John Sinclair 2215 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2215 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Aus den Sagen der Jakuten:
"Als Gott die Erde schuf, schickte er einen Engel mit einem Sack voller Reichtümer über Sibirien. Während der Engel Jakutien überflog, wurden ihm vor Kälte die Finger steif, und er ließ alles fallen. Sämtliche Reichtümer - Gold, Silber und Platin - fielen hinab auf die Erde. Aus Zorn über seinen Verlust, strafte er das Land mit ewigem Winter."


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Seitenzahl: 157

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Mandragoros Paradies

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Svetlana Rib / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7517-0683-4

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Mandragoros Paradies

von Ian Rolf Hill

»Als Gott die Erde schuf, schickte er einen Engel mit einem Sack voller Reichtümer über Sibirien. Während der Engel Jakutien überflog, wurden ihm vor Kälte die Finger steif, und er ließ alles fallen. Sämtliche Reichtümer – Gold, Silber und Platin – fielen hinab auf die Erde. Aus Zorn über seinen Verlust, strafte er das Land mit ewigem Winter.«

Aus den Sagen der Jakuten

Das Knattern der Rotoren trieb die Bewohner aus ihren Häusern.

Trotz des heftigen Windes, der den anhaltenden Regen in dichten Schleiern über das raue Land peitschte.

Wie die Schafe, die sie im Grunde genommen auch waren, glotzten die Menschen auf den Hubschrauber, der über das winzige Kaff im östlichsten Teil Russlands hinweg schwebte.

Juri Tarassow verzog geringschätzig die Lippen.

Diese Bauern taten gerade so, als ob sie noch nie in ihrem Leben einen Helikopter gesehen hatten. Dabei hätten sie sich an den Anblick und die Geräusche doch längst gewöhnen müssen. Schließlich waren in den vergangenen sechs Monaten Dutzende von Hubschraubern zwischen Jakutsk und Allach-Jun, so der Name des Kaffs, hin- und hergeflogen, als handelte es sich um einen Taubenschlag.

Mit Tauben hatte Juri Tarassow indes genauso wenig zu tun wie mit Schafen.

Sein Gewerbe war sehr viel lukrativer, wenngleich nicht unbedingt einfacher. Dafür waren seine Brötchen allerdings auch deutlich größer als die eines Taubenzüchters oder Schafthirten, denn sie bestanden aus Kohlenstoff.

Juri Tarassow handelte mit Diamanten und gehörte zu den reichsten und einflussreichsten Oligarchen des neuen aufstrebenden Russlands, dem Hauptlieferanten für die begehrten Juwelen. Schon sein Vater hatte mit ihnen gehandelt und von der Entdeckung der größten Diamanten-Mine Russlands, dem Bergwerk Mir, profitiert, das 1957 im Südwesten der Teilrepublik Jakutien, beziehungsweise Sacha, so die amtliche Bezeichnung, entdeckt worden war.

Von seinem Vater hatte Juri alles gelernt, was er über Juwelen im Allgemeinen und Diamanten im Speziellen wusste. Insbesondere über den Handel mit ihnen. Schon der alte Tarassow hatte die Zeichen der Zeit erkannt und gewusst, dass er sich nicht nur auf eine Diamanten-Quelle verlassen durfte, und Anstrengungen unternommen, neue Vorkommen zu erschließen.

Ihrem Heimatland Russland blieben Vater und Sohn jedoch treu. Jakutien war groß und voller Bodenschätze und Reichtümer, die nur darauf warteten, geborgen zu werden. Leider konnte Juris Vater den größten Erfolg seines Sohnes nicht mehr miterleben. Er starb kurz nach der Auflösung der Sowjetunion. Langjährige Wegbegleiter behaupteten, er hätte die Perestroika nicht verkraftet, die den Jakuten das Recht einräumte, Rohdiamanten selbst zu fördern und zu verarbeiten.

Allerdings reichte das Wissen, wo die Diamanten lagen, nicht aus. Man benötigte darüber hinaus auch die entsprechenden Gerätschaften und Werkzeuge sowie Geschäftsbeziehungen, um sie an den Mann oder besser gesagt die Frau zu bringen. Die russische Bevölkerung war arm und lebte in bescheidenen Verhältnissen, vor allem in Sibirien. Und das hatte sich Juri Tarassow zunutze gemacht.

Statt sich Konkurrenten zu schaffen, machte er die Jakuten zu Angestellten seines stetig wachsenden Imperiums, an dessen Spitze er der uneingeschränkte Herrscher war. Keine Aktien, keine Börse, kein Aufsichtsrat und keine Anteilseigner, die ihm in das Geschäft pfuschten. Und jetzt mit sechzig Jahren konnte Juri Tarassow ruhigen Gewissens behaupten, es geschafft zu haben.

Es wurde Zeit, an den Ruhestand zu denken und seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Er wollte nur noch einen letzten großen Coup landen, ehe er sich zur Ruhe setzte. Ein letzter großer Paukenschlag, der lange nachhallen würde. Bis an sein Lebensende, das hoffentlich noch in weiter Ferne lag. Was nützten einem die Milliarden, wenn man den Luxus und die Macht nicht genoss, die man sich mit ihnen erkaufen konnte?

Die Entdeckung eines Diamantenvorkommens am südöstlichen Zipfel des Werchojansker Gebirges sollte ihm zu diesem Ruf verhelfen. Sein Chef-Geologe, Lew Iljin, behauptete sogar, es könnte sich um ein zweites Mir handeln, und Juri hatte keinerlei Veranlassung, seinem Urteil zu misstrauen. Iljin wusste, wovon er sprach.

Glück für Tarassow, dass kaum zwanzig Kilometer von der Mine entfernt das Dorf Allach-Jun inmitten dichter Wälder lag. Gerade mal sechzig Einwohner, die von der Hand in den Mund lebten, viele von ihnen weit über siebzig. Kinder gab es keine. Trotzdem war Allach-Jun nicht völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Es lag am Ende einer einhundert Kilometer langen Straße, die zu einer der Hauptverkehrsstraßen zwischen den größeren Ortschaften Jakutiens führte. Am nordöstlichen Rand des Dorfes existierte sogar ein kleiner Flugplatz, der seit dreißig Jahren aber nicht mehr in Betrieb war und nurmehr aus Baracken bestand.

Vor gut einhundert Jahren war Allach-Jun als Siedlung für Goldsucher gegründet worden und hatte zahllose Glücksritter aus dem gesamten Reich angezogen. Doch der Traum war schnell geplatzt und von den knapp über zweitausend Einwohnern waren Anfang des neuen Jahrtausends nur noch dreihundert übrig geblieben. Die letzten Einheimischen, die offenbar nichts Besseres mehr im Leben vorhatten, als auf den Tod zu warten.

All die Jahre hatte sich niemand für Allach-Jun oder seine dahinsiechende Bevölkerung interessiert. Bis Juri Tarassow mit seinem Team kam und das Dörfchen kurzerhand annektierte.

Mit Widerstand war nicht zu rechnen gewesen, immerhin konnte diese Ansammlung verrotteter Baracken und Ruinen von der Entdeckung der Diamanten nur profitieren.

Und doch war es vor einem Monat zu einem Vorfall gekommen, der Juri Tarassow veranlasste, persönlich den weiten Weg von Moskau bis in das knapp fünftausend Kilometer entfernte Jakutsk auf sich zu nehmen, der kältesten Großstadt der Welt. Von hier waren es nur noch läppische vierhundertfünfzig Kilometer Luftlinie bis Allach-Jun.

Der Grund für die beschwerliche Reise war ebenso banal wie beunruhigend: Lew Iljin und sämtliche Geologen waren samt der sie begleitenden Sicherheitskräfte verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.

Der Verdacht, dass Iljin und seine Leute in der Mine verschüttet worden waren, lag nahe. Doch es erklärte nicht das Verschwinden sämtlicher Geologen und Sicherheitskräfte. Die Vorschriften waren streng. Es hätte also auf jeden Fall jemand überleben müssen, der Meldung erstatten konnte.

Die Möglichkeit, dass sich ein Konkurrent auf unlautere Weise Zugang zur Mine verschafft und das für sibirische Verhältnisse milde Klima für seine Zwecke ausgenutzt hatte, indem er Tarassows Arbeiter beseitigte und es wie einen Unfall aussehen ließ, war für Juri nicht von der Hand zu weisen.

Nur gab es von einem solchen Rivalen nicht die geringste Spur, wie Tarassows Sicherheitschef Ravil festgestellt hatte, den Juri mit einem Trupp Söldner vor einer Woche nach Allach-Jun geschickt hatte. Es musste also einen anderen Grund für das Verschwinden geben.

Selbst wenn die vermissten Frauen und Männer beschlossen hätten, von jetzt auf gleich das Handtuch zu werfen und Tarassow zu verraten, erklärte das nicht das Zurückbleiben sämtlicher Ausrüstung, inklusive Hubschrauber. Es sei denn, sie hätten sich zu Fuß auf den Weg durch die Berge und Wälder Jakutiens gemacht, was angesichts der Witterung reiner Selbstmord gewesen wäre. Es herrschte Winter und die Straße nach Allach-Jun war unpassierbar. Das lag jedoch nicht, wie erwartet, an einer dicken Schneedecke.

Zu Tarassows grenzenloser Verblüffung zeigte sich das Gebiet südöstlich des Gebirges nämlich weitestgehend schnee- und eisfrei.

Es war zu einem massiven Temperaturanstieg gekommen, durch den Eis und Schnee binnen weniger Wochen komplett geschmolzen waren. Das Schmelzwasser hatte den Allach-Jun, einen nahe gelegenen Fluss, dem das Kaff seinen Namen verdankte, in einen reißenden Strom verwandelt.

Das Wasser war über die Ufer getreten und hatte nicht nur die einzige Zufahrtsstraße überschwemmt, sondern auch die umliegenden Wälder zu einem schier unbegehbaren Sumpf gemacht.

Was auch immer für das Verschwinden seiner Leute verantwortlich war, Tarassow war der festen Überzeugung, dass die Bewohner von Allach-Jun die Antwort kannten, und er war entschlossen, sie zu finden. Notfalls mit Gewalt. Sollten sich die Einwohner störrisch und unkooperativ zeigen, kannte Ravil Mittel und Wege, um ihre Zungen zu lockern ...

Sie ließen die gaffenden Bewohner hinter sich und landeten auf dem verlassenen Flugfeld, unweit des Dorfes, direkt neben den Maschinen, mit denen Ravil und seine Männer gekommen waren. Kaum hatte der Hubschrauber aufgesetzt, löste sich aus den Schatten einer Baracke ein alter Armee-Jeep, dessen Scheibenwischer Mühe hatten, die Wassermassen zu bewältigen, die unablässig aus den bleigrauen Wolken strömten.

Dunja Tarassowa, Juris Ehefrau, zog den Zobelpelz enger um ihre schlanke, fast magere Gestalt und rümpfte die Nase. Sie stieß einen derben Fluch aus. »Was für ein Scheißwetter.«

»Beschwer dich nicht«, knurrte Juri. »Es war schließlich deine Idee, mitzukommen. Du wolltest doch unbedingt ein Abenteuer. Hier hast du es.«

»Im Regen ersaufen ist kein Abenteuer!«, schnaubte die Sechsundzwanzigjährige. Sie hatte blaue Augen, hochstehende Wangenknochen und einen kleinen, spitzen Mund, der ihr ein hochmütiges Aussehen verlieh. Das üppige blonde Haar verbarg sie unter einer Fellmütze, für die mehrere Goldfüchse ihr Leben und ihren Pelz hatten lassen müssen.

»Dafür habe ich also sämtliche Fotoshootings und Modeschauen für die kommenden zwei Wochen abgesagt.«

Dunja Tarassowa war Model, eines der vielversprechendsten Talente Russlands, das von der gesamten Modewelt von New York bis Moskau heiß begehrt wurde. Sie galt als launisch und sprunghaft. Ihre Stimmungsschwankungen waren ebenso legendär wie berüchtigt, und ihr Entschluss, nach Jakutien mitzufliegen, hatte ihre Agentur in erhebliche Erklärungsnot gebracht. Der blutjungen Diva war das egal und ihrem Gatten nicht minder.

Juri hatte gar nicht erst den Versuch unternommen, ihr die Expedition auszureden. Der Aufenthalt in Allach-Jun würde sicherlich einige Tage, wenn nicht gar Wochen dauern, und die Aussicht, in Jakutsk eine Gespielin zu finden, die auch nur annähernd Dunjas Talente hatte, war ungefähr so wahrscheinlich wie Wasser in der Wüste zu entdecken. Nicht völlig unmöglich, aber dennoch höchst unwahrscheinlich.

»Ich könnte jetzt in Mailand sitzen und Schampus trinken. Stattdessen muss ich knietief durch die Scheiße waten.«

Vitali, ihr Leibwächter, zog die Seitentür des Hubschraubers auf. Schneidend kalter Wind fegte zusammen mit einigen Regentropfen ins Innere. Der Jeep, ein UAZ mit Metalldach, kam wenige Meter daneben zum Stehen.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, rief Dunja empört. »Du erwartest doch wohl nicht, dass ich in diese Blechdose einsteige?«

»Du kannst auch zu Fuß gehen«, schnauzte Juri sie an. »Dann brauche ich mir wenigstens nicht dein Genörgel anzuhören.« Er bereute schon fast, sie mitgenommen zu haben, obwohl er wusste, dass sie es in der Regel nicht so meinte. Es war einfach ihre Natur, zu jammern und zu schimpfen, sooft sie nur konnte.

»Schon gut«, beschwichtigte sie. »Reg dich nicht künstlich auf.«

»Ich ...?« Sein Kopf lief puterrot an. »Ich soll mich nicht künstlich aufregen?«

Du dämliche Schnepfe. Ich sollte dir in deinen knochigen Arsch treten und zusehen, wie du mit dem teuren Zobelpelz im Schlamm ersäufst wie eine übermütige Ratte.

Statt seine Gedanken in die Tat umzusetzen, sah er zu, wie Vitali aus dem Hubschrauber sprang und bis über die Knöchel im Matsch versank. Er öffnete die Tür zum Fond des Jeeps und hob Dunja galant hinüber.

Argwöhnisch, die Lider zu schmalen Schlitzen verengt, beobachtete Juri Tarassow das Schauspiel. Die Art, wie Vitali seine Gattin über den Schlamm trug, wirkte ein wenig zu vertraut. Nicht zum ersten Mal überlegte Juri, seiner Frau einen neuen Bodyguard zu besorgen. Sie wäre nicht die Erste, die sich dem Mann hingab, der ihr Leben mit seinem eigenen beschützte.

Davon abgesehen war Vitali zwanzig Jahre jünger als Juri, und wo der alternde Geschäftsmann bereits Fett ansetzte, hatte der Personenschützer stählerne Muskeln. Hinzu kamen dichtes schwarzes Haar, nussbraune Augen und ein markantes Kinn mit einem winzigen Grübchen.

Scheiße, der Kerl sah selbst aus wie ein Model.

Wo gabelte Krestjanin diese Typen bloß auf? In Dunjas Agentur?

Juri warf seinem Privatsekretär, der ihm gegenüber im Hubschrauber saß und aussah, als müsste er sich jeden Moment übergeben, einen finsteren Blick zu. Doch Krestjanin Melnikow war viel zu sehr mit sich beschäftigt, um ihn zu bemerken.

Egal, er würde ihm später den Kopf waschen.

Vitali hatte in der Zwischenzeit die mürrische Dunja in den Fond verfrachtet und hielt seinem Boss die Hand entgegen, um ihm auf den Beifahrersitz zu helfen. Neben Ravil der halb über dem Lenkrad kauerte und mit ausdrucksloser Miene zusah.

Juri ignorierte Vitalis Hand. Die konnte er sich sonst wohin stecken, solang es nicht Dunjas Schoß war. Der Diamanten-König überlegte gerade, ob er es riskieren sollte, die Distanz bis zum Beifahrersitz mit einem Sprung zu überbrücken, entschied jedoch, dass es das Wagnis nicht wert war. Die Gefahr, auszurutschen und der Länge nach in den Schlamm zu fallen, war zu groß.

Auch wenn es niemand wagen würde, ihn öffentlich auszulachen, lag ihm nur wenig daran, zum Gespött der Leute zu werden. Dann schon lieber ein paar nasse Füße in Kauf nehmen. Zum Glück war er weitsichtig genug gewesen, nicht die besten Wildlederschuhe anzuziehen.

Im Gegenteil, für diesen Ausflug hatte er sich pragmatisch gekleidet. Mit den Arbeitsstiefeln und dem olivgrünen Overall aus Drillichstoff sah er beinahe aus wie Fidel Castro. Nur dass ihm der Bart fehlte und er noch nicht ganz so betagt war, wie der unlängst verblichene Regierungschef von Kuba. Darüber hinaus hatte sich Juri einen gefütterten Parka übergeworfen. Mit hochgeschlagener Kapuze stapfte er durch Matsch und schwang sich neben Ravil auf den Beifahrersitz.

Aus dem Augenwinkel sah er einen Jeep heranbrausen. Ebenfalls ein UAZ, dessen Verdeck jedoch aus einer uralten Plane bestand, die bedrohlich im Wind knatterte. Dieser Wagen war für die Piloten reserviert, aber es war sicherlich noch ein Plätzchen für Krestjanin frei.

Juri gab Vitali das Zeichen, einzusteigen, nachdem der ihr Gepäck im Kofferraum verstaut hatte. Der Leibwächter machte eine bedauernde Geste in Richtung des Privatsekretärs, dessen Gesicht beim Anblick des zweiten Jeeps noch fahler wurde, was Juri kaum für möglich gehalten hätte.

»Fahr los!«, brummte Tarassow seinem Sicherheitschef zu.

Der gab so schnell Gas, dass der Schlamm unter den Reifen wegspritzte. Der Wagen schlingerte auf dem schlammigen Pfad hin und her.

Dunja schimpfte derweil weiter wie ein Rohrspatz. »Hoffentlich ist unsere Unterkunft wenigstens warm und trocken.«

»Da, Gosposcha«, sagte Ravil. »Inna hat sogar Essen zubereitet. Borschtsch und Blinis.«

Juri Tarassow lief das Wasser im Munde zusammen, Dunja kochte dagegen die Galle über. Sie beugte sich vor. »Borschtsch und Blinis? Bist du bescheuert? Willst du, dass ich fett werde, du dämlicher Ochse?«

»Njet, Gosposcha.«

»Meine Fresse, von dem, was du isst, wird nicht mal ein Chihuahua fett«, mischte sich Juri ein. »Und jetzt halt endlich die Schnauze.«

Dunja stieß einen Laut aus, der an das Fauchen einer Raubkatze erinnerte, gehorchte jedoch. Sie wusste, wann sie den Bogen überspannt hatte, mit einer der Gründe, weshalb Juri sie geheiratet hatte. Fortan begnügte sich seine Gattin damit, ihren Unmut kundzutun, indem sie mit verschränkten Armen aus dem Fenster sah.

Juri genoss für ein paar Sekunden die Stille, die nur vom Dröhnen des Motors unterbrochen wurde.

Nach fünf Minuten kamen die ersten Häuser in Sicht. Sie bestanden größtenteils aus Holz und Lehm, einige waren nicht mehr als Wellblechbaracken. Die meisten Behausungen schienen leer zu stehen, was anhand der fehlenden Fensterscheiben und der löcherigen Dächer unschwer zu erkennen war. Das Unkraut wucherte meterhoch in den Vorgärten. Vereinzelt lugten sogar die Kronen von Birken und Pappeln aus den Ruinen.

Von den Einwohnern, die bei ihrem Anflug auf der unbefestigten Straßen gestanden hatten, war nichts mehr zu sehen. Allach-Jun lag da wie ausgestorben.

Hätte Juri sie nicht mit eigenen Augen gesehen und Ravil von ihnen berichtet, er hätte geglaubt, in eine Geisterstadt einzufahren. So abwegig war der Gedanke nicht einmal. Es gab sie häufiger in Sibirien, die kleinen Dörfer und Siedlungen, die in der Nähe von reichen Rohstoffvorkommen errichtet worden waren, fernab jeglicher Zivilisation, und die, nachdem die Bodenschätze abgeschöpft waren, verlassen wurden. In spätestens dreißig Jahren würde Allach-Jun ebenfalls zu diesen vergessenen Flecken gehören.

»Schon irgendwas Neues von unseren Leuten?«, erkundigte sich Juri Tarassow, während der Jeep über die einzige Straße des Ortes schaukelte.

»Njet«, erwiderte Ravil kurz angebunden. »Wir haben sowohl die Mine als auch das ganze verdammte Dorf auf den Kopf gestellt. Nichts.«

»Und die Dörfler?«

»Schweigen.«

»Du hast sie nicht verhört?«

Ravil wandte den kahlen Kopf. Er war ein grobschlächtiger Kerl, groß und kräftig. Eine feuerrote Narbe zog sich über sein rechtes Scheitelbein. Dort hatte ihn einst eine Kugel getroffen und eine tiefe Furche hinterlassen. Ein Auge war blind, in seinem Gebiss funkelten mehrere Goldzähne. Dennoch durfte man Ravils Intelligenz nicht unterschätzen. Entgegen seines Äußeren, das den Eindruck eines tumben Schlächters vermittelte, war er ein gerissener Mann, was ihn umso gefährlicher machte. Außerdem war er ein Sadist wie er im Buche stand.

Sein Grinsen ließ selbst Juri erschaudern. »Noch nicht. Ich nahm an, dass Sie dabei sein wollten!«

Tarassow nickte. »Stimmt. Ich nehme an, du hast bereits eine Vorstellung, bei wem wir die größten Aussichten auf Erfolg haben?«

»Pjotr Kusmin. Er ist der Ortsvorsteher, der Patriarch.«

»Ein Pope?«

Ravil zuckte mit den Schulterm. »Keine Ahnung. Möglich. Ist das wichtig?«

»Nein«, erwiderte Juri Tarassow. »Nicht wirklich.«

Der Jeep rollte an einem hölzernen Bau mit hochaufragendem Satteldach entlang und bog dahinter auf eine mit Betonplatten ausgelegte Zufahrt ab, die auf den Hof der Datsche führte. Er war eine einzige Schlammsuhle. Das löcherige Gerippe eines Hühnerstalls stand neben dem Wrack eines uralten Kirowez-Traktors, der fast gänzlich von Gestrüpp überwuchert wurde.

Der Boden auf der Rückseite der Datsche war mit Pflastersteinen befestigt. Ein Trittstein führte zu einer grau gestrichenen Hintertür hinauf, die sich kurz darauf öffnete.

Eine krumme Gestalt, die sich auf einen knotigen Stock stützte, trat ins Freie. Sie war in eine dunkelblaue Kittelschürze gehüllt, das grauschwarze Haar trug sie im Nacken zu einem Knoten gebunden.

Das musste Inna, die Hausherrin sein, die bereit war, ihre Datsche großzügig mit den Neuankömmlingen zu teilen. Nicht, dass ihr Ravil oder Juri eine Wahl gelassen hätten. So etwas wie ein Gasthaus hatte es in Allach-Jun nie gegeben. Wer hierhergezogen war, war zum Arbeiten gekommen, nicht um Urlaub zu machen.

Bevor Juri die Tür aufstieß, wandte er sich an Ravil.

»Hör zu, ich will heute noch mit diesem Kusmin sprechen. Sorg dafür, dass er in zwei Stunden zu Hause ist. Nüchtern, wenn's geht.«

»Da«, erwiderte Ravil grinsend. »Wird gemacht, Boss.«

»Kommen Sie rein«, krächzte die Alte und winkte mit ihrem knorrigen Zeigefinger. »Ich habe die Zimmer bereits vorbereitet. Sie liegen unter dem Dach.«

Juri Tarassow erschauerte trotz der bulligen Wärme, die ihm entgegenschlug, als er hinter der Alten die Datsche betrat. Unwillkürlich wurde er an das russische Märchen von der Baba Yaga erinnert, der kinderfressenden Hexe, die in einer Hütte lebte, die auf Hühnerbeinen stand.

Er ertappte sich dabei, wie er verstohlen nach dem Ofen Ausschau hielt, auf dem die Baba Yaga durch die Nacht zu reiten pflegte.

Dieses Mal trug der Geschäftsmann sein Gepäck eigenhändig, während sich Vitali mit den containergleichen Koffern seiner Gattin abmühte. Dunja selbst trug nichts weiter außer ihrem Pelz und ihrer Würde. Die Hände hatte sie in die Ärmel geschoben, um sie zu wärmen. Sie fror eigentlich immer, was in Anbetracht ihrer Figur auch kein Wunder war.

»Die Zimmer verfügen über eigene Öfen, die bereits angeheizt wurden. Ihr Angestellter ...« Inna zögerte, als würde ihr der Name nicht einfallen.