John Sinclair 2230 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2230 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Als Mama die Höhle betritt, liegt Marylins Bruder Lucas reglos über ihrer Schulter.
Sie lächelt beim Anblick ihrer Tochter, und auch Mary freut sich darüber, endlich wieder mit ihrer Mutter zusammen zu sein. Ihre Großeltern haben gesagt, Mama sei krank, doch das war gelogen. Wenn man krank ist, muss man schließlich im Bett bleiben. Und mit Sicherheit kann man dann keine Brüder durch die Gegend tragen.
Mary hat bestimmt eine Million Fragen, doch sie traut sich nicht, auch nur eine davon zu stellen. Sie bleibt mucksmäuschenstill, obwohl sie sehr friert.
Selbst als Mama den bewegungslosen Lucas auf den Steinklotz legt, sagt sie kein Sterbenswörtchen. Erst als sie ihr dieses komische, glibberige Ding in die Hände drückt, kann sie den Mund nicht mehr halten.
"Iiih, das bewegt sich, ja. Was ist denn das?"
"Das, mein Schatz, ist mein Herz, das ich der Großen Mutter zum Geschenk machen möchte."


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Seitenzahl: 158

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Des Bösen List

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Des Bösen List

von Ian Rolf Hill

Als Mama die Höhle betritt, liegt Marylins Bruder Lucas reglos über ihrer Schulter.

Sie lächelt beim Anblick ihrer Tochter, und auch Mary freut sich darüber, endlich wieder mit ihrer Mutter zusammen zu sein. Ihre Großeltern haben gesagt, Mama sei krank, doch das war gelogen. Wenn man krank ist, muss man schließlich im Bett bleiben. Und mit Sicherheit kann man dann keine Brüder durch die Gegend tragen.

Mary hat bestimmt eine Million Fragen, doch sie traut sich nicht, auch nur eine davon zu stellen. Sie bleibt mucksmäuschenstill, obwohl sie sehr friert.

Selbst als Mama den bewegungslosen Lucas auf den Steinklotz legt, sagt sie kein Sterbenswörtchen. Erst als sie ihr dieses komische, glibberige Ding in die Hände drückt, kann sie den Mund nicht mehr halten.

»Iiih, das bewegt sich ja. Was ist denn das?«

»Das, mein Schatz, ist mein Herz, das ich der Großen Mutter zum Geschenk machen möchte.«

Marylin verdreht die Augen. »Das geht doch gar nicht«, sagt sie. »Ohne Herz könntest du nämlich gar nicht leben. Außerdem leuchten Herzen nicht.«

»Ach, und woher weißt du das?«

»Weil ... weil ... das müsste man doch sehen, wenn man den Mund aufmacht.« Marylin zeigt es Mama, indem sie den Mund ganz weit aufsperrt, wie beim Zahnarzt.

Mama lächelt und zwinkert Mary zu. »Du bist ganz schön klug, weißt du das?«

Sie macht den Mund zu und nickt heftig. »Das sagt Grandpa auch.«

»Und der wird es wissen, nicht wahr?«

»Kommt er auch? Zusammen mit Grandma?«

»Ich fürchte, nein.« Mama macht ein trauriges Gesicht. »Deine Großeltern sind gerade sehr beschäftigt. Aber wir werden auch so jede Menge Spaß miteinander haben.«

»Und was ist mit Lucas?«

»Was soll mit ihm sein?«

»Er ist so still.«

Mama beugt sich vor und legt einen Finger an ihre Lippen. »Er tut doch nur so«, flüstert sie und stützt sich mit den Händen auf ihren Oberschenkeln ab. Sie sieht irgendwie lustig aus in dieser Polizeiuniform. »Das gehört alles zum Spiel.«

»Ach so«, wispert Mary und kichert leise. »Spielt der andere Junge auch mit?«

Sie hebt die Hände und zeigt mit dem pumpenden Herz auf den Knaben, der inmitten getrockneten Schleims an der Wand klebt.

»Oh, aber ja«, sagt Mama. »Man könnte sogar sagen, er ist die Schlüsselfigur in unserem Spiel.«

»Was ist eine Schüsselfigur?«

»Schlüssel, mein Schatz. Schlüssel. Eine Schlüsselfigur, das ist jemand, der eine wichtige Rolle spielt. Ohne sie funktioniert es nicht.«

»Hm«, macht Mary. »Und wo ist Tante Lilith?«

»Die kommt gleich wieder. Sie sorgt dafür, dass uns niemand den Spaß verdirbt, weißt du?« Plötzlich wird Mama starr. Ihre Augen weiten sich.

Sie dreht den Kopf und schaut zum Eingang der Höhle, der nur ganz schwach zu sehen ist. Ein Schatten bewegt sich dort. Doch es ist nichts zu hören. Nur das Rauschen der Wellen, die draußen vor der Höhle auf den felsigen Strand rollen.

»Es geht los«, flüstert Mama. »Stell dich dorthin.« Ihr Blick wird streng. »Und keinen Mucks, hörst du?«

Marylin nickt. Sie will mit Daumen und Zeigefinger so tun, als ob ihr Mund einen Reißverschluss hätte, den sie zuzieht, doch sie hat Angst, das Herz fallen zu lassen. Mama würde bestimmt böse sein, und das will Mary auf keinen Fall.

»Christine Grey!«, erklingt da die Stimme einer Frau.

Mary ist so aufgeregt, dass sie glatt zu atmen vergisst. Das blaue Licht blendet sie, sodass sie die andere Frau nicht richtig sehen kann. Sie ist ziemlich groß, größer als Mum. Mary erkennt ihre Stimme wieder. Das ist die Polizistin, die am Nachmittag bei ihnen war.

Mama hat sich hinter den Stein gestellt, auf dem Lucas liegt. Sie schielt zu Mary hinüber und zwinkert ihr zu, dann richtet sie den Blick auf die Fremde. Die hat ihre Arme ausgestreckt, in den Hände hält sie eine Pistole. Marylins Bauch beginnt zu zwicken. Mama hat gesagt, das sei alles ein Spiel, doch es macht keinen Spaß. Dafür hat Mary viel zu große Angst. Aber man sollte keine Angst haben, wenn man spielt.

»Christine Grey, nehmen Sie das Messer in die Hand!«, ruft die Polizistin.

Mary versteht das nicht. Welches Messer?

»Warum?«, fragt Mama und geht langsam auf die andere Seite des Steinblocks zu. »Damit Sie mich erschießen können?« Sie breitet die Arme aus. »Bitte. Tun Sie sich keinen Zwang an. Aber Sie werden es schon so machen müssen. Während ich unbewaffnet bin.«

Mit einem Mal sitzt ein Kloß in Marylins Kehle. Das Herz in ihren Händen schlägt schneller, so wie ihr eigenes. Marys Unterlippe fängt an zu zittern.

Was redet Mama da?

Sie geht auf die Polizistin zu.

»Bleiben Sie stehen!«

»Oder was? Worauf warten Sie denn noch? Nun schießen Sie schon!«

NEEEIN, will Mary schreien, doch kein Laut kommt aus ihrem Mund. Ihr Hals tut weh, ihre Augen füllen sich mit Tränen.

»Warum wollen Sie das?«, fragt die Polizistin.

»Soll ich es Ihnen leichter machen?« Mama streicht Lucas die Haare aus der Stirn.

»Hände hinter den Kopf!«, brüllt die Polizistin wütend.

Mum streckt die Hand nach dem fremden Jungen auf der anderen Seite aus. »Oder wollen Sie, dass ich mich zuerst um Ihren Sohn ...«

BAMM!

Mary zuckt zusammen, als die Pistole in den Händen der Polizistin explodiert. Ein grelles Licht flammt auf. Eine warme Flüssigkeit spritzt Marylin ins Gesicht. Steif wie ein Brett kippt Mama um. Ihr halber Kopf ist verschwunden.

Krampfhaft schließt Mary die Finger, die in das das blaue Herz eindringen. Es fällt auseinander wie ein Sandkuchen. Es wird dunkel. Und dann fängt sie an zu schreien, wie sie noch nie zuvor geschrien hat.

»Maaaryyy!«

Lucas bemühte sich, das Tosen der Brandung zu übertönen, doch das war unmöglich. Und selbst wenn es ihm gelungen wäre, wäre es fraglich gewesen, ob seine Schwester Marylin ihn überhaupt gehört hätte.

Dafür war sie einfach zu weit entfernt. Außerdem schlief sie anscheinend noch immer. Und das war das Unheimlichste an der ganzen Sache, denn obwohl sie geschlafen hatte, war sie mitten in der Nacht aufgestanden und hatte ihr Zimmer im Lively-Light Treatment Home verlassen.

Er hatte es zu spät bemerkt, und jetzt wanderte Marylin wie eine ferngesteuerte Puppe auf die Klippen von Cove Bay zu. Barfuß und nur mit einem dünnen weißen Nachthemd bekleidet, das im Wind flatterte wie eine Fahne.

Allein die Kälte hätte sie doch längst aufwecken müssen. Lucas jedenfalls fror wie ein Schneider, obwohl ihm der Schreck zunächst heiß durch sämtliche Glieder gefahren war, nachdem er bemerkt hatte, dass Mary verschwunden war.

Das mit den Albträumen kannte er ja schon.

Seit sie von Tante Emily gefangen gehalten worden waren, hatte Marylin kaum eine Nacht friedlich durchgeschlafen, ebenso wenig wie er selbst.* Auch das nächtliche Einnässen war nichts Neues. Nur das mit dem Schlafwandeln, das hatte sie vorher nicht getan. Damit hatte sie erst angefangen, nachdem Mum in der Höhle unterhalb der Klippen von Auchmithie von einer Polizistin erschossen worden war. Angeblich in Notwehr.**

Lucas konnte es immer noch nicht fassen, dass ihre Mutter mehrere Menschen getötet haben sollte, darunter auch ihre Großeltern. Und jetzt waren sie beide ganz allein auf der Welt.

Er und seine Schwester Marylin.

Umso wichtiger war es, dass sie zusammenhielten. Das hatte selbst Mrs. Skarsten, die Heimleiterin, gesagt und extra dafür Sorge getragen, dass sie zusammen ein Zimmer bekamen.

Auch bei Oma und Opa hatten sie ein gemeinsames Zimmer gehabt. So fiel es ihm leichter, auf Marylin aufzupassen. Seit sie von Tante Emily entführt worden waren, hatte er sich geschworen, seine Schwester zu beschützen.

Der Weg hinab zu den Klippen war nicht unbedingt weit, zu Fuß brauchte man aber dennoch mindestens eine Viertelstunde, wenn man sich beeilte. Zum Glück ging Marylin recht langsam.

Trotzdem wunderte es Lucas, dass sie kein einziges Mal stolperte, denn der Weg war alles andere als eben. Überall ragten Steine oder Grasbüschel hervor. Auch Zweige und Äste vom letzten Sturm lagen noch herum. Zwischen der Küste und dem Kinderheim wuchsen einige knorrige Bäume, die im Licht des Mondes aussahen wie die verkrüppelten Klauen riesiger Ungeheuer.

Die hatte Marylin jedoch längst hinter sich gelassen.

Nur noch zwanzig oder dreißig Yards, dann hatte sie die Klippen erreicht.

Lucas schluchzte. Er wollte noch einmal nach seiner Schwester rufen, doch ihm fehlte die Luft dazu. Längst hatte er Seitenstiche vom schnellen Laufen. Trotzdem gab er nicht auf. Die Angst um Mary peitschte ihn voran.

Zweige, Holzsplitter und winzige Steine rissen ihm die Füße auf, doch Lucas ignorierte die Schmerzen. Ebenso wie das lauter werdende Rauschen der Brandung, das Heulen des Windes und den Ruf des Käuzchens.

Grandma hatte mal gesagt, dass man früher geglaubt hatte, dass jemand sterben müsse, sobald sein Ruf ertönte. Er hatte darüber nur gelacht. Doch jetzt, mitten in der Nacht, hörte sich das »Kuwitt, Kuwitt« tatsächlich wie ein Lockruf an.

»Komm mit, komm mit«, schien der Totenvogel zu rufen.

Und Marylin kam.

Doch Lucas gab nicht auf. Und er schaffte es!

Die Gestalt seiner Schwester rückte näher, Yard für Yard holte er auf. Wäre Marylin wach gewesen, sie hätte sein heiseres Keuchen vermutlich längst gehört. Noch zehn Schritte trennten sie vom Rand der Klippe.

Und da passierte es!

Lucas übersah einen Stein. Sein Fuß stieß dagegen, und ein scharfer Schmerz schoss sein Bein hinauf. Er stolperte, verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf den steinigen Pfad, wo er sich Arme, Hände und Knie aufschürfte. Der Pyjama ging in Fetzen.

»MAAARYYY!«, brüllte er voller Panik, ohne auf die Schmerzen zu achten. Sein tränenumflorter Blick galt allein seiner Schwester.

Und Marylin blieb tatsächlich stehen.

Lucas konnte es nicht glauben. Für Sekunden starrte er atemlos auf Marys Gestalt, die auf der äußersten Spitze der Klippe stand und sich scharf vor dem hellen Sternenhimmel abhob.

Lucas schluchzte und stemmte sich auf die Beine. Er schrie, als er den Fuß belastete, mit dem er in vollem Lauf gegen den Stein getreten war. So schnell er konnte, humpelte er auf Marylin zu, die zwar stehen geblieben war, aber keine Anstalten traf, sich umzudrehen oder gar zurückzulaufen. Ja, sie schien die Anwesenheit ihres Bruders noch nicht einmal bemerkt zu haben.

Sie stand auf dem Fleck und starrte hinaus auf das Meer, das im Licht des Mondes funkelte und gleißte. Auch Marylin badete in seinem silbrig-blauen Glanz und wirkte fast wie ein kleiner Engel.

Je näher Luca kam, desto deutlicher erkannte er, wie knapp es gewesen war. Nur wenige Schritte weiter, und Marylin wäre abgestürzt. Es trennten sie nicht mal mehr zwei Yards vom Abgrund. Daher traute Lucas sich auch nicht, sie anzusprechen. Jedenfalls nicht, solange er sie nicht festhalten konnte.

Er zog die Nase hoch, während ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Hoffentlich glaubten ihm die Betreuerinnen, dass Marylin schlafgewandelt war, sonst würde er Ärger wegen des zerrissenen Schlafanzugs bekommen.

Lucas erreichte seine Schwester und griff vorsichtig nach ihrem nackten Arm.

Erschrocken zuckte er zurück. Marylins Haut war eiskalt!

Sein Magen zog sich vor Furcht zusammen, als er um Mary herumschlich, damit er ihr ins Gesicht blicken konnte. Er schlug sich die Hand vor den Mund, als er sah, dass ihre Augen offen standen. Sie waren dunkel, fast schwarz.

»M...Mary?«, bibberte er. Die Angst um seine Schwester fraß ihn beinahe auf.

Sie reagierte noch immer nicht, sodass er es erneut probierte.

»Mary, bitte sag doch was!«

Da öffnete sie ruckartig den Mund und kreischte so laut, dass Lucas vor Schreck zwei Schritte rückwärts taumelte. Er wollte sich noch die Ohren zuhalten, als er mit dem rechten Fuß ins Leere trat. Heiß wie Feuer fuhr die Panik durch seinen Körper. Er wedelte mit den Armen, verzweifelt nach Halt suchend, doch da war nichts.

Wie ein Stein raste Lucas in die Tiefe.

Sein Schrei ging im Kreischen seiner Schwester unter.

Marylin wurde von ihrem eigenen Gebrüll geweckt.

Erschreckt starrte sie über die Klippen hinaus aufs Meer. Kalter Wind, der nach Algen und Salz schmeckte, fuhr ihr ins Gesicht und ließ ihr dünnes Nachthemd flattern.

Keuchend wich das Mädchen zurück, stolperte und setzte sich auf den Hosenboden. Mary verzog das Gesicht, als wollte sie anfangen zu weinen, doch es drang nur ein schwaches Wimmern hervor.

»Mami?«

Zitternd starrte sie auf ihre schmutzigen, nackten Füße. Wie war sie hierhergekommen?

»Mami, i...ich ... ich habe Angst!«

Doch ihre Mutter antwortete nicht. Das konnte sie auch nicht, denn sie war nicht mehr da. Genauso wenig wie ihre Großeltern. Und das hier waren auch nicht die Klippen von Auchmithie, geschweige Dundee.

Langsam kehrte die Erinnerung zurück, und Marylin erkannte ihre Umgebung wieder. Es war die Küste von Cove Bay, die sich unter ihr entlang zog. Seit drei Wochen lebte sie nun schon hier. Gemeinsam mit ihrem Bruder Lucas hatte man sie hierher ins Heim gebracht, nachdem man sie aus dem Krankenhaus entlassen hatte.

»Lucas«, rief das Mädchen.

Aber auch dieses Mal bekam es keine Antwort. Und da fing Marylin an zu weinen.

Bis sie den spitzen Schrei vernahm. Erschrocken blickte sie sich um und sah hinter sich auf dem Ast eines verkrüppelten Baumes die dunkle Gestalt einer nachtschwarzen Eule sitzen. Ihre Augen leuchteten wie kleine Spiegel, in denen sich das Licht des Vollmondes fing.

Plötzlich breitete das Tier die Flügel aus und stieß sich von dem Ast ab. Lautlos glitt die riesige Eule über Marylin hinweg in Richtung Meer. Kaum hatte sie die Klippen hinter sich gelassen, stürzte sie sich hinunter.

Wie ein Stein fiel sie in die Tiefe und verschwand aus Marylins Blickfeld.

Die schlug sich vor Schreck beide Hände vor den Mund. Ohne auf die Kälte und ihre schmerzenden Glieder zu achten, krabbelte sie auf allen vieren zum Rand des Felsens, um hinab in die Tiefe zu gucken, neugierig, was wohl aus der Eule geworden war.

Marylin glaubte zu träumen.

Das Tier war unversehrt. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der mit verdrehten Gliedern zwischen den Felsen lag. Die Eule stand neben ihm auf einem Findling, hob den Kopf und starrte zu dem Mädchen hinauf.

Das öffnete den Mund und stieß einen Schrei der Verzweiflung aus.

Im selben Augenblick legten sich zwei kalte Hände um ihre Schultern und rissen sie zurück.

»Was, zum Teufel, tust du hier? Warum bist du nicht im Bett?«

Die Stimme drang nur gedämpft an Marylins Ohren. So als würde die Gestalt durch einen Schal oder den Kragen eines Pullovers sprechen. Das Gesicht unter der Kapuze des dunklen Parkas war bleich. Die Panik sprang Mary an wie ein wildes Tier. Statt sich zu beruhigen, wurden ihre Rufe nur lauter. Sie bekam kaum noch Luft, trotzdem konnte sie nicht anders, als immer wieder zu schreien.

Bis der Schlag mit der flachen Hand ihr Gesicht traf und den Kopf auf die Seite riss. Der brennende Schmerz ließ das Mädchen augenblicklich verstummen.

»Mein Gott, es tut mir so leid«, sagte sie Gestalt und zog sich die Kapuze vom Kopf.

»Muriel!«, rief Mary und warf sich schluchzend in die Arme der jungen Frau, die versuchte, das verängstigte Kind zu beruhigen.

Sanft strich es ihm über den Rücken und sprach leise in sein Ohr.

»Pssst, ist schon gut.«

»Neeein«, heulte Marylin und wischte sich die Nase an der Schulter ihres Nachthemdes ab. »Gar nichts ist gut. Lucas ...« Sie deutete auf den Abgrund und fing wieder an zu weinen.

Muriel Bellows erhob sich langsam und trat vorsichtig an die Klippen heran.

Ihre Miene wurde hart wie Granit, als sie den verdrehten, regungslosen Körper des Jungen erblickte.

»Oh Marylin«, hauchte sie schockiert. »Was hast du getan?«

»Ich hab keinen Hunger!«, maulte Joel und schob die Ravioli lustlos mit dem Löffel auf dem Teller hin und her.

Davina McCarthy seufzte lautlos. So ging das nun schon seit Wochen. Genau genommen, seit seine Großmutter von einer wahnsinnigen Serienmörderin regelrecht abgeschlachtet worden war. Davina selbst hatte Christine Grey daraufhin erschossen, als diese ihren eigenen Sohn einer alttestamentarischen Dämonin opfern wollte.*

Bis heute wusste Davina nicht, wie viel Joel davon mitbekommen hatte. Im besten Fall gar nichts, im schlimmsten Fall alles.

Gesprochen hatte er über seine Erlebnisse mit niemandem. Weder mit seiner Mutter noch mit der Therapeutin und auch nicht mit seinem Dad. Er war regelrecht verschlossen und introvertiert geworden, was Davina am meisten beunruhigt hatte.

Die Therapeutin hingegen hatte ihr geraten, geduldig zu bleiben. Oft brauchten traumatische Ereignisse eine gewisse Zeit, um sich zu lösen. Manchmal äußerten sie sich auch durch Albträume oder Verhaltensauffälligkeiten, wie zum Beispiel Wutausbrüche.

Bisweilen ertappte sich Davina dabei, dass sie sich wünschte, Joel würde ausflippen. Damit er überhaupt eine Reaktion zeigte. Einen Hinweis, dass ihm der grausame Tod seiner Oma, ihrer Mutter, naheging. Geduld war nämlich nicht unbedingt Davinas Stärke.

Und dann war da ja noch James!

Um ehrlich zu sein, war sie nur Joel zuliebe wieder nach Perth in die Nähe seines Vaters und seiner Stiefmutter Annabelle gezogen. In der Hoffnung, dass ihn nahestehende Personen, die er nicht unterbewusst mit dem Grauen assoziierte, das aus heiterem Himmel sein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt hatte, ihn aus seinem Schneckenhaus locken konnten.

Komplette Fehlanzeige.

Für Davina war der Umzug allerdings der reinste Spießrutenlauf geworden. James und Annabelle hatten sich zwar sehr verständnisvoll und hilfsbereit gezeigt, ohne den geringsten Vorwurf, doch ihre anklagenden Blicke sprachen Bände.

Am schlimmsten war die Beerdigung ihrer Mutter gewesen. Joel hatte nicht eine Träne vergossen und mit starrer Miene vor dem Grab gestanden, während Davina mühsam um Beherrschung gerungen hatte. Abends im Bett hatte sie geheult wie ein Schlosshund.

Ihr Leben lag in Trümmern, daran biss keine Maus den Faden ab. Der einzige Grund, weshalb sie überhaupt weitermachte, saß ihr gegenüber und schob die Ravioli von einer Seite des Tellers auf die andere. Verflixt, sie wusste, dass sie keine gute Köchin war, im Gegensatz zu ihrer Mutter. Es war wirklich praktisch gewesen, dass sie gleich nebenan gewohnt hatte.

Selbst wenn es bei Davina mal später geworden war, was als Chefinspektorin der Mordkommission von Dundee regelmäßig der Fall gewesen war, hatte sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Ihre Mutter war immer für ihren Enkel da gewesen, hatte mit ihm Hausaufgaben gemacht, für ihn gekocht und ihn zur Not sogar ins Bett gebracht.

Doch das war nun vorbei. Für immer. Genau wie ihre Karriere bei der Polizei.

Dabei war sie gerade erst durch die Fürsprache von Sir James Powell rehabilitiert worden. Aber das Schicksal hatte andere Pläne für sie gehabt. Noch an Ort und Stelle, wo ihre Mutter ihr Leben unter den Schnitten der grausamen Mörderin ausgehaucht hatte, hatte Davina den Dienst quittiert, um Christine Grey zu jagen und ihren Sohn zu retten.

Ihr Vorgesetzter Superintendent Cutter hatte sie doch tatsächlich von dem Fall abziehen wollen. Wegen persönlicher Befangenheit.

Zum Glück hatte ihr John Sinclair die nötige Rückendeckung gegeben. Und er hätte sich nach dem Tod von Christine Grey, der mehr einer Hinrichtung geglichen hatte, auch erneut für sie eingesetzt, aber davon hatte Davina nichts wissen wollen.

»Soll ich einfach so weitermachen und so tun, als ob nichts gewesen wäre?«, hatte sie John gefragt. Doch auf diese Frage hatte selbst der Geisterjäger keine Antwort gewusst. Natürlich nicht, was hätte er auch sagen sollen?