1,99 €
Die Häscher kamen näher!
Der Werwolf sah sie nicht, doch er hörte, wie sie sich einen Weg durch den Schnee und das Dickicht bahnten. Sie kamen von allen Seiten.
Gehetzt blickte die Bestie sich um. Sich zu verstecken hatte keinen Sinn, sie würden sie überall aufspüren. Auch ein Kampf kam nicht infrage. Ihre Feinde waren ihr haushoch überlegen, denn es waren selbst Werwölfe. Und sie waren in der Überzahl. In das Knurren der Wölfe mischten sich das Schnauben der Bären und das Dröhnen eines sich rasch nähernden Schneemobils.
Der Werwolf saß in der Falle, doch er würde nicht aufgegeben. Das hätte den Tod bedeutet. Sie würden keine Gnade kennen, denn einen solchen Fang machten sie nicht alle Tage. Schließlich handelte es sich bei diesem Werwolf um keine gewöhnliche Bestie.
Der Wolf hieß Denise Curtis und war Lykaons Tochter!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Aufmarsch der Bestien
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Daniel Eskridge; Denis Simonov/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9291-3
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Aufmarsch der Bestien
(Teil 1 von 3)
von Ian Rolf Hill
Die Häscher kamen näher!
Der Werwolf sah sie nicht, doch er hörte, wie sie sich einen Weg durch den Schnee und das Dickicht bahnten. Sie kamen von allen Seiten.
Gehetzt blickte sich die Bestie um. Sich zu verstecken hatte keinen Sinn, sie würden sie überall aufspüren. Auch ein Kampf kam nicht infrage. Ihre Feinde waren ihr haushoch überlegen, denn es waren selbst Werwölfe. Und sie waren in der Überzahl. In das Knurren der Bestien mischten sich das Schnauben der Bären und das Dröhnen eines sich rasch nähernden Schneemobils.
Der Werwolf saß in der Falle, doch er würde nicht aufgegeben. Das wäre gleichbedeutend mit dem Tod. Sie würden keine Gnade kennen, denn einen solchen Fang machten sie nicht alle Tage.
Schließlich handelte es sich bei diesem Werwolf um keine gewöhnliche Bestie.
Der Wolf hieß Denise Curtis und war Lykaons Tochter!
Allerdings nutzte ihr das in dieser Situation herzlich wenig. Im Gegenteil. Für ihre Feinde war sie ein gefundenes Fressen. Es hatte eine Bewährungsprobe werden sollen, jetzt sah es so aus, als würde es am Ende eine Beerdigung geben. Und zwar ihre eigene.
Auf Hilfe von außen brauchte sie jedenfalls nicht zu hoffen.
Für einen winzigen Moment war Denise abgelenkt, und diese Unachtsamkeit rächte sich auf der Stelle. Das Dickicht zu ihrer Linken explodierte förmlich, als ein Gebirge aus Muskeln, Fell, Krallen und Zähnen daraus hervorbrach und sich brüllend auf die Werwölfin stürzte.
Aufgerichtet erreichte diese fast zwei Meter und brachte ebenso viele Zentner auf die Waage. Gegen diesen Koloss war sie jedoch ein Winzling. Das Ungeheuer röhrte und schlug mit der Tatze nach ihr. Denise winselte, als der Schlag ihre Flanke traf. Splitternd barsten die Rippen und bohrten sich in die Lungen, die sich sofort mit einer warmen, zähen Flüssigkeit füllten.
Denise krümmte sich und rollte über den schneebedeckten Waldboden, gab sich dabei noch mehr Schwung, um aus der Reichweite des Berserkers zu gelangen. Die Schmerzen raubten ihr sekundenlang die Sinne. Mühsam schnappte sie nach Luft, was mit einem kollabierten Lungenflügel nicht so einfach war.
Der Stamm einer Sitka-Fichte bremste ihren unkontrollierten Flug.
Das Blut, das aus den Rissen in ihrer Flanke gespritzt war, hob sich scharf von dem weißen Schnee ab, der die Landschaft hier oben, nördlich des Yukon, wie ein Leichentuch bedeckte.
Am liebsten wäre sie jetzt einfach liegen geblieben. Allein die Gewissheit, dass sie nie wieder aufgestanden wäre, verlieh ihr die Kraft, weiterzumachen. Der Berserker würde sie in der Luft zerfetzen – trotz ihrer enormen Regenerationsfähigkeiten, die dafür sorgten, dass sich ihre Wunden schlossen und sich die Rippen knackend wieder zusammenfügten.
Denise hustete und spuckte das Blut aus, das sich in ihrer wiederhergestellten Lunge gesammelt hatte. Ein heißer Stich fuhr der Teenagerin durch die Brust, als sich der verklebte Lungenflügel aufblähte und mit Luft füllte.
Der Bär stellte sich auf die Hinterbeine, schlug mit den Tatzen nach ihr, während von der Seite ein weiterer Schatten aus dem Unterholz schoss. Kleiner, gedrungener als der Bär, dabei nach Leder und Benzin stinkend!
An der rechten Hand der vermummten Gestalt, die auf einem Schneemobil saß, glänzten silberne Klingen. Denise reagierte instinktiv. Sie wälzte sich herum, hieb die Krallen in die raue Borke und zog sich mit einem Ruck in die Höhe. Aus ihrem Maul drang ein verzweifeltes Jaulen. Sie hatte das Gefühl, ihr Körper würde in zwei Hälften zerrissen werden. Die Rippen waren noch nicht vollständig zusammengewachsen, doch Denise blieb keine Wahl.
Sie zog die Hinterläufe an, schlug die Krallen in das Holz und stieß sich ab. Unter ihr schoss die Jägerin mit der Silberkralle am Stamm vorbei und hinterließ vier Risse in der Borke. Denise war dieser Gestalt noch nie zuvor begegnet, doch sie wusste aus Erzählungen ihres Vaters, um wen es sich handelte.
Das war Aleksandra Jorgovanovic. Eine Werwolfjägerin, die bereits mehrfach mit Morgana Layton Seite an Seite gekämpft hatte. Vor ihr musste sich Denise mindestens ebenso sehr in Acht nehmen wie vor den Berserkern.
Die Teenagerin in Werwolfgestalt kletterte weiter. Hier oben würden sie sie nicht kriegen!
Einige Bären mochten in der Lage sein, den Stamm eines Baumes zu erklimmen, doch das Gewicht des Berserkers würde ihn erbarmungslos in die Tiefe ziehen. Es war keine Frage der Kraft, sondern der Physik.
Denise hangelte sich weiter und beobachtete dabei, wie die Serbin auf dem Schneemobil den Stamm umrundete. Diese hielt sich jetzt mit ihrer Krallenhand am Lenker fest, während sie mit der linken eine Pistole unter dem Mantel hervorzog.
Denise sah zu, dass sie den Stamm der Fichte zwischen sich und die fanatische Werwolfjägerin brachte, die blind drauflos feuerte. Die Kugel fuhren durch das Geäst oder klatschten wirkungslos in den Baum. Der Duft von frischem Holz und Nadeln kitzelte Denises Geruchsnerven. Auch wenn sie als Lykaons Tochter gegen geweihtes Silber immun war, so tat es doch verdammt weh.
Spiralförmig kletterte Denise höher, merkte jedoch, dass der Stamm bereits dünner wurde. Die Baumkrone schwankte spürbar. Allerdings nicht, weil die Werwölfin darin herumkraxelte, sondern weil der Berserker sich mit seinen Vordertatzen dagegenstemmte, als wollte er sie aus der Krone schütteln wie einen reifen Apfel.
Plötzlich endete der Beschuss.
Offenbar musste die Jägerin das Magazin wechseln. Doch dann sah Denise, wie sich unter ihr die Äste bewegten. Helles Fell leuchtete zwischen dem saftigen Grün. Ein riesiger Werwolf mit weißem Pelz hatte die Verfolgung aufgenommen. Ein kehliges Knurren drang aus seinem Maul.
Auch an den anderen Bäumen krochen die Werwölfe empor. Die Krone einer dünnen Fichte bog sich in Denises Richtung.
Eine Bestie mit braunem Pelz überwand die Distanz mit einem Sprung, flog auf die Flüchtende zu, die um den Stamm herumwuselte. In ihrer Panik lief sie über den nächstliegenden Ast, der sich bedrohlich nach unten neigte.
Die Klauen des weißen Werwolfs brachen aus den schaukelnden Zweigen und bekamen den Ast, auf dem Denise balancierte, zu fassen. Das Splittern des Holzes fuhr ihr durch Mark und Bein. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als sich abzustoßen und auf eine kleinere Fichte unter ihr zu springen. Noch in der Luft sah sie unter sich einen weiteren Berserker aus dem Dickicht stürmen.
Denise flog wie eine Kanonenkugel in den Wipfel des Nadelbaumes. Äste und Zweige peitschten gegen ihren Körper. Ein Platzen und Brechen erklang dicht unter ihr. Die Baumkrone hielt ihrem Gewicht nicht stand, brach ab wie ein Streichholz.
Für Denise ging es abwärts. Panisch jaulte sie auf. Der Aufprall auf dem Waldboden erschütterte sie bis in die Fellspitzen. Er war so heftig, dass sie sogar noch einmal in die Höhe geschleudert wurde.
Ein Schatten senkte sich über sie. Der abgebrochene Stamm wurde immer größer, raste wie ein Fallbeil auf sie herab. Der Berserker hatte ihn kurzerhand entwurzelt. Denise schaffte es, mit einem Sprung zur Seite auszuweichen, sonst wäre sie ungespitzt in den Boden gerammt worden.
Der Bär sank auf alle viere, während hinter ihm aus der Baumkrone der Werwolf mit dem weißen Pelz sprang, dicht gefolgt von der braunen Bestie. Und auch die vermummte Serbin mit der Silberkralle schoss auf ihrem Schneemobil aus dem Gebüsch und fegte auf Denise zu, die auf dem Absatz kehrtmachte und Haken schlagend zwischen den Stämmen Schutz suchte.
Doch plötzlich gab es keine Bäume mehr.
Denise stand auf einer Lichtung!
Vor ihr, am anderen Ende, bewegte sich das Dickicht, entließ mehrere Werwölfe, die sich wie eine Wand vor Lykaons Tochter aufbauten. Diese blieb abrupt stehen, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt.
Das Dröhnen des Schneemobils schwoll an. Denise wollte ausweichen, doch sie war zu langsam. Wie glühende Nägel fuhren die silbernen Krallen über ihren Rücken, rissen blutige Furchen in das Fleisch der Werwölfin. Schmerzerfüllt heulte die Teenagerin auf und taumelte nach vorne. Aleksandra Jorgovanovic jagte an ihr vorbei, drosselte das Tempo und zog die Maschine herum.
Leise tuckerte der Motor im Leerlauf.
Die Werwölfe zogen den Kreis enger.
Denise wollte zur Seite ausweichen, doch auch dort lauerten sie schon. Zusammen mit einem der Grizzlybären, bei dem es sich nur um einen der Berserker handeln konnte. Der zweite Bär bezog auf der gegenüberliegenden Seite Posten, und hinter Denise standen der weiße Werwolf und die Bestie mit dem braunen Pelz.
Lykaons Tochter drehte sich im Kreis, knurrte, fauchte und bellte, bis sie heiser war.
Ihr Magen verkrampfte sich, ihr Herz hämmerte wie wild. Wo sie auch hinsah, überall starrte sie in kalte, unerbittliche Raubtieraugen. Der Blick der Serbin hinter dem Plexiglas ihrer Schneebrille stand denen der Bestien in nichts nach.
Panik überkam Denise Curtis, sie warf sich herum und rannte auf die beiden Werwölfe in ihrem Rücken zu. Wenn sie irgendwo durchbrechen konnte, dann dort. Sie duckte sich, fintierte und schlug Haken.
Trotzdem war sie nicht schnell genug. Eben schlüpfte sie an der weißen Bestie vorbei, als diese sie am Hinterlauf zu packen bekam und zurückzerrte.
Denise bohrte ihre Krallen in den hart gefrorenen Waldboden. Sie heulte und winselte in nackter Angst. Meterweit segelte sie durch die Luft, prallte in der Mitte der Lichtung auf und überschlug sich mehrfach. Der Gestank nach Benzin wurde intensiver, obwohl sich die Serbin keinen Zentimeter vom Fleck gerührt hatte.
Lykaons Tochter fuhr herum, schlug nach der Werwolfjägerin und wich zurück, als diese ihren Hieb mit der silbernen Kralle parierte. Der Schlag einer Bärenpranke traf Denise am Hinterlauf. Sie knickte ein und brüllte vor Schmerzen.
Der Kreis der Werwölfe zog sich weiter zusammen, sodass an Flucht nicht mehr zu denken war. Halb liegend erstarrte Denise. Mit den Pranken stützte sie sich ab und stieß ein Wehklagen aus, das in einem abgehackten Schluchzen endete.
Das Fell rieselte von ihrem entblößten Körper. Dichtes blondes Haar rollte sich in Locken über den Kopf. Die Wolfsschnauze bildete sich zurück. Denise Curtis kippte auf die Seite, zog die Beine an die Brust und umschlag sie mit beiden Armen.
Nackt und wimmernd blieb sie inmitten ihrer Feinde liegen.
Ihre Flucht war zu Ende.
☆
»Sind die Ketten wirklich nötig?«
Lykke stand vor der jungen Frau, die nicht älter als sechzehn sein konnte, und verspürte Mitleid. Immerhin hatte man ihr Kleidung gegeben, die an ihrer mageren Figur schlotterte.
Das Kind war sichtbar unterernährt und fror erbärmlich. Es zitterte am ganzen Leib. Nur die blonden Haare leuchteten wie reifer Weizen.
»Das ist Lykaons Tochter«, erinnerte Aleksandra Jorgovanovic die Schamanin der Berserker. »Wir dürfen sie nicht unterschätzen, nur weil sie so unschuldig und harmlos aussieht.«
Lykke nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Mag sein. Momentan ist sie jedoch nicht mehr als ein halbwüchsiges Mädchen, das Angst hat.«
»Sie ist ein Feind!«, zischte Aleks. »Morgana hätte …«
»Morgana ist tot!«, unterbrach Lykke barsch. »Ich trage die Verantwortung für die Kolonie.«
Die Serbin mit dem roten Bandana verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Hat Ujurak da nicht auch noch ein Wörtchen mitzureden?«
Aus dem Türschatten der Abstellkammer, die Aleks kurzerhand zur Kerkerzelle umfunktioniert hatte, schob sich die hochgewachsene Gestalt des Eskimos, der einst Morganas Stellvertreter gewesen war. Er überragte Lykke um fast zwei Köpfe. Jetzt legte er ihr eine seiner großen, schweren Hände auf die Schultern.
»Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber Aleksandra hat recht. Wenn sie wirklich Lykaons Tochter ist, dürfen wir kein Risiko eingehen. Und ihr auch nicht die geringste Chance zur Flucht geben. Unser aller Sicherheit wäre in Gefahr.«
»Allein die Tatsache, dass sie uns hier oben in Alaska gefunden hat, sollte uns alarmieren«, fügte Aleks hinzu. Für ihre Verhältnisse klang es beinahe milde.
»Gut! Ihr habt mich überzeugt. Bringt ihr was zu essen und zu trinken.«
»Das haben wir bereits. Sie will nichts.«
»Trotzdem!«
Aleksandra Jorgovanovic seufzte und wandte sich ab. Lykke hörte, wie sie draußen mit Dara, ihrer Gefährtin sprach. Diese war ebenfalls bei der Jagd auf Denise Curtis dabei gewesen. Im Gegensatz zu der Serbin handelte es sich bei Dara um eine Werwölfin. Die letzte Überlebende einer uralten Sippe, die Aleksandras Familie auf dem Gewissen hatte. Trotzdem hatten sie sich ineinander verliebt. Morgana hatte weise entschieden, als sie beschloss, sie aufzunehmen.
Sie waren der beste Beweis dafür, dass Mensch und Bestie nicht nur koexistieren, sondern sich sogar lieben konnten.
»Hat sie etwas gesagt?«
»Kein einziges Wort!«, lautete Ujuraks Antwort. Danach schwiegen er und Lykke, bis Aleksandra mit einem Teller Sandwiches und einer Karaffe Wasser zurückkehrte, die sie der Schamanin übergab.
»Roastbeef und Lachs. Oder soll ich lieber rohes Karibufleisch besorgen?«
Lykke warf Aleksandra einen kurzen Blick zu. Sie wusste nicht, ob die Frage als Scherz gemeint war. Die Schamanin der Berserker hatte ohnehin Probleme mit Humor, umso mehr bei jemandem wie der Serbin, die so gut wie nie lächelte.
»Danke, das wird reichen. Ich glaube kaum, dass sie besonders wählerisch ist.«
Aleks zuckte mit den Schultern. »Sie ist ein Teenager. Ich wär mir da nicht so sicher.«
Die Berserkerin beschloss, diesen Kommentar nun doch als Scherz aufzufassen, und ignorierte ihn. »Bitte lasst uns allein!«
»Ist das dein Ernst?«, fragte Aleksandra fassungslos, während Ujurak sich mit einem verständnislosen Schnaufen begnügte.
Lykke sah die Werwolfjägerin stumm an, die beide Hände hob.
»Schon gut«, murmelte sie und folgte dem Eskimo nach draußen. Hinter Lykke schloss sich die Tür. Das Innere der fensterlosen Abstellkammer wurde vom Licht einer Petroleumlaterne erhellt, die neben der Tür an einem Haken hing. Lykke stellte die Flamme etwas größer, bevor sie sich der Gefangenen zuwandte.
Sie kauerte mit angezogenen Beinen auf einer strohgefüllten Matratze. Hand- und Fußgelenke wurden von eisernen Manschetten umschlossen, an denen schwere, gusseiserne Ketten hingen. Diese waren nicht nur mit ledernen Bändern verbunden, die sich um Hüfte und Hals des Mädchens schlangen, sondern auch mit einem Granitblock, den selbst ein Werwolf nicht so ohne Weiteres bewegen konnte.
Denise war verschnürt wie ein Schwerverbrecher außerhalb seiner Gefängniszelle. Ohne fremde Hilfe würde sie kaum essen können, denn die gefesselten Hände waren mit dem Bauchgurt verbunden. Der Schein der Petroleumlaterne warf ein Muster aus Licht und Schatten auf ihr hohlwangiges Gesicht und verlieh ihm einen dämonischen Ausdruck. Die Verwandlung und die Selbstheilung zehrten an ihrer Substanz.
Lykke blieb vor der Matratze stehen und ließ sich im Schneidersitz davor nieder.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte sie, erhielt jedoch keine Antwort. Damit hatte Lykke aber auch nicht gerechnet. So leicht würde es ihr Denise nicht machen.
Die Schamanin stellte Teller und Krug zwischen sich und der Teenagerin auf den Boden. »Wenn du etwas möchtest, musst du es nur sagen!«
Denise hielt die Augen geöffnet, den Blick ins Leere gerichtet. Sie blinzelte nicht einmal, wirkte fast wie tot. Nur anhand der sich schwach hebenden und senkenden Brust konnte Lykke erkennen, dass Lykaons Tochter lebte.
»Warum bist du hergekommen?«
Schweigen.
Das konnte Lykke auch. Sie verkniff sich das Seufzen, griff nach einem der Lachs-Sandwiches und aß langsam und bedächtig. Anschließend trank sie einen Schluck Wasser. Sie bemerkte, wie Denise sie dabei beobachtete. Als Lykke ihren Blick erwiderte, senkte sie hastig die Lider.
Die Schamanin setzte den Krug ab.
»Ich will ehrlich zu dir sein, Denise. Deine Anwesenheit beunruhigt mich. Du hast Aleksandra gehört, sie sieht dich als Feindin an, weil du Lykaons Tochter bist. Ich glaube nicht, dass du es warst, die uns aufgespürt hat. Er war es. Die Frage ist nur, warum hat er nicht längst angegriffen? Warum schickt er seine Tochter und lässt es sogar zu, dass sie gefangen genommen wird?«
Schweigen.
»Meinst du, er macht sich Sorgen um dich?«
Ihre Lippen zuckten. Etwas Glitzerndes quoll einem Diamanten gleich unter einem der Augenlider hervor, rollte über die Wange.
»Nein, ich glaube nicht«, gab sich Lykke selbst die Antwort. »Lykaon ist ein Dämon. Er kennt keine Liebe. Nur den Hass! Deshalb wird er auch scheitern.«
Die Schamanin erhob sich und ging zur Tür. Ihre Hand lag bereits auf der Klinke, als sie die Stimme des Mädchens einholte. »Er wird euch alle töten. Jeden Einzelnen von euch. Er wird niemanden verschonen. Weder Männer, Frauen noch Kinder. Seine Armee steht zum Angriff bereit. Sie wartet nur darauf, über euch herzufallen.«
Lykke verharrte und drehte sich um. Sie wusste nicht, was sie mehr erschütterte. Die Worte an sich oder die Teilnahmslosigkeit, mit der sie ausgesprochen worden waren.
»Wie sollte ihm das gelingen? Die Magie von Fenris und Thor wird ihn daran hindern!«
»Idiotin. Hast du es noch nicht gehört? Lykaon hat die Flammenden Steine erobert. Er hat sie mit der Magie des Schwarzen Doms vergiftet!« Zum ersten Mal zeigte Denise eine Reaktion. Sie spie die Worte hervor, sodass ihr der Speichel von den Lippen sprühte. »Es bedurfte nur ein wenig von seinem Fleisch und Blut, um den magischen Anker zu werfen.«
Lykke wunderte sich selbst darüber, wie ruhig sie blieb. Nein, sie hatte nicht gewusst, dass Lykaon die Flammenden Steine erobert hatte. Sie wusste ja nicht einmal, was mit diesem Begriff gemeint war. Denise zog die Nase hoch und kicherte. Sie versuchte, Lykke zu verunsichern, doch sie ließ sich nicht täuschen. Das Mädchen hatte Angst.
»Dein Vater hat dich geopfert, um an uns heranzukommen. Du bist der Köder, der verschluckt wird, damit der Fisch am Haken hängt.«
»Närrisches Weib! Ihr seid doch nicht mehr als Schafe, die sich ängstlich in ihrem Pferch verkriechen. Dabei hat das Wolfsrudel sie längst umstellt. Lykaon kommt! Und er wird mich befreien!«
Es war der reine Trotz, der aus ihr sprach. Und dennoch … etwas an ihren Worten ließ die Schamanin erschauern. Ruckartig hob Denise Curtis den Kopf. »Und jetzt gib mir was zu essen. Oder willst du, dass das halbwüchsige, ängstliche Mädchen verhungert?«
☆
»Sie wird uns verraten!«
Podargo hielt die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete Lykaon, der im Zentrum der Flammenden Steine stand, dort, wo sich die schwarzen Linien trafen, die die magisch aufgeladenen Stelen miteinander verbanden. Die Harpyie hatte ihre dämonische Gestalt angenommen und wartete auf das Signal zum Angriff. So wie auch Phorkys, der seine kürzlich eingetroffenen Werwolf-Mantiden in Stellung brachte.
»Denise wird uns nicht enttäuschen! Sie ist schließlich meine Tochter. Sorg lieber dafür, dass deine ebenfalls ihre Aufgabe erfüllen.«
»Das werden sie. Mach dir keine Sorgen!« Podargo spreizte die ledrigen Flügel und stieß sich ab, schwang sich in die Lüfte, wo die beiden Sirenen bereits auf sie warteten.
Lykaon kümmerte sich nicht weiter um die Sturmdämonin und ihre Brut.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: