1,99 €
Das Gesicht der jungen Frau spiegelte Furcht und Verzweiflung wider. Tränen schimmerten in ihren großen braunen Augen.
"Es geht um meine Tochter, Miss Collins. Sie behauptet steif und fest, dass mein Vater nachts in ihr Zimmer kommt und sich zu ihr ins Bett legt."
Der Privatdetektivin Jane Collins schnürte sich die Kehle zu. Aber war das wirklich ein Fall für sie? "Das ist alarmierend, doch ich wüsste nicht, wie ich Ihnen dabei helfen könnte. Am besten, Sie wenden sich an die Polizei oder das Jugendamt."
"Nein", unterbrach sie Jeanette Croydon barsch. "Das geht nicht."
"Warum nicht?"
"Weil ... weil mein Vater bereits seit drei Jahren tot ist."
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Dieser Hunger nach Leben
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Sandobal
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0682-7
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Dieser Hunger nach Leben
von Ian Rolf Hill
Das Gesicht der jungen Frau spiegelte Furcht und Verzweiflung wider. Tränen schimmerten in ihren großen braunen Augen.
»Es geht um meine Tochter, Miss Collins. Sie behauptet steif und fest, dass mein Vater nachts in ihr Zimmer kommt und sich zu ihr ins Bett legt.«
Der Privatdetektivin Jane Collins schnürte sich die Kehle zu. Aber war das wirklich ein Fall für sie? »Das ist alarmierend, doch ich wüsste nicht, wie ich Ihnen dabei helfen könnte. Am besten, Sie wenden sich an die Polizei oder das Jugendamt.«
»Nein«, unterbrach sie Jeanette Croydon barsch. »Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ... weil mein Vater bereits seit drei Jahren tot ist.«
An diesem Morgen verhielt sich mein Partner Suko auffallend still, als wir uns mit dem Dienstwagen durch den Verkehr quälten. Es war abzusehen, dass wir wieder mal zu spät kommen würden, und ich wappnete mich innerlich bereits gegen die unvermeidlichen Spötteleien unserer Assistentin Glenda Perkins.
Suko ließ sich davon in der Regel nicht aus der Ruhe bringen, weder von der Rushhour noch von Glendas spitzen Bemerkungen. Seine Schweigsamkeit musste also einen anderen Grund haben.
Doch so sehr ich auch nachhakte und bohrte, mehr als ein unwilliges Knurren konnte ich meinem Partner nicht entlocken. Daher seufzte ich ergeben und stellte das Radio ein. Auf Nachrichten und andere Hiobsbotschaften hatte ich keine Lust und suchte einen Sender mit Musik. Der schnöde Alltag mit all seinen Krisen würde uns schnell genug einholen. Ich summte den neuesten Hit von Lady Gaga mit, bis Suko genervt das Radio ausstellte.
»Bitte«, murmelte ich und begann, leise vor mich hin zu singen. Prompt fing ich mir einen bösen Seitenblick von Suko ein.
»Gibt es irgendeinen Grund für deine gute Laune?«
»Nope«, sagte ich. »Ich versuche nur, mich nicht von deiner Miesepetrigkeit anstecken zu lassen. Du weißt doch, was Johann Gottfried Seume gesagt hat: Da wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen kennen keine Lieder.«
»So, so, und ich nehme an, es gibt keine Möglichkeit, dich davon abzuhalten?«
»Keine Legale zumindest. Es sei denn, du willst dich der Körperverletzung schuldig machen.«
Suko winkte nur ab und starrte aus dem Fenster. Ich hätte seine Stimmung ja nachvollziehen können, wenn es aus Kübeln gegossen hätte, doch der Winter zeigte sich von seiner besten Seite und verwöhnte uns mit herrlichem Sonnenschein und spätsommerlichen Temperaturen. Von denen war zu dieser frühen Morgenstunde zwar noch nicht viel zu spüren, aber das würde sich spätestens zum Mittag hin ändern.
Als wir wieder mal stoppten, musterte ich meinen Partner prüfend. Ob es mit Shao zu tun hatte?
Suko stöhnte genervt, als er meinen Blick bemerkte. »Es hat nichts mit Shao zu tun.«
Unwillkürlich musste ich grinsen. Wir kannten uns nun schon so lange, dass wir uns auch ohne große Worte verstanden. Meistens jedenfalls.
»Da bin ich ja beruhigt. Ich dachte schon, ich müsste eine Neue einarbeiten, die für mich einkauft.«
Mein Partner schnaubte entnervt. »Um Dosenbier und Tiefkühlpizza einzukaufen brauchst du keinen Master-Abschluss. Das kannst du auch jedem x-beliebigen Schimpansen beibringen.«
»Oh, oh, oh, lass das mal nicht Shao hören.«
Suko schnaubte bloß und versank erneut in dumpfes Brüten.
Mir fiel ein regelrechter Monolith vom Herzen, als endlich das Curtis Green Building in Sicht kam, in dem seit geraumer Zeit das Hauptquartier der Metropolitan Police untergebracht war. Wir rollten in die Tiefgarage und steuerten den Lift an, um uns nach oben schießen zu lassen. Zumindest ich, denn Suko klopfte mir überraschend auf die Schulter und verabschiedete sich mit den Worten »Wir sehen uns später« in Richtung Treppenhaus.
Ich wusste ja, dass er jede sich bietende Gelegenheit nutzte, um in Form zu bleiben, doch man konnte es auch übertreiben. Aber jeder wie er wollte. Auf dem Flur, der zu den Räumlichkeiten unserer Spezialabteilung führte, wehte mir bereits der verführerische Duft von Kaffee entgegen.
Glenda Perkins saß längst hinter dem Schreibtisch und tippte so eifrig auf ihrem Laptop herum, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam, ohne dass sie etwas zu sagen brauchte. Nicht, dass es sie davon abhielt, es dennoch zu tun.
»Sieh an, der verlorene Sohn ist zurückgekehrt. Dann kann Sir James die Fahndung ja endlich abblasen. Er dachte schon, ihr wärt desertiert.«
Ich bewunderte Glendas neueste Garderobe, die wie immer dem aktuellen Modetrend entsprach. Die Farbe der Saison war hellblau, so wie die Bluse meiner Sekretärin, die einen auffallenden Kontrast zu den schwarzen Haaren und der hellbeigen Hose darstellte.
»Das hieße ja, auf deinen wunderbaren Kaffee zu verzichten«, sagte ich und schenkte mir großzügig einen Becher ein. »Was Suko betrifft, bin ich mir da allerdings nicht so sicher.«
Glenda hob überrascht den Blick. »Was ist denn passiert?«
Ich erklärte es ihr, doch meine Assistentin winkte bloß ab und schmunzelte. »Da mach dir mal keine Sorgen, morgen ist er wieder ganz der Alte.«
Ich war schon im Begriff, die Tür zu öffnen, hinter der das Büro lag, das ich mir mit Suko teilte, als ich innehielt und mich noch einmal zu Glenda umdrehte. »Ach, und woher nimmst du diese Gewissheit?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Weibliche Intuition.«
»Aha«, meinte ich nur, öffnete die Tür und blieb wie angewurzelt stehen.
Auf meinem Schreibtischstuhl saß eine kleine Gestalt mit braunem Wuschelkopf und drehte sich wie wild im Kreis. Als sie mich sah, stoppte sie die irrwitzige Karussellfahrt und strahlte mich so breit an, dass die Zahnspange funkelte.
»Hallo!«
Ich war so perplex, dass ich zu keiner Antwort fähig war. Stattdessen drückte ich die Tür wieder zu und wandte mich erneut an Glenda. »Da sitzt ein Kind in meinem Büro!«
»Gut erkannt, Sherlock Holmes«, erwiderte sie, ohne von ihrem Laptop aufzublicken.
Mit der Tasse in der Hand trat ich vor ihren Schreibtisch.
»Was macht dieses Kind auf meinem Stuhl?«
Glenda hob den Kopf. »Girls Day!«
»Wie bitte?«
»Ein Tag, an dem Mädchen in Berufe hineinschnuppern sollen, die noch zu sehr von Männern dominiert werden.«
»Wem ist denn dieser Blödsinn eingefallen?«, rutschte es mir heraus.
»Mir!«, erklang im selben Augenblick eine Stimme von der Tür her, die in das Allerheiligste meines Vorgesetzten Sir James Powell führte.
Nur war es nicht er gewesen, der geantwortet hatte, sondern dessen Chefin Christina Dick, die mit verschränkten Armen im Türrahmen stand und mich grimmig anfunkelte. Sir James wartete hinter ihr und hatte sichtlich Mühe, sich das Grinsen zu verkneifen.
Ich spürte, wie ich rot anlief. »Guten Morgen, Ma'am. Sir.« Mein Lächeln fiel reichlich verkrampft aus. »Ich war gerade dabei, mit Miss Perkins den Ablauf des Girls Days zu besprechen.«
»Sparen Sie sich die Mühe, Mister Sinclair. Inspektor Suko wird diesen Job übernehmen.«
Kein Wunder, dass er so mürrisch drauf gewesen war. Das hätte der Vogel mir auch gleich sagen können.
»Ich wäre selbstverständlich ebenfalls dazu bereit gewesen.«
Christina Dick schnaubte. »Wir wollen den Mädchen den Beruf der Polizistin schmackhaft machen, Mister Sinclair. Nicht sie vergraulen.«
Sie nickte Sir James und Glenda zu, ehe sie in Richtung Tür schritt, durch die Suko in diesem Augenblick das Vorzimmer betrat. Komplett in Uniform.
»Gut sehen Sie aus, Inspektor«, sagte Christina Dick und schlüpfte an meinem Partner vorbei in den Flur.
»Ähm, danke, Miss Dick«, erwiderte er und sah mich an, als hätte sie ihm gerade die Versetzung auf die Orkney-Inseln überreicht. Sie verließ das Vorzimmer. Suko verschwand in unserem Büro, und Sir James verabschiedete sich ebenfalls.
Zurück blieben Glenda und ich.
»Du hast gewusst, dass sie da drin ist?« Ich deutete mit dem Kinn auf das Büro des Superintendenten.
»Natürlich, aber konnte ich ahnen, dass du dich gleich um Kopf und Kragen redest?«
»Aber wieso ausgerechnet unsere Abteilung?«
»Tina hat darum gebeten.«
»Tina?«
»Christina Green. Du erinnerst dich nicht an sie? Ihre Mutter wäre beinahe von einem Ghoul getötet worden. Suko hat sie und ihren Bruder damals auf eine Spritztour im Streifenwagen mitgenommen.«
»Stimmt«, rief ich und trank einen Schluck Kaffee. Ich musste kichern, als ich an das Handy-Video dachte, dass ich aufgenommen hatte. »Anscheinend hat er mächtig Eindruck hinterlassen.«
Die Tür öffnete sich, und ein freudestrahlendes Mädchen hüpfte vor meinem Partner aus dem Büro, der immer noch aussah, als hätte er zum Frühstück eine Zitrone gegessen.
»Darf ich auch die Sirene einschalten?«, fragte Tina aufgeregt.
»Nein«, lautete Sukos Antwort.
»Aber ich kann doch bestimmt mal das Blaulicht anmachen, oder?«
»Vielleicht.«
»Und darf ich auch mit der Pistole schießen?«
»Auf keinen Fall!«
Das ungleiche Paar machte sich vom Acker, und ich hatte das Büro endlich für mich allein.
Ich saß noch nicht richtig hinter dem Schreibtisch, als bereits das Telefon klingelte. Der Alltag hatte mich wieder. Vergessen waren Suko, Christina Dick und der Girls Day. In gespannter Erwartung griff ich nach dem Hörer und war zugegebenermaßen doch ein wenig überrascht, dass mich ausgerechnet Jane Collins zu so früher Stunde anrief.
»Ich hoffe, du steckst nicht schon wieder in Irland und machst Jagd auf Höllenschlangen.«
»Keine Angst, mein Lieber. Dieses Mal geht es nur nach Mittelengland.« Tatsächlich hörte ich im Hintergrund das Schnurren des Golfs. Die Detektivin war also bereits auf dem Weg.
»Geht das auch etwas präziser?«
»Sicher. Unser Ziel ist ein kleines Dorf südlich von Birmingham. Walcote.«
Ich notierte mir den Namen, allerdings mehr aus Gewohnheit. »Moment mal, wer ist wir?«, erkundigte ich mich.
»Jeanette Croydon. Sie hat mich engagiert, weil sie glaubt, dass ihr Vater ein Wiedergänger ist.«
Auf dem Stuhl sitzend richtete ich mich auf. »Und wie kommt sie darauf?«
»Ihre Tochter Samantha behauptet, er würde nachts in ihr Zimmer kommen, und in ihr Bett kriechen, um sich zu wärmen.«
»Ein Fall von Kindesmissbrauch?«, fragte ich und spürte, wie sich mir der Magen zusammenzog.
»Das dachte ich zunächst auch, doch Graham Croydon ist vor zirka drei Jahren gestorben. Außerdem erwähnte Samantha einen seltsamen Gestank, der von ihm ausgeht.«
Ich fürchtete mich ein wenig vor der nächsten Frage, dennoch musste ich sie stellen. »Und was genau tut dieser Graham Croydon wenn er seine Enkelin besucht?«
Jane zögerte. »Nichts!«
»Nichts?«
»Nichts, soweit Jeanette, Samanthas Mutter, sagen kann.«
»Das ist ziemlich ungewöhnlich für einen Zombie.«
»Finde ich auch. Deshalb möchte ich mich auch zunächst mit Samantha unterhalten.«
»Gute Idee. Und welche Rolle hast du mir dabei zugedacht?«
»Die der Rückendeckung. Oder arbeitest du gerade an einem dringenden Fall?«
»Nein, momentan verhält sich unsere Kundschaft auffallend ruhig.«
»Gut, ich melde mich, sobald ich mehr weiß.«
»Alles klar. Pass auf dich auf, Jane.«
»Mach ich doch immer«, erwiderte sie fröhlich und legte auf.
Ich stellte das schnurlose Telefon in die Ladestation und lehnte mich zurück. Janes Anruf stimmte mich nachdenklich. Es fiel mir schwer, ihre Unbekümmertheit zu teilen. Sicher, selbst wenn sich der Verdacht bestätigte und Graham Croydon tatsächlich ein Zombie war, würde meine Freundin locker mit ihm fertigwerden. Doch ich hatte schon zu viele böse Überraschungen erlebt, um das ungute Bauchgefühl zu ignorieren. Trotzdem zögerte ich, Jane zu folgen. Sie war alt und erfahren genug, um auf sich selbst aufpassen zu können.
Hätte ich geahnt, was auf meine Freundin zukam, wäre ich gewiss nicht so ruhig geblieben. Ich hätte alles stehen und liegen gelassen und mich umgehend auf den Weg nach Walcote gemacht.
So aber nahm das Verhängnis seinen Lauf.
✰
Zwei Stunden veranschlagte Janes Navi für die Fahrt von London nach Walcote.
Zeit genug, um sich in Ruhe zu unterhalten. Vor allem wollte die Detektivin etwas über Jeanettes familiäres Umfeld erfahren. Dass Samantha ein Einzelkind war, wusste Jane bereits, doch es gab noch eine Menge Fragen, die offen geblieben waren.
»Wie alt ist ihre Tochter, Jeanette?«
»Sieben«, lautete die einsilbige Antwort.
Die ehemalige Hexe seufzte innerlich. Seit sie aufgebrochen waren, war die junge Frau verstummt, sodass ihr Jane jedes Wort aus der Nase ziehen musste. Eigentlich hatte sie erwartet, dass Jeanette erleichtert darüber sein würde, dass sie eingewilligt hatte, den Fall zu übernehmen. Immerhin hatte sie sogar ihren Freund John Sinclair informiert, stattdessen hatte sich Jeanette in ein imaginäres Schneckenhaus zurückgezogen.
Jane fürchtete, dass dieses Verhalten eher Jeanettes wahrem Charakter entsprach, und stellte sich auf eine langweilige Fahrt ein. Wenn Samantha ebenso introvertiert war wie ihre Mutter, würde es schwierig werden, dem Kind irgendwelche Informationen zu entlocken. Allerdings würde es zu dem Verdacht des Kindesmissbrauchs passen.
Vielleicht lag es aber auch daran, dass Jeanette noch sehr jung war.
»Wie alt waren Sie, als sie Samantha bekamen?«
»Siebzehn.«
»Und der Vater?«
»Tom ... verließ uns kurz nach der Geburt.«
Jane legte die Stirn in Falten. »Also noch bevor ihr Vater starb?«
Jeanette Croydon nickte. Sie war eine hübsche Person. Nicht unbedingt jemand, nach dem sich die Männer auf der Straße umdrehten, doch das mochte auch an ihrer Schüchternheit liegen. Ihr dunkelbraunes Haar reichte bis auf die Schultern und wellte sich leicht nach innen. Die Augen waren von derselben Farbe und wirkten beinahe schwarz. Sie hatte ein glattes, ebenmäßiges Gesicht, lächelte jedoch nur selten, was ihrer Mimik ein starres, maskenhaftes Aussehen verlieh.
»Und Ihre Mutter?«
»Auch gestorben.«
»Es muss sehr schwer für Sie gewesen sein, innerhalb so kurzer Zeit drei geliebte Menschen zu verlieren.«
Janes Beifahrerin zuckte mit den Schultern. »Meine Eltern waren keine besonders umgänglichen Menschen. Und Tom ... na ja, unsere Ehe war nicht sehr glücklich, wissen Sie? Er war meine erste Liebe, und wir waren beide nicht darauf vorbereitet, ein Kind zu bekommen.«
»Er ist also wegen des Kindes verschwunden?«
»Ja, letztendlich blieb ihm nichts anderes übrig.«
»Wie meinen Sie das?«
»Walcote ist ein kleines Nest, in dem jeder jeden kennt. Tom hätte sich kaum mehr dort blicken lassen können, wenn er seinen Vaterpflichten nicht nachgekommen wäre.«
»Haben Sie noch mal etwas von ihm gehört?«
Jeanette schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Sie wissen also nicht, wo er sich aufhält.
Sie lachte verbittert. »Von mir aus kann er bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ich bin all die Jahre auch ohne ihn zurechtgekommen. Genau wie Samantha.«
»Womit wir beim Thema wären. Sie sagten, diese ... Vorfälle begannen vor einer Woche.«
Wieder nickte Jeanette. Sie hielt den Blick gesenkt und sah auf ihre Finger, die sie förmlich ineinander verknotete. Sie machte sich offenbar schwere Vorwürfe. Nicht selten, bei Elternteilen, die mitbekamen, dass ihr Kind sexuell belästigt wurde. Andererseits hatte Jeanette den Missbrauch ja nicht stillschweigend hingenommen, sondern sich Hilfe geholt und sogar die lange Zugfahrt nach London auf sich genommen. Es gab faktisch keinen Grund, sich Vorwürfe zu machen.
»Haben Sie denn gar nichts davon mitbekommen, dass jemand in das Haus eingedrungen ist?«
Jeanette schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es ja, was mich so beunruhigt.«
Die Detektivin dachte über die spärlichen Informationen nach, während sie sich auf das Fahren konzentrierte. Ein wenig wunderte sie sich selbst darüber, dass sie sich so schnell bereit erklärt hatte, Jeanette zu begleiten. Sie konnte es sich nur mit ihrer Betroffenheit gegenüber Samanthas Schicksal erklären.
Egal ob Untoter oder lebendiger Mensch, Kinder mussten vor den Übergriffen von Erwachsenen beschützt werden, besonders wenn die Bedrohung aus der eigenen Familie kam, was leider eher die Regel als die Ausnahme darstellte.
Außerdem lag momentan kein anderer Fall an, und Chris, ihr Lebensgefährte, weilte ebenfalls nicht in London. Es gab also keinen Grund, nicht nach Walcote zu fahren.
Die Frauen hatten sich vorab darauf geeinigt, durchzufahren und gemeinsam mit Samantha Mittag zu essen. Jane würde sich als Jeanettes Freundin ausgeben, in der Hoffnung, dass das Mädchen dadurch schneller Vertrauen fasste.
Die letzte Nacht hatte Samantha bei einer Freundin verbracht, wo es zu keinem neuen Vorfall gekommen war, wie Jeanette erfahren hatte, nachdem sie mit ihrer Tochter telefoniert hatte.
Hätte Jane das vorher gewusst, sie hätte dringend davon abgeraten.
Sollte es sich bei Samanthas Großvater tatsächlich um einen Zombie handeln, stellte er eine erhebliche Gefahr für sämtliche Bewohner von Walcote dar. Zum Glück war alles gut gegangen. Doch Jane bezweifelte, dass es so bleiben würde. Und auch wenn es ihr nicht sonderlich behagte, letztendlich würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als Samantha als Lockvogel zu benutzen.
Auf halber Strecke legten sie eine Pause ein, die Jeanette dazu nutzte, um auf Toilette zu gehen. Jane füllte derweil den Tank und nahm beim Begleichen der Rechnung noch zwei Flaschen Wasser mit, von denen sie eine ihrer jungen Klientin reichte.
Danach ging die Fahrt über die M1 Richtung Norden weiter.
Das Gespräch war ins Stocken geraten und so hing Jane ihren Gedanken nach. Natürlich hatte sie vorab gefragt, woher Jeanette die Gewissheit nahm, dass Samantha sich die Begegnung mit ihrem Großvater nicht einfach ausgedacht hatte. Kinder hatten mitunter eine blühende Fantasie.
Auf die entsprechende Frage hin hatte Jeanette regelrecht empört reagiert. Schließlich habe sie die schmutzigen Fußabdrücke selbst gesehen, ebenso wie das verdreckte Laken. Der Zombie musste direkt aus dem Grab gestiegen sein.
Zweimal war Jeanettes Vater mittlerweile nach Hause gekommen, daran bestand für die junge Frau kein Zweifel, auch wenn sie sich keinen Reim darauf machen konnte, wie er überhaupt zu einem Wiedergänger hatte werden können.
So ganz konnte Jane ihr das nicht glauben. Als Privatdetektivin hatte sie eine gute Menschenkenntnis, das brachte der Job einfach mit sich, und daher war sie sich sicher, dass ihr Jeanette etwas Entscheidendes verschwieg. Aber alles zu seiner Zeit.
Jedenfalls gratulierte sie sich zu dem Entschluss, John Sinclair informiert zu haben.
Wenn alle Stricke rissen, würde der Geisterjäger innerhalb kürzester Zeit nach Walcote kommen. Und sollte er verhindert sein, gab es immer noch Suko oder Bill.
Um zwölf Uhr mittags erreichten sie Walcote. Der Himmel war klar, die Sonne schien kräftig vom Firmament, und ein schwacher Wind zerrte an den letzten verfärbten Blättern der ansonsten kahlen Zweige.
Walcote entpuppte sich als überschaubares Nest, das aus einer Ansammlung von ungefähr zwei Dutzend Häusern bestand, zu denen immerhin eine kleine Kapelle gehörte sowie ein Gasthof, das Tavern Inn, das sogar über einige Fremdenzimmer verfügte. Doch davon wollte Jeanette nichts wissen.
»Sie wohnen selbstverständlich bei uns!«, erklärte sie.
Jane nahm das Angebot dankend an. Alles andere wäre auch kontraproduktiv gewesen, schließlich musste sie vor Ort sein, wenn Großväterchen beschloss, seiner Enkelin einen Besuch abzustatten.
✰
»Du bist ja viel älter als meine Mum.«
Jane musste unwillkürlich lächeln, als Samantha sie unverblümt auf den Altersunterschied der vermeintlichen Freundinnen ansprach. Kindern konnte man eben nichts vormachen, und sie trugen ihr Herz auf der Zunge, wie man so schön sagte.
Vor dem blonden Mädchen, dessen Haarfarbe im krassen Gegensatz zu dem seiner Mutter stand, ging die Detektivin in die Hocke.