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Das Heulen des Sturms klang wie das Wehklagen einer verwundeten Kreatur.
Mit einer Geschwindigkeit von mehr als fünfzig Stundenkilometern fegte der Blizzard über die karstigen Höhenzüge. Schnee- und Eiskristalle wirbelten in dichten weißgrauen Schleiern über die Gletscher hinweg, sodass ein Mensch kaum die eigene Hand sehen konnte.
Doch Menschen verirrten sich höchst selten auf einen der Gletscher im Norden Alaskas, wo die Temperaturen im Winter auf bis zu minus dreißig Grad sanken.
Einer hatte es dennoch gewagt. Jemand, dessen Blicke noch kälter als das Eis waren.
Es war Matthias, der erste Diener des gefallenen Engels Luzifer. Und er war gekommen, um eine Kreatur von beispielloser Grausamkeit zu erwecken.
Die Eskimos nannten ihn Amarok. In der Sprache der Inuit wurde er als Amaruk oder Amaruq bezeichnet. Kryptozoologen vermuteten, es handele sich dabei um den ausgestorbenen Waheela.
Matthias aber hatte für ihn eine sehr viel einfachere Bezeichnung gefunden.
Monsterwolf!
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Seitenzahl: 159
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Amaruk, der Monsterwolf
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Amaruk, der Monsterwolf
von Ian Rolf Hill
Das Heulen des Sturms klang wie das Wehklagen einer verwundeten Kreatur.
Mit einer Geschwindigkeit von mehr als fünfzig Stundenkilometern fegte der Blizzard über die karstigen Höhenzüge. Schnee- und Eiskristalle wirbelten in dichten weißgrauen Schleiern über die Gletscher hinweg, sodass ein Mensch kaum die eigene Hand sehen konnte.
Doch Menschen verirrten sich höchst selten auf einen der Gletscher im Norden Alaskas, wo die Temperaturen im Winter auf bis zu minus dreißig Grad sanken.
Einer hatte es dennoch gewagt. Jemand, dessen Blicke noch kälter als das Eis waren.
Es war Matthias, der erste Diener des gefallenen Engels Luzifer. Und er war gekommen, um eine Kreatur von beispielloser Grausamkeit zu erwecken.
Die Eskimos nannten ihn Amarok. In der Sprache der Inuit wurde er als Amaruk oder Amaruq bezeichnet. Kryptozoologen vermuteten, es handele sich dabei um den ausgestorbenen Waheela.
Matthias aber hatte für ihn eine sehr viel einfachere Bezeichnung gefunden.
Monsterwolf!
»Dann lasst mal die Hosen runter, Jungs!«
Simone setzte ein breites Grinsen auf und legte die Karten auf den Tisch. Vier Neunen lachten die restlichen drei Mitspieler an.
Die links neben ihr sitzende Nina Stroud schnaubte nur. Sie war schon in der Vorrunde ausgestiegen und schien das keineswegs zu bereuen. Im Gegensatz zu Ronnie, der aufstöhnte und sein Full House, bestehend aus drei Buben und zwei Achten, auf den Tisch pfefferte.
Jetzt war nur noch Andrew im Spiel. Der saß Simone Scott direkt gegenüber und starrte mit versteinerter Miene auf das Quartett seiner Kollegin, traf jedoch keinerlei Anstalten sein eigenes Blatt aufzudecken.
»Nun komm schon, Andrew. Mach nicht so'n Wirbel. Zeig endlich, was du hast, oder traust du dich nicht?« Nina grinste den Meteorologen herausfordernd an.
Der ließ sich nicht länger bitten. Provozierend langsam senkte er die Hand und versuchte dabei, ein möglichst enttäuschtes Gesicht zu machen, was ihm kläglich misslang.
Simones Grinsen zerbröselte. »Was zum ... das darf doch nicht wahr sein.«
»Ich fass es nicht.« Nina Stroud ächzte.
Nur Ronnie konnte sich ein Gackern nicht verkneifen, auch wenn er ebenfalls zu den Verlierern zählte. »Straight Flush«, kommentierte er das Offensichtliche.
»Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu«, knurrte Simone angriffslustig. »Das ist das dritte Mal in Folge, dass du gewinnst.«
Andrew lachte und grabschte sich mit beiden Händen den Topf aus der Mitte des Tisches. »Was soll ich machen? Ich bin eben ein Naturtalent.«
Unvermittelt heulte der Sturm lauter. Geradezu wütend pfiff er zwischen den Gebäuden der Forschungsstation entlang und rüttelte an Fenstern und Türen. Die Glühbirne unter dem altmodischen Lampenschirm flackerte. Nur die leise Hintergrundmusik lief unvermindert weiter, da sie von Andrews iPod stammte.
»Das ist wohl jemand anderer Meinung«, bemerkte Simone trocken.
Die Blicke der drei restlichen Forscher wanderten synchron zur Decke, als erwarteten sie, jeden Moment eine Stimme aus dem Unsichtbaren zu hören, die ihnen verkündete, dass es an der Zeit sei, ihre Sünden zu bereuen. Doch das Jaulen des Windes blieb das einzige Geräusch.
Nina Stroud fröstelte. »Daran werde ich mich nie gewöhnen.«
Das Pfeifen wurde schwächer, die Glühbirne erholte sich.
Ronnie grunzte und stürzte den billigen Whiskey in einem Zug hinunter. »Was erwartest du denn hier oben? Strahlenden Sonnenschein und eine leichte Brise? Wenn dir ein bisschen Wind Angst macht, dann hast du dir den falschen Posten ausgesucht, Schätzchen.«
Die dunkelhäutige Nina funkelte den älteren Kollegen vernichtend an. »Spiel dich nicht auf, Ronnie. Du weißt genauso gut wie ich, dass ein solcher Blizzard nicht normal ist.«
Simone musste unwillkürlich schmunzeln. Anscheinend vertrieb die Wut über Ronnies dämlichen Kommentar ihre Furcht. Für eine Sekunde argwöhnte sie, dass der alte Griesgram diese Bemerkung absichtlich gemacht hatte, um die Klimaforscherin von ihrer Angst abzulenken.
Andererseits wollte er sich vielleicht auch nur für den Korb revanchieren, den Nina dem zur Fettleibigkeit neigenden Ronnie vor Kurzem gegeben hatte. Wobei seine Körperfülle dabei weniger eine Rolle gespielt hatte als seine mangelnde Körperhygiene. Der Glaziologe verströmte einen abgestandenen, säuerlichen Schweißgeruch. Kinn und Wangen wurden von einem grau melierten Stoppelbart bedeckt, bei dessen Anblick es selbst Simone am gesamten Körper juckte und kratzte.
Das schüttere Haupthaar lag in fettigen Strähnen auf dem blanken Schädel.
Andrew dagegen war das glatte Gegenteil. Der Meteorologe war nicht schlank, aber sichtlich durchtrainierter als sein Geschlechtsgenosse. Das dunkelblonde Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Auf der Nase saß eine dicke Hornbrille. Er war umgänglich, harmoniebedürftig und ging Konflikten gerne aus dem Weg.
Eine Eigenschaft, die Simone manches Mal zur Weißglut trieb. Gottlob war sie nicht mit ihm verheiratet, obwohl sie bereits mehrfach das Bett miteinander geteilt hatten. Sehr zu Ronnies Verdruss, der auch bei ihr schon abgeblitzt war.
Vielleicht hätte es ihn ja beruhigt, wenn er gewusst hätte, dass der Sex mit Andrew völlig bedeutungslos für sie war. Doch nach sechs Monaten in der winterlichen Einöde im Norden Alaskas, zehn Meilen von Barrow entfernt, fiel es nicht schwer, die eigenen Ansprüche herunterzuschrauben.
Simone sehnte sich nach der Wärme eines anderen Körpers, der Zärtlichkeit von Berührungen. Ab und an Andrews Bedürfnisse zu befriedigen, erschien ihr dafür ein akzeptabler Preis zu sein.
»Streitet euch nicht«, rief er betont fröhlich, um die Stimmung zu heben. »Wer hat Lust auf eine Revanche?«
»Passe«, murmelte Simone, bevor jemand anderes überhaupt zu Wort kam. »Was mich betrifft, ruft das Bett.«
»Gute Idee«, sagte Andrew und warf ihr einen fast schon flehenden Blick zu, den sie geflissentlich ignorierte. Nicht heute, mein Junge.
»Sollten wir nicht besser nach Barrow fahren?«, fragte Nina unsicher. Dabei sah sie in erster Linie Simone an.
Die fünfundvierzigjährige Wissenschaftlerin schüttelte den Kopf. »So schlimm ist es auch wieder nicht. Zugegeben, dieser Blizzard ist heftig, aber ich bezweifele, dass wir in Barrow besser dran wären.«
»Mit Sicherheit nicht«, polterte Ronnie und schenkte sich nach. Anschließend hielt er Nina die Flasche entgegen. Für seine Verhältnisse kam diese Geste einer Entschuldigung gleich. »Hier trink, das beruhigt die Nerven. Und wenn unsere beiden Turteltauben keine Lust auf eine weitere Runde haben, spielen wir eben zu zweit weiter.«
Sein anzügliches Grinsen verriet, was er damit meinte. Beinahe hätte Simone geseufzt. Ronnie hatte ein unglaubliches Talent dafür, mit seinem breiten Hintern umzuwerfen, was er gerade mit den Händen mühsam aufgebaut hatte. Gleichzeitig amüsierte sie sich über Andrews Gesicht, das bei dem Begriff »Turteltauben« errötet war.
»Danke, ich denke, ich werde auch besser schlafen gehen.« Nina erhob sich und schob den Stuhl zurück.
Sie war dabei, sich aufzurichten, als sie mitten in der Bewegung verharrte. Der Grund dafür war simpel.
Das Heulen war wieder lauter geworden.
Allerdings ohne das Flackern des Lichts oder das Rütteln an Fenstern und Türen. Und es klang auch nicht so hohl und pfeifend wie zuvor, sondern langgezogen und klagend.
Schlagartig wurde es still im Raum. Nur Andrews iPod dudelte weiter.
Selbst Simone und ihre beiden Kollegen waren zu Standbildern aus Fleisch und Blut geworden. Andrew war gerade dabei gewesen, die Karten einzusammeln, während Ronnie noch immer die Whiskey-Pulle in die Höhe hielt. Simones Hände umklammerten die Tischkante. Ihre Finger krallten sich förmlich hinein, eine Gänsehaut rieselte ihr über den Rücken.
Sie suchte die Blicke ihrer Kollegen, doch nur der ihr gegenüber sitzende Andrews erwiderte ihn. Er brauchte kein Wort zu sagen, Simone wusste auch so, was er dachte.
Dieses Heulen wurde nicht vom Sturm erzeugt. Es stammte eindeutig von einem Tier.
Mühelos übertönte es das Pfeifen und Jaulen des Windes. Und ohne die Kreatur, die solch schauerliche Laute produzierte, gesehen zu haben, wussten die Forscher, dass sie riesig sein musste.
✰
Sekundenlang lauschten sie alle dem anhaltenden Heulen.
Niemand wagte, sich zu rühren, keiner sagte etwas, zu sehr schlugen die unheimlichen Laute sämtliche Anwesenden in den Bann.
Keiner von ihnen hatte in seinem Leben etwas Vergleichbares gehört.
Unvermittelt brach das Heulen ab. So abrupt, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ausgerechnet Nina Stroud war es, die sich zuerst rührte. Ächzend ließ sie sich zurück auf den Stuhl sinken.
»W...war das ein Wolf?«
Hart stellte Ronnie die Flasche auf den Tisch. »Quatsch. Hier oben gibt es keine Wölfe. Und selbst wenn, dann würden sie sich bei diesem Sturm bestimmt nicht aus ihren Verstecken trauen. Das war der Wind.«
Simone gluckste. »Das glaubst du doch selbst nicht.«
Ronnie wandte ruckartig den Kopf. »Hast du eine bessere Erklärung?«
»Vielleicht die Sirene aus Barrow«, vermutete Andrew.
»Nein«, sagte Nina, und ihre Stimme zitterte. »Das war nicht der Sturm. Und das war auch keine Sirene. Es war ein Tier. Ihr wisst das genauso gut, wie ich.«
»Und was für ein Tier soll das sein?«, fragte Ronnie. »Vielleicht ein Eisbär, der sich die Eier geklemmt hat?«
»Spar dir deine bescheuerten Witze«, zischte Simone. »Nina hat ...«
Abermals erklang das Heulen. Noch lauter, noch bedrohlicher als zuvor. Nina wurde aschfahl. Auch Andrew wich das Blut aus dem Gesicht, und selbst Ronnie wurde bleich wie ein Laken.
»Es kommt näher«, hauchte Nina.
Mit einer Geschmeidigkeit, die ihm Simone niemals zugetraut hätte, schraubte sich Ronnie auf die Beine und hastete zu einem der verhangenen Fenster. Er riss den Vorhang beiseite, doch dahinter kam nur eine beschlagene Scheibe zum Vorschein.
Selbst als er mit seinem Ärmel darüberwischte, verbesserte sich die Sicht kaum. Eine dünne Eisschicht bedeckte das Fenster von außen. Dennoch beugte er sich nach vorne und legte die Hände seitlich an den Kopf, um hinaus zu spähen.
In derselben Sekunde verstummte das Heulen erneut.
»Das hat doch keinen Zweck«, sagte Simone. »Selbst wenn da draußen etwas ist, wirst du es nicht entdecken.«
Ronnie reagierte nicht auf ihren Kommentar. Vielleicht war er beleidigt, aber wahrscheinlicher war, dass er selbst Angst hatte.
So wie Nina. »Ronnie, komm da weg.«
Andrew war die Situation ebenfalls nicht geheuer. »Ja, Ronnie. Wenn das wirklich ein Tier war, wird es möglicherweise durch das Licht angezogen.« Er tastete nach dem iPod und stellte ihn aus, als fürchtete er, dass die Musik den Wolf anlocken könnte.
Simone empfand die darauffolgende Stille als noch bedrückender. Langsam wurde ihr Ronnies Verhalten zu bunt. Der Kerl spielte ihnen doch einen Streich. Vermutlich wartete er bloß darauf, dass einer von ihnen zu ihm trat, damit er sich umdrehen und wie bekloppt losbrüllen konnte. Verdammter, Kindskopf.
»RONNIE!«, schrie Simone.
Und das Fenster explodierte!
✰
Die Geschehnisse spielten sich wie ein Film vor Simone ab.
Die Fensterscheibe zerplatzte, und Ronnie wurde zurückgeschleudert. Eis und Schnee fuhren zusammen mit klirrender Kälte in den geheizten Aufenthaltsraum der Forschungsstation.
Simone glaubte, für die Dauer eines Wimpernschlags einen massigen, dreieckigen Schädel in dem Schneegestöber zu erkennen, der sich jedoch genauso schnell wieder zurückzog, wie er aufgetaucht war. Zurück blieb ein klaffendes Loch in der Außenwand. Und Ronnie, dessen schwerer Körper vor dem Pokertisch zu Boden polterte und aus Simones Sichtfeld verschwand.
Das Letzte, was sie von ihm sah, war die rote Fontäne, die aus einem Krater sprühte, wo sich eigentlich sein Kopf hätte befinden müssen. Das Blut malte ein gesprenkeltes Muster auf die Platte und benetzte Ninas Gesicht. Die schien davon gar nichts mitzubekommen. Sie hielt den Kopf gesenkt und starrte auf ihre Füße, die in einer größer werdenden Blutlache standen.
Andrew war aufgesprungen. Sein Mund bewegte sich, ohne dass ein Laut hervorkam.
Erst da bemerkte Simone, dass auch sie vor dem umgestürzten Stuhl stand und nicht wusste, wo sie zuerst hinsehen sollte. Auf den vor dem Tisch liegenden Leichnam, auf Nina und Andrew oder auf das Loch in der Wand, durch das der schneidend kalte Wind fegte.
Simone hörte sich selbst mit den Zähnen klappern.
Andrew blieb stumm wie ein Fisch.
Und Nina fing an zu kreischen wie am Spieß.
Einen Atemzug später flog die Wand vollends auseinander. Ein riesiger mit zotteligem Pelz bewachsener Körper schob sich hindurch und versperrte Simone die Sicht auf Andrew. Der Tisch wurde mit solcher Wucht in die Höhe geschleudert, dass er über Nina hinweg segelte und gegen die Wand krachte.
Nina Stroud hob ruckartig den Kopf und starrte geradewegs in das aufgerissene Maul der Bestie, das sich blitzschnell drehte und sich um ihr Gesicht schloss.
Ihr hysterisches Geschrei endete in einem Knirschen und Platzen, als das Ungeheuer den Schädel von einer Seite auf die andere warf.
Also doch ein Eisbär, dachte Simone distanziert und reagierte, ohne groß darüber nachzudenken. Sie wirbelte herum, wollte in den Flur laufen, um eines der Gewehre aus dem Waffenschrank zu holen, als sie ein mörderischer Schlag von den Beinen holte.
Simone schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Im ersten Augenblick glaubte sie, ein Prankenhieb hätte sie getroffen, doch dann spürte sie das Gewicht eines weichen Körpers auf dem eigenen. Der Gestank nach Blut und rohem Fleisch raubte ihr den Atem. Eine warme, klebrige Flüssigkeit sprudelte ihr ins Gesicht, rann ihr über Nase, Mund und Kinn in den Ausschnitt.
Sie schmeckte das metallische Aroma auf der Zunge und starrte von Grauen gelähmt auf die kraterförmige Wunde zwischen Ninas Schultern.
Die Beine ihrer Kollegin zuckten, als wollte sie davonlaufen. Wie ein geköpftes Huhn, dachte Simone und giggelte.
Aus der Ferne vernahm sie das Brüllen des Untiers, in das sich Andrews panisches Kreischen mischte, das ebenso abrupt abbrach wie Ninas Schreie.
Der Bär zeichnete sich nur schemenhaft in dem Schneegestöber ab, doch die Sichtverhältnisse reichten aus, um zu erkennen, dass er ihr den Hinterleib zuwandte. Seine Rute peitschte aufgeregt hin und her. Simones Gedanken stockten. Eisbären hatten nicht solche Schwänze. Die passten eher zu einem Wolf. Doch welcher Wolf wurde so groß wie ein Pferd?
Simones Handlungen wurden allein von der Panik diktiert. Sie schleuderte Ninas inzwischen vollkommen erschlafften Körper zur Seite, wälzte sich herum und stemmte sich auf alle viere. Unbeholfen stolperte sie vorwärts. Sie kam nicht mal zwei Schritte weit.
Blut und der Schnee bildeten eine glitschige Schicht auf dem Boden, glatt wie Schmierseife.
Bäuchlings krachte Simone auf das Linoleum. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen. Eine eiskalte Klaue griff nach ihrem Herzen, ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie wusste, dass sie verloren war, noch bevor sich die Kiefer des Monsters um ihr Bein schlossen.
Simones Sicht verschwamm hinter einem Schleier aus Tränen, als sie brutal zurückgerissen wurde. Ein tonnenschweres Gewicht lastete mit einem Mal auf ihrem Rücken und erstickte ihre Schreie im Keim. Lediglich ein hohes Winseln wurde aus ihrem Mund gepresst. Sie spürte, wie ihre Wirbelsäule nachgab und das Gefühl aus ihren Beinen wich.
Den heißen, nach Blut und Fäulnis stinkenden Atem der Bestie fühlte sie dagegen weiterhin. Ebenso wie die zähnestarrenden Kiefer, die sich um ihren Schädel schlossen und sich knirschend in das Gebein gruben.
Ihre letzten Gedanken galten weder Andrew noch ihrem Mann in Topeka, Kansas. Das Letzte, was Simone Scott dachte, war: Bitte, lieber Gott, ich will nicht sterben.
Dann zerbarst ihre Welt in einer grellen Explosion aus Schmerz und blendendem Licht, gefolgt von endloser Schwärze.
✰
»Es war ein Gemetzel!«, rief mir Constance Bernard über das Dröhnen der einmotorigen Cessna hinweg zu. »So etwas habe ich noch nicht gesehen. Das Tier muss in einen regelrechten Blutrausch verfallen sein. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass ich an Werwölfe glaube, Mister Sinclair.«
Trotz der Geräuschkulisse konnte ich die Zweifel und den Frust aus ihrer Stimme deutlich heraushören. Meine Anwesenheit passte ihr nicht, und ich hatte durchaus Verständnis dafür. Hätte man mir eine Wildhüterin vor die Nase gesetzt, um in einem Mordfall zu ermitteln, bei dem die Sachlage eindeutig war, hätte ich wohl ebenfalls verschnupft reagiert.
Dass ich den weiten Weg von London nach Anchorage, Alaska, überhaupt auf mich genommen hatte, verdankte ich meinem Freund Abe Douglas.
Eine Tragödie dieses Ausmaßes hatte automatisch das FBI auf den Plan gerufen. Es kam immer wieder vor, dass Wanderer oder Jäger in Alaska von Bären oder Wölfen attackiert wurden. Dass sie jedoch in der Nähe einer Stadt zuschlugen und ein halbes Dutzend Menschen zerfetzten, fiel definitiv in die Kategorie außergewöhnlich.
In solchen Fällen wurde automatisch Abe Douglas informiert, der wiederum mich ins Boot geholt hatte. Lange hatte er mich nicht bitten müssen, um den nächsten Flieger nach Anchorage zu nehmen, wo mich Constance Bernard vom hiesigen Ranger Office in Empfang genommen hatte.
Bei mir weckten Bären- und Wolfsattacken ganz andere Assoziationen. Erschwerend kam hinzu, dass in Alaska, gar nicht mal weit vom Ort des Massakers entfernt, eine Kolonie existierte, die von Menschen besonderen Schlages bewohnt wurde.
Menschen, die sich in Wölfe und Bären verwandeln konnten!
Obwohl wir zuletzt Seite an Seite gegen Lykaon und seine Armee aus Werwölfen gekämpft hatten, stand ich den Mitgliedern der Enklave weiterhin skeptisch gegenüber. Zwar respektierte ich ihre Lebensweise und den Wunsch, ein friedliches Dasein im Einklang mit der Natur zu führen, doch ich hatte auch erleben müssen, dass nicht alle Werwölfe und Berserker diese Ansichten teilten.
Mir rieselte ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich daran dachte, dass einer der Bärenmenschen möglicherweise wieder Amok lief.
»Hören Sie, Miss Bernard. Ich bin nicht hier, um Ihren Job zu machen. Betrachten Sie mich lediglich als stillen Beobachter.«
Sie lächelte verkrampft. Leider konnte ich ihre Augen nicht erkennen, da sie hinter den Gläsern einer verspiegelten Sonnenbrille verborgen lagen. »Sie haben Glück, dass Sie nicht ›Berater‹ gesagt haben, sonst hätte ich sie auf der Stelle rausgeschmissen.«
Ich sah aus dem Fenster. Unter uns erstreckten sich die Wälder Zentralalaskas, deren Baumwipfel aus der schier endlosen Schneedecke ragten. Tief liegende Wolken verwehrten mir immer wieder die Sicht, doch ich wusste auch so, dass ich es besser nicht drauf ankommen lassen sollte.
»Gestatten Sie mir eine Frage«, bat ich nach einem kurzen Augenblick des Schweigens.
»Von mir aus.«
»Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber gibt es in Fairbanks keine Ranger?«
Constances Kopf ruckte herum, sodass mir angst und bange wurde. Sie hatte ein ausdruckstarkes Kinn und machte einen durchtrainierten Eindruck. Ich hob die Hand. »Tut mir leid, so war das nicht gemeint, aber es ist doch ungewöhnlich, dass für diesen Vorfall extra jemand aus Anchorage eingeflogen wird. Ich nehme nicht an, dass Sie nur meinetwegen mitfliegen.«
»Bilden Sie sich nur nichts ein«, erwiderte sie bissig. »Aber Sie haben recht, ich bin Spezialistin für Problembären.«
Ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und musterte sie prüfend. Für Sekundenbruchteile blitzen Bilder vor meinem geistigen Auge auf. Ein riesiger Bär, der sich brüllend auf mich stürzte. Blut spritzte aus seinem Pelz, als ihn mehrere Geschosse trafen. Abgefeuert von einer Frau in der Uniform eines Rangers.
»Was glotzen Sie denn so?«, pfiff mich Constance an. »Gehören Sie auch zu den Chauvis, die denken, dass eine Frau diesen Job nicht machen kann?«
»Nein, nein, keineswegs. Das ist es nicht ...«
»Hören Sie, ich war in Kaktovik, als dort ein Menschenfresser sein Unwesen trieb. Ein Hybrid aus Eisbär und Grizzly.«
»Was ist passiert?«
Sie schnaubte. »Normalerweise hätte ich gesagt, dass Sie mir das ohnehin nicht glauben werden, aber wenn sie sogar Werwölfe für real halten ...«
»Das tue ich nicht«, unterbrach ich sie trocken.
Jetzt war es Constance, die überrascht innehielt. »Ach was?«
»Ich halte Werwölfe nicht für real, ich weiß, dass es sie gibt.«
Die Rangerin winkte ab. »Wie auch immer, jedenfalls hat dieser Bär in Kaktovik mehrere Menschen umgebracht, darunter die Familie meines Lebensgefährten. Er hätte auch seine kleine Schwester getötet, wenn nicht ein zweiter Bär eingegriffen hätte.«