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Es war ein Gemetzel!
Die zerfetzten Kadaver der Wölfe lagen wie weggeworfene Lumpen im schneebedeckten Unterholz. Die weiße Pracht schmolz unter dem heißen Blut, das in der Dunkelheit schwarz wie Öl schimmerte. Mit letzter Kraft schleppte sich der einst so stolze Leitwolf auf das Dickicht eines Jungwuchses zu. Er blutete aus einer klaffenden Wunde in der Flanke, aus der ein Teil seiner Innereien hing. Das kräftige Tier gab dennoch nicht auf. Selbst dann nicht, als eine riesige, schattenhafte Kreatur auf vier dünnen Beinen die Verfolgung aufnahm.
Das Monster, das wie eine bizarre Mischung aus Werwolf und Gottesanbeterin aussah, knurrte voller Vorfreude, bevor es mit den Fangbeinen ausholte.
Knirschend bohrte sich die Spitze aus Chitin durch die Schädeldecke des Wolfs, der zuckend verendete. Dass das zweite Fangbein ihn in zwei Hälften zerteilte, bekam er schon nicht mehr mit ...
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Seitenzahl: 139
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Schlachtfeld Alaska
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Néstor Taylor/Bassols
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9292-0
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Schlachtfeld Alaska
(Teil 2 von 3)
von Ian Rolf Hill
Es war ein Gemetzel!
Die zerfetzten Kadaver der Wölfe lagen wie weggeworfene Lumpen im schneebedeckten Unterholz. Die weiße Pracht schmolz unter dem heißen Blut, das in der Dunkelheit schwarz wie Öl schimmerte. Mit letzter Kraft schleppte sich der einst so stolze Leitwolf auf das Dickicht eines Jungwuchses zu. Er blutete aus einer klaffenden Wunde in der Flanke, aus der ein Teil seiner Innereien hing. Das kräftige Tier gab dennoch nicht auf. Selbst dann nicht, als eine riesige, schattenhafte Kreatur auf vier dünnen Beinen die Verfolgung aufnahm.
Das Monster, das wie eine bizarre Mischung aus Werwolf und Gottesanbeterin aussah, knurrte voller Vorfreude, bevor es mit den Fangbeinen ausholte.
Knirschend bohrte sich die Spitze aus Chitin durch die Schädeldecke des Timberwolfs, der zuckend verendete. Dass das zweite Fangbein ihn in zwei Hälften zerteilte, bekam er schon nicht mehr mit …
Sechs Rudel waren dem Ruf des Götterwolfs Fenris gefolgt, um die Kolonie zu verteidigen. Über einhundertfünfzig Wölfe, von denen zwei Drittel zwischen den Bäumen im Schnee verendeten.
Getötet von Lykaon und seiner Schreckensarmee, bestehend aus geklonten Werwölfen und schaurigen Mutationen, die irgendwo zwischen Insekt und Bestie anzusiedeln waren. Werwolf-Mantiden hatte Phorkys, der Vater der Ungeheuer, seine neueste Kreation, die er im fernen Indien herangezüchtet hatte, getauft.
Sie waren der passende Ersatz für die Mantikore, die sie in Bulgarien verloren hatten.
Doch das war Vergangenheit und zählte für Lykaon nicht mehr. Jetzt galt es nach vorne zu blicken und Fenris endgültig zu besiegen. Die Chancen dafür standen gut, obwohl der Kontakt zu seiner Tochter Denise abgebrochen war. Vielleicht war sie getötet worden, Lykaon wusste es nicht.
Aber er war auch ohne sie ans Ziel gelangt. Dank seiner Feinde – allen voran die Berserkerin Lykke, der Geisterjäger John Sinclair und die Atlanter –, die versucht hatten, sich mit Hilfe von Fenris geradewegs nach Alaska in die Kolonie nördlich des Yukon zu teleportieren.
Darauf hatten Lykaon und seine Helfer nur gewartet. Aus diesem Grund hatten sie ja die Flaming Stones in Mittelengland in ihre Gewalt gebracht und durch den verbliebenen Splitter des Schwarzen Doms umgepolt.
Lykaon hatte den magischen Leitstrahl seines Erzfeindes angepeilt und seine Gegner kurzerhand umgeleitet. Während sie zwischen den Flammenden Steinen gelandet waren, hatte er sich mit seiner Armee an den Leitstrahl gehängt und in die Kolonie bringen lassen.
Das war zumindest der Plan gewesen.
Bedauerlicherweise war er nicht reibungslos verlaufen, denn Fenris hatte im letzten Moment gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und den Strahl von der Kolonie abgelenkt. Statt innerhalb des Forts zu erscheinen, materialisierten Lykaon und seine Krieger gut eine Meile westlich der Palisaden, hinter denen sich Fenris und seine Kinder verbarrikadierten.
Ein lächerlicher Rückschlag, der nur etwas am Zeitplan änderte, aber nichts am fatalen Ergebnis. Der Angriff der Wolfsrudel war nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Lykaon hatte nicht mal selbst Hand anlegen müssen. Das war unter seiner Würde gewesen. Wie ein Feldherr hatte er zwischen seinen Kreaturen gestanden und zugesehen, wie sie die Wölfe im Blutrausch zerfetzten.
Auch Phorkys, der Vater der Ungeheuer, und Podargo, die Harpyie, hatten sich nicht an dem Gemetzel beteiligt. Letztere hatte Lykaon mit den Sirenen vorgeschickt. Sie sollten ihnen den Weg ebnen. Mit etwas Glück würden sich die gegnerischen Werwölfe gegenseitig an die Gurgel gehen, sodass er sich nur noch mit Fenris zu befassen brauchte.
Knapp einem Drittel der Wölfe gelang, teils schwer verletzt, die Flucht.
Lykaon ließ sie laufen und pfiff die Werwölfe zurück, die ihnen folgen wollten. Die Tiere interessierten ihn nicht, und er würde seine Armee nicht splitten, um ein paar räudige Köter abzuschlachten. So siegessicher er auch war, er durfte seine Feinde nicht unterschätzen.
Mit wütendem Gebrüll befahl er den Weitermarsch.
Zurück blieben die getöteten Wölfe, deren zerrissene Kadaver bereits von einer dünnen Schneeschicht bedeckt waren. Noch bevor Lykaon die Kolonie der Werwölfe erreichte, würde rein äußerlich nichts mehr an das Gemetzel erinnern, das hier vor wenigen Minuten stattgefunden hatte. Der unablässig aus den Wolken rieselnde Schnee bildete ein natürliches Leichentuch, das bald auch die Gebeine von Fenris und seinen Schützlingen bedecken würde.
Wer sollte ihn, Lykaon, jetzt noch aufhalten?
Der Götterdämon fletschte die Zähne und grinste voller Erwartungsfreude, als er aus der Ferne das Knattern eines automatischen Gewehres und das schmerzgepeinigte Heulen der Werwölfe vernahm, das selbst den Gesang der Sirenen übertönte.
☆
Mit dumpfem Knattern entlud sich das Sturmgewehr in Aleksandra Jorgovanovic’ Fäusten. Das AK-74 bockte in ihrem Griff und hämmerte gegen die Schulter. Ellenlanges Mündungsfeuer flackerte vor dem Lauf, den sie langsam in die Höhe hob. Die Garbe hackte in Ujuraks Brustpanzer, zog eine silbrig glänzende Spur über das Kevlar, bevor sie den Schädel erreichte und regelrecht zerhämmerte.
Die Wolfschnauze zersprang in einer Explosion aus Fleisch, Knochen und Hirnmasse. Der Leib erschlaffte und verwandelte sich zurück. Aleksandras Lippen verzerrten sich unter dem Schal, den sie vor Mund und Nase geschlungen hatte, zu einem sardonischen Grinsen.
Ja, so musste es sein! Die Werwölfe sollten sterben! Alle, ohne Ausnahme!
Und sie würde sie persönlich zur Hölle schicken. Aleksandra Jorgovanovic’ Finger krampften sich um das Sturmgewehr, das mit Silberkugeln geladen war und schwenkte den Lauf zu Dara herum, die sich zu ihren Füßen wälzte und die Pranken gegen die Ohren presste. Schaumiger Geifer flog von ihren Lefzen, während sie ein gepeinigtes Jaulen ausstieß.
Der wunderschöne Gesang der Sirenen trieb sie in den Wahnsinn.
Hätte es noch eines Beweises bedurft, was für verkommene Kreaturen die Werwölfe waren, Aleks hätte ihn spätestens jetzt bekommen. Nur etwas abgrundtief Böses konnte diese herrlichen Klänge nicht ertragen, die ihr, der Werwolfjägerin, die Augen geöffnet hatten.
Viel zu lange war sie blind gewesen. Es war, als hätte ihr jemand die Scheuklappen abgenommen oder als wäre sie aus tiefem Schlaf erwacht. Aleksandra zitterte am ganzen Leib und alles in ihr drängte danach, abermals den Abzug zu drücken.
Etwas hinderte sie daran!
Plötzlich erstarrte Dara und blickte sie aus gelben Raubtieraugen an, aus denen das Wasser sickerte. Aleksandra biss die Zähne so fest aufeinander, dass es knirschte. Schweiß brach ihr aus sämtlichen Poren.
Tu es!, befahl sie sich in Gedanken. Bring sie endlich um, dann bist du frei, und kannst dich um den Rest der Brut kümmern.
Bilder und Erinnerungen, durch den sphärenhaften Gesang aus den Tiefen ihres Bewusstseins an die Oberfläche gelockt, erschienen vor ihrem geistigen Auge. Sie sah die Leiber ihrer abgeschlachteten Familie vor sich liegen, roch den Gestank von Blut und rohem Fleisch.
Aleksandra spannte die Muskeln, presste den Kolben des Sturmgewehrs fester gegen die Schulter und krümmte den Finger. Kein Laut des Bedauerns drang aus ihrem Mund, nur eine vereinzelte Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel.
Die Silberkugeln hämmerten in den pelzigen Leib, der unter den Einschlägen zusammenzuckte.
Die Augen der Werwolfjägerin weiteten sich, als sich der massige Körper vor ihr aufrichtete. Geschmolzener Schnee hing im schwarzen Fell des Götterwolfs, der sich mit einem einzigen, gewaltigen Satz zwischen Dara und Aleksandra katapultiert hatte.
Der Prankenhieb traf die Werwolfjägerin völlig unvorbereitet. Das Sturmgewehr wurde ihr aus den Fäusten geschleudert, sie selbst verlor die Bodenhaftung, wurde meterweit zurückgeschleudert und prallte auf die festgestampfte, gefrorene Erde. Beißender Schmerz zuckte durch ihren Rücken und den Brustkorb, die Luft blieb ihr weg.
Aleksandra konnte nicht sagen, wie schwer sie verletzt war. Sie war nur froh, dass sie nicht in den brennenden Holzstoß gesegelt war, der wenige Meter hinter ihr stand. Ein warmer Hauch strich über Aleksandras Hals und Nacken. Mühsam hob sie den Kopf, rechnete damit, dass Fenris ihr folgte, um ihr den Rest zu geben.
Sollte er nur, ihr Leben hatte sowieso keinen Sinn mehr.
Der Götterwolf stand keine fünf Meter von ihr entfernt. Sein Atem quoll in weißen Schwaden aus dem Maul, der schwarz bepelzte Leib zitterte und bebte. Der Blick seiner eisblauen Augen glitt über sie hinweg, als er den Schädel in den Nacken legte und ihn auf eine der Baumkronen richtete. Aleks folgte der Blickrichtung und sah zunächst nur Schnee, der in dicken Flocken zur Erde rieselte. Er landete auf den Gläsern ihrer Schutzbrille, wo er schmolz und in zittrigen Bahnen über das Plexiglas sickerte.
Fenris öffnete das Maul, und aus seinem Rachen fuhr ein Strahl bläulich weiß schimmernden Dampfes, der wie flüssiger Stickstoff in die Krone der Fichte schoss und sie auf der Stelle vereiste. Es knackte und knisterte, als die Äste und Zweige einfroren. Und nicht nur sie. Plötzlich löste sich ein plumper Gegenstand aus dem Geäst, verlor den Halt und raste wie ein Komet zur Erde.
Im selben Moment wurde der Gesang schwächer.
Mit einem Mal fühlte Aleksandra sich, als wäre ihr eine Zentnerlast von den Schultern und der Brust genommen worden. Keuchend sog sie die Luft in ihre Lungen, sah den vereisten Körper auf sich zurasen und warf sich im allerletzten Moment zur Seite.
Krachend und splitternd, wie ein Kronleuchter aus Kristall, prallte die Sirene auf den Boden und zersprang in tausend Stücke. Aleksandra würgte, als die stechenden Schmerzen ihren Brustkorb malträtierten. Es waren nicht nur die Folgen des Prankenhiebs, sondern vor allem die Erkenntnis dessen, was sie getan hatte.
Sie hatte Ujurak ermordet – und hätte auch Dara getötet, wenn Fenris nicht eingegriffen hätte!
Von Grauen gelähmt kauerte die Werwolfjägerin am Boden und sah, wie sich aus der Krone des Baumes hinter dem Götterwolf eine zweite Gestalt löste und mit schnellem Flügelschlag davonflog.
Fenris wirbelte herum und schickte ihr seinen Eisatem hinterher.
Er traf die Sirene mitten im Flug, noch bevor sie die Palisaden erreichte, um dahinter in Deckung zu gehen, sofern das überhaupt möglich war. Ihre Flugbahn sackte ab und endete mit einem dumpfen Schlag, der in ein helles Splittern überging. Die Sirene war gegen den aus massiven Stämmen errichteten Zaun geprallt.
Ihr Tod wurde von einem zornigen Kreischen beantwortet. Auf den zugespitzten Enden der Palisaden kauerte eine nackte Gestalt mit ledrigen Flügeln, die Aleksandra im ersten Moment für eine riesige Fledermaus hielt.
Fenris knurrte und stapfte auf sie zu, während er Luft holte, um einen weiteren Vereisungsstrahl auf den Weg zu schicken. Bevor er das geflügelte Monstrum jedoch erreichte, breitete es seine Schwingen aus und erhob sich in die Lüfte. Eine Sturmböe fegte durch die Kolonie, brachte die Feuer zum Prasseln und hätte fast noch den Werwolf von den Beinen geholt, der auf Aleksandra zu taumelte.
Dara!
Der Magen der Serbin verkrampfte sich bei ihrem Anblick. Beinahe hätte sie auch ihre Gefährtin für immer verloren. Doch in Daras gelben Lichtern stand kein Zorn, nur Trauer und Entsetzen. Ein helles Flackern am Himmel lenkte Aleksandra ab. Ein Feuerball raste auf Fenris zu, der ihn mit einem beiläufigen Prankenhieb zerschmetterte.
Das geflügelte Untier fegte wie ein Derwisch um die Kolonie herum, die schlagartig zum Leben erwachte. Überall kamen die Werwölfe zum Vorschein, die bis eben vom Gesang der Sirenen gebannt gewesen waren.
Die meisten von ihnen waren bewaffnet und legten auf das Geschöpf an, das einen Feuerball nach dem anderen auf die Kolonie abschoss. Offenbar hatte es eingesehen, dass dem Götterwolf so nicht beizukommen war, denn jetzt nahm es die Baumkronen ins Visier. Wie Kometen schlugen die Flammenbälle in das Geäst. Zwei Fichten brannten bereits lichterloh, als Fenris reagierte.
Er kauerte sich auf die Hinterläufe, legte den Schädel in den Nacken und öffnete das Maul.
In dieser Haltung sah er fast wie ein gewöhnlicher Wolf aus, der den Mond anheulte, nur um ein Vielfaches vergrößert. Und statt eines Heulens drang eisiger Atem aus dem Rachen, der sich über seinem Haupt zu einer Wolke vereinigte, die sogar dem Sturm trotzte und sich pilzförmig zu den Seiten hin ausbreitete.
Schon der nächste Feuerball zerstob an ihr. Mit angehaltenem Atem beobachtete Aleksandra, wie sich die blau irisierende Wolke kuppelförmig über die Kolonie spannte und einen Schutzschirm bildete.
Etwas berührte sie am Hals, und als Aleksandra den Kopf wandte, sah sie direkt in Daras pelzbedeckte Wolfsfratze. Die Serbin schluckte Scham und Furcht hinunter und kämpfte sich mit Daras Hilfe wieder auf die Beine.
Just in dem Augenblick, als der erste Schlag das geschlossene Tor der Kolonie erzittern ließ.
☆
»Was ist jetzt?«, rief Grace Spencer, alias Carnegra, alias Werdandi, ihres Zeichens Norne und Schicksalsweberin. »Worauf wartest du noch? Mach Daddy stolz und töte das Balg!«
Denise starrte die Frau in der Gestalt ihrer besten Freundin an. Rebecca, das Baby, das angeblich die Wiedergeburt von Morgana Layton war, fing an zu schreien. So als spürte es, dass es um sein Leben ging.
»Du … du bist wahnsinnig!«, keuchte Denise und wich zurück. Ihr Blick irrte zu Skuld, der Schicksalsschwester, die die Zukunft verkörperte und in dieser Funktion das Aussehen einer älteren Version von Rebecca angenommen hatte. »Ihr alle!«
»Was ist los mit dir, Denise?«, erklang eine Stimme hinter ihr.
Lykaons Tochter drehte sich um. Sie hatte erwartet, ihre Mutter zu sehen. Die war zwar längst tot, doch gerade deshalb hatte sich Urd, die personifizierte Vergangenheit, sich ihres Äußeren bedient. Es waren Psychospiele, die die Nornen mit ihr veranstalteten. Das begriff Denise selbst mit ihren knapp sechzehn Jahren.
Dass sie jedoch in das Gesicht einer jungen Frau mit dunkler Haut blicken würde, damit hätte Denise Curtis nicht gerechnet. Und sie war ihr nicht mal unbekannt, auch wenn sie sie im ersten Moment nicht zuordnen konnte.
»Erkennst du mich etwa nicht?«, fragte das Mädchen und sah Denise aus großen, dunklen Augen an. Sein zerfetztes, blutiges Gewand erinnerte die Teenagerin an den Orient. Oder Indien. Dazu passte auch der farbige Punkt zwischen den Augenbrauen der jungen Frau.
Und plötzlich fiel es Denise wie Schuppen von den Augen.
Es war kurz nachdem Carnegra – die Echte natürlich –, sich aus dem Staub gemacht hatte. Nie zuvor hatte sich Denise einsamer und verlassener gefühlt. Damals war sie auch Skuld zum ersten Mal begegnet, ohne zu wissen, mit wem sie es eigentlich zu tun hatte. Ausgerechnet Phorkys, ihr Großvater, hatte sie schließlich getröstet, indem er sie nach Indien mitgenommen hatte.
Denise war förmlich außer sich gewesen vor Euphorie. Er hatte sie noch nie irgendwohin mitgenommen. Doch die Freude über das gemeinsame Abenteuer hatte nur kurz gewährt, denn fast wäre Phorkys getötet worden. Denise hatte die Idee gehabt, ihn mit Menschenblut zu heilen, und ihm ein Opfer dargebracht.
»Ich sehe, du erinnerst dich«, sagte das indische Mädchen. »Damals hast du gesagt, es sei nichts Persönliches.« Ein trauriges Lächeln kerbte die Lippen der jungen Inderin. »Für dich ist das alles nur ein Spiel gewesen, nicht wahr? Aber mir hat es den Tod gebracht. Und du hast dir nicht mal die Mühe gemacht, meinen Namen in Erfahrung zu bringen. Ich war nur ein Stück Fleisch für dich.«
Denise schluckte und wandte sich ab. »Hört auf!«, brüllte sie.
»Das werden wir«, sagte Werdandi. »Du brauchst nur das Kind zu töten. Wenn du ihm nicht das Genick brechen willst. Schleudere es einfach mit dem Kopf gegen die Wand. Der Schädel wird zerplatzen wie ein fauler Apfel!«
»Warum wollt ihr, dass ich das tue? Ihr … ihr seid doch auf Fenris’ Seite.«
»Irrtum!«, rief Skuld. »Wir sind auf niemandes Seite. Wir sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir sind dein Schicksal, schon vergessen? Was an dem Wort Schicksalsweberinnen hast du nicht verstanden?«
»Wir wollen nur das Beste für dich«, sagte Urd, und als Denise sich umdrehte, erschrak sie. Ihre Mutter sah sie mit so viel Wärme in den Augen an, dass es der Teenagerin die Kehle zuschnürte.
»Dein Vater wird nie stolz auf dich sein.« Wo eben noch Carnegra in der Maske von Grace Spencer gestanden hatte, befand sich jetzt Podargo, in ihrer menschlichen Gestalt. Glattes schwarzes Haar und ein schmales Gesicht mit hochstehenden Wangenknochen. »Du bist eine einzige Enttäuschung.«
»Ich hasse dich!«, setzte Skuld noch eins drauf.
Rebeccas ältere Version war verschwunden, und Denise glaubte, den Verstand zu verlieren, als sie sich selbst ins Antlitz starrte. Das Gesicht ihrer Doppelgängerin verzerrte sich vor Abscheu. »Ich könnte kotzen, wenn ich dich so sehe.«
Denise II zog die Mundwinkel nach unten und tat so, als würde sie anfangen zu weinen. »Mäh, mäh, Daddy hat mich nicht lieb.« Ihre Miene glättete sich. Die Doppelgängerin wackelte mit dem Kopf, während sie weiter vor sich hin plapperte. »Ich habe meine Mutter zerfleischt, aber dafür kann ich ja nichts. Ich bin ja Lykaons Tochter. Seine kleine Prinzessin und alle müssen mich lieb …«
Denises trat zu und traf ihre Doppelgängerin mitten in den Bauch. Wie ein Taschenmesser klappte sie zusammen. »HALT – DEIN – MAUL!«