesicht zauberten.

Viele, eigentlich sogar die meisten von ihnen, erwarteten ein kleines Wunder, und nicht wenige musste er zunächst auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Denn trotz aller Fortschritte, die die plastische Chirurgie in den letzten Jahren gemacht hatte, war es ihm unmöglich, die Zeit zurückzudrehen und den Patienten und Patientinnen ihr altes Gesicht zurückzugeben. Doch genau das schien der Großteil der Menschen zu erwarten, die fast alle vermummt hier eintrafen, weil sie sich für ihr Äußeres schämten.

Diese Frau, die vor ihm auf der Behandlungsliege saß, stellte ein gänzlich anderes Kaliber dar. Eines, dass Dr. Stephen Carson in seiner nunmehr zwanzigjährigen Karriere noch nicht unterkommen war. Statt mit gesenktem Kopf die Praxis am Marktplace von Kitty Hawk zu betreten, war sie stolz erhobenen Hauptes und mit herausforderndem Blick, unter dem nicht nur Kim, seine Sprechstundenhilfe regelrecht zusammengezuckt war, eingetreten.

Darüber hätte er fast vergessen, dass sie sich im Behandlungsraum umgesehen hatte, als betrete sie die Kommandozentrale eines außerirdischen Raumschiffs. Als ob sie noch nie eine Arztpraxis von innen gesehen hätte.

»Das ist schon ein paar Jahre her! Es war ein Unfall!«, erklärte Chloe Maxwell, Miss Goulds Begleiterin.

Dr. Stephen Carson nickte, als würde er sich mit dieser Erklärung zufriedengeben. Dabei sah er auf den ersten Blick, dass das eine Lüge war. Die Vernarbung war zwar großflächig, beschränkte sich jedoch auf die nähere Umgebung der linken Augenhöhle. Es gab noch mehrere kleinere Narben am Scheitelbein, die aber seiner Meinung nach von verschmortem Haar stammten, das dort mit der Kopfhaut verschmolzen gewesen sein musste.

Dr. Carson schluckte bei dem Gedanken, dass dieser Frau das Auge womöglich absichtlich herausgebrannt worden war. Die wildesten Theorien zuckten durch sein Hirn. Angefangen von der Prostituierten, die von einem Freier misshandelt worden war, bis hin zum Opfer eines Verbrechersyndikats.

Er verwarf diese Ideen, kaum dass sie ihm gekommen waren. Alles Spekulieren brachte ihn nicht weiter und war auch nicht seine Aufgabe. Er sollte lediglich dafür Sorge tragen, dass Jennifer Gould sich wieder unter Menschen wagen konnte, ohne begafft zu werden, wie ein Freak im Kuriositätenkabinett des vorletzten Jahrhunderts.

Kein Wunder, dass diese Frau ihre seelische Verwundbarkeit unter einem Panzer aus Schroffheit und brüskem Verhalten verbarg. Reiner Selbstschutz. Vermutlich weinte sie sich jeden Abend in den Schlaf, nur um Kraft für den nächsten Tag zu sammeln.

Es musste wie ein emotionaler Spießrutenlauf sein, sich mit diesem Gesicht unter Menschen zu wagen. Immerhin hatte sie einen guten Frisör besucht, der die linke Kopfhälfte bis zum Scheitel geschoren und die Mähne auf der anderen Hälfte durch ein Haarteil verlängert hatte, sodass sie die vernarbte Seite verdeckte.

»Ich kann mir nicht helfen«, murmelte er mehr zu sich selbst, »aber es sieht aus, als wäre auf der Wunde eine komplette neue Haut gewachsen. Ohne jede Entzündung. Wirklich erstaunlich.«

Die Frauen schwiegen. Was hätten sie auch dazu sagen sollen?

Schließlich rollte Dr. Stephen Carson auf seinem Drehhocker zurück und sah abwechselnd die Patientin und ihre Freundin an. »Es gibt zwei Möglichkeiten, was wir tun können«, erklärte der Arzt und spreizte den Daumen der rechten Hand ab.

»Erstens: Wir fertigen ein Silikonimplantat mit einem künstlichen Auge zum Aufkleben an …«

Er registrierte sehr wohl, wie Jennifer Gould die Stirn runzelte, ließ sich davon aber nicht irritieren. »Oder zweitens: Wir legen eine neue Augenhöhle an, in die wir ein Glasauge einsetzen.«

Er ertappte sich dabei, wie er sich unbewusst Chloe Maxwell zuwandte, als sei sie Miss Goulds Vormund. Was vermutlich damit zusammenhing, dass die Patientin nicht gerade den intelligentesten Eindruck machte. Sie schien ein wenig zurückgeblieben zu sein. Zumindest tat sie so, als ob sie nicht die Hälfte von dem verstand, was um sie herum geschah.

Umso überraschter war Carson, als er zum ersten Mal bei seiner Patientin eine Reaktion erlebte, die nicht von Misstrauen, Angst und Abwehr geprägt war.

»Ist so etwas denn möglich?«

Aus ihren Worten sprachen so viel kindliche Naivität und Neugier, dass Carson unwillkürlich lächeln musste. »Selbstverständlich«, erwiderte er jovial.

Prompt legte sich ein Schatten über Jennifers Miene. Irritiert wandte sich Carson an Chloe Maxwell, unsicher, ob er etwas Falsches gesagt hatte.

»Ich nehme an, das Glasauge sieht natürlicher aus?«, fragte diese.

Er nickte. »Ja, rein optisch wäre es nicht von dem echten zu unterscheiden.«

»Kann ich denn damit auch wieder sehen?«, erkundigte sich Jennifer.

Fast hätte Carson gelacht, konnte sich aber im letzten Moment zusammenreißen. Nein, diese junge Frau war definitiv geistig eingeschränkt.

»Nein!« Er bemühte sich um einen sachlichen Tonfall. »Es dient allein kosmetischen Zwecken.«

Sie machte ein Gesicht, als ob sie nicht ein Wort von dem begriff, was er sagte. Er wusste nicht so recht, wie er damit umgehen sollte. Aber das musste er auch gar nicht, denn das »Nein« hatte Jennifer Gould sehr wohl verstanden, und mehr brauchte sie offenbar nicht zu wissen.

Ruckartig stand sie auf. »Dann weiß ich nicht, welchen Nutzen das hier haben soll.«

Die Worte waren mehr an ihre Begleiterin gerichtet als an den Arzt. Trotzdem fühlte sich Dr. Carson genötigt, eine Antwort zu geben.

»Nun, es würde Ihnen möglicherweise helfen, wieder ein normales Leben zu führen!«

Miss Gould schnaubte. »Ein normales Leben?«

Chloe Maxwell sprang auf und ergriff ihre Freundin bei den Schultern, zog sie sanft aber bestimmt in Richtung Tür. »Vielen Dank, Doktor Carson. Wir melden uns, sobald wir, ich meine, Miss Gould, eine Entscheidung getroffen hat.«

Dann schob die Frau mit den rot gefärbten Haaren ihre Freundin nach draußen.

Selten war Dr. Stephen Carson derart erleichtert darüber gewesen, dass eine potentielle Patientin seine Praxis verließ. Und er hoffte inständig, dass diese sonderbare Frau nicht mehr zurückkehrte.

»Sag mal, was sollte das eben?«, fragte Chloe.

Bei allem Verständnis fühlte sie nun doch, wie sie langsam ärgerlich wurde. Sie kam sich vor, als würde sie gegen Windmühlen kämpfen. Oder wie Sisyphos, der einen Felsen den Berg hinaufrollen musste, der, kaum dass er den Gipfel erreicht hatte, wieder herunterrollte.

Nur dass Jenny eben keine Windmühle war. Und auch kein Felsen. Sie war ein Mensch. Einer der stursten und schwierigsten, die Chloe jemals kennengelernt hatte. Immer wieder musste sie sich vor Augen halten, dass Jenny nicht aus dieser Epoche stammte und die meiste Zeit ihres Daseins auf einer von Dämonen beherrschten Insel verbracht hatte.

Mochte der Teufel wissen, was sie zu tun gezwungen gewesen war, um zu überleben.