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Napoleon II. sprang mit einem Satz vom Behandlungstisch, froh darüber, die leidige Prozedur hinter sich zu haben. Es war ihm anzusehen, wie wenig er von derartigen Untersuchungen hielt. Zielsicher landete er auf Rosys Rücken, über den er in Windeseile hinweg rannte, um mit angelegten Ohren und gesenktem Schwanz in der Transportbox zu verschwinden, die sie eben hatte hochheben wollen.
"He, man kann es auch übertreiben", rief die junge Frau erschreckt und schloss die Käfigtür mit einem missmutigen Kopfschütteln.
Carlotta grinste. "Und dabei war das nur ne Impfung."
"Gott sei Dank", murmelte Rosy. Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte ihre Freundin prüfend. "Wie geht es dir?"
"Mir?" Carlotta machte ein erstauntes Gesicht. "Bestens. Nein, ehrlich mir geht’s gut."
"Du warst schon immer eine schlechte Lügnerin."
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Seitenzahl: 168
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Rendezvous mit dem Dämon
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Rendezvous mit dem Dämon
von Ian Rolf Hill
Napoleon II. sprang mit einem Satz vom Behandlungstisch, froh darüber, die leidige Prozedur hinter sich zu haben. Es war ihm anzusehen, wie wenig er von derartigen Untersuchungen hielt. Zielsicher landete er auf Rosys Rücken, über den er in Windeseile hinweg rannte, um mit angelegten Ohren und gesenktem Schwanz in der Transportbox zu verschwinden, die sie eben hatte hochheben wollen.
»He, man kann es auch übertreiben«, rief die junge Frau erschreckt und schloss die Käfigtür mit einem missmutigen Kopfschütteln.
Carlotta grinste. »Und dabei war das nur ne Impfung.«
»Gott sei Dank«, murmelte Rosy. Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte ihre Freundin prüfend. »Wie geht es dir?«
»Mir?« Carlotta machte ein erstauntes Gesicht. »Bestens. Nein, ehrlich mir geht's gut.«
»Du warst schon immer eine schlechte Lügnerin.«
Die Schwingen der Angesprochenen zuckten. Für einen Moment sah es so aus, als wollte Carlotta sie ausbreiten, um mit kräftigem Flügelschlag davon zu flattern. Weit wäre sie allerdings nicht gekommen. Knapp ein Yard über ihr hätte die Decke des Behandlungsraumes für ein abruptes Ende der Flucht gesorgt. Der einzige Ausweg war die Tür, und davor stand ihre beste Freundin Rosy Mills und hatte die Arme in die Hüften gestützt.
Nein, aus der Nummer kam sie nicht heraus. Aber wozu auch? Vor Rosy brauchte sie sich nicht zu verstecken und erst recht nicht zu schauspielern. Letzteres war sowieso zum Scheitern verurteilt, wie diese eben wieder unter Beweis gestellt hatte. Dafür kannten sie sich schon viel zu lange.
Rosy war die erste Person gewesen, der sie sich offenbart hatte, kurz nachdem sie aus dem Labor von Professor Elax entkommen war. Und sie hatte auch die Idee gehabt, Maxine Wells über Carlottas Existenz ins Vertrauen zu ziehen.* Um zu sehen, was daraus geworden war, brauchte sich das Vogelmädchen nur umzublicken. Die Tierärztin hatte sie adoptiert und war in all den Jahren zu ihrer wichtigsten Bezugsperson geworden. Mehr noch, Max war ihre Ziehmutter!
Und genau da lag das Problem, denn so eng und vertrauensvoll ihre Beziehung auch sein mochte, es gab Dinge, die besprach ein Teenager eben nicht so gerne mit seiner Mutter. Selbst wenn dieser Teenager schon längst erwachsen war und sich mit gewaltigen Schritten der großen Zwei näherte. Oder besser gesagt mit riesigen Flügelschlägen.
»Es ist nichts!«
»Komm schon, Carlotta! Mir kannst du es sagen. Ich weiß, dass ich mich in letzter Zeit rargemacht habe, und es tut mir echt leid. Aber du bist noch immer meine besten Freundin. Wir konnten immer über alles sprechen. Also bitte: Sprich mit mir!«
Carlotta seufzte und drehte sich um. Sie griff nach dem Spender mit den Desinfektionstüchern und zupfte zwei heraus, um den Behandlungstisch zu reinigen. Die Zeit nutzte sie zum Nachdenken.
Natürlich hatte Rosy grundsätzlich recht, auch wenn ihre Aussage nicht vollkommen der Wahrheit entsprach. Zumindest was Carlotta betraf, denn die hatte im Laufe der Jahre Dinge erlebt, die sie selbst ihrer besten Freundin nicht zumuten wollte und konnte.
Es war eine Sache, sich mit einem geflügelten Menschen abzufinden, vor allem, wenn dieser das Ergebnis eines genetischen Experiments war. Etwas vollkommen anderes war es jedoch, sich mit der Existenz von Untoten, Werwölfen und Dämonen auseinanderzusetzen.
Bislang war es Carlotta gelungen, ihre Freundin vor der Wahrheit zu beschützen. Das Schlimmste, was Rosy in ihrem jungen Leben durchgemacht hatte, war der Angriff des Killers Babur gewesen, der Napoleon I. auf dem Gewissen hatte. Das war schon tragisch genug, wenn auch nichts im Vergleich zu dem, was Carlotta in den folgenden Jahren erlebt hatte.
Es war keineswegs so, als wäre es nur Rosys Schuld, dass sie sich eine Zeit lang nur selten gesehen hatten. Aber der Wert einer Freundschaft zeigte sich nun mal nicht in der Häufigkeit, mit der man sich traf. Es war eine Frage des Vertrauens.
»Nun? Ich warte ...«
Carlotta betrachtete ihr schemenhaftes Spiegelbild auf der verchromten Oberfläche des Behandlungstisches. »Ich muss raus hier, Rosy!«
Die warf einen Blick über die Schulter zurück zur Tür. Carlotta verdrehte die Augen. »So meine ich das nicht.«
Rosy lächelte schmal. »Ich weiß, aber wo ist das Problem? Du machst doch regelmäßig Ausflüge.« Das letzte Wort setzte sie in imaginäre Gänsefüßchen.
»Genau das ist es ja«, rief Carlotta. »Wenn andere auf Partys oder in Clubs abhängen oder sich verabreden, segle ich über irgendwelche Wälder oder den Firth of Tay hinweg.« Und um ihr Dilemma noch deutlicher zu machen, fügte sie hinzu: »Allein.«
Ihre Freundin senkte den Blick. »Verstehe«, murmelte sie.
»Da bin ich mir nicht so sicher.« Carlotta drehte sich zur Seite und warf die feuchten Tücher in den Abfalleimer. »Du kannst gar nicht wissen, wie das ist, tagein tagaus eingesperrt zu sein und jedes Mal, wenn man ins Freie geht, so tun zu müssen, als ob man was Verbotenes anstellt. Und bitte ...«, sie hob die Hand, »fang du nicht auch noch damit an, dass dies alles zu meinem Besten wäre.«
Rosy hatte den Mund schon geöffnet, um zu antworten, klappte ihn jetzt aber wieder zu. Ein Zeichen, dass Carlotta mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. Sie konnte sehen, wie es in ihrer Freundin arbeitete, die sich schließlich einen Ruck gab.
»Aber du hast doch gerade erst deine Zulassung für das Fernstudium bekommen und triffst fast jeden Tag andere Leute.«
»Ja.« Carlotta schnaubte. »Patienten. Beziehungsweise ihre Frauchen und Herrchen, die es ganz toll finden, dass Maxine das bucklige Mädchen aufgenommen und ihm eine zweite Chance gegeben hat.« Ihre Kehle schnürte sich langsam zu. »Scheiße, wenn ich für jeden mitleidigen Blick einen Pence bekommen würde, könnte ich mir schon ein eigenes Haus kaufen.«
»Na ja, immer noch besser, als wenn sie die Wahrheit wüssten, oder?«
»Mag sein, aber das macht die Sache nur schlimmer. Ich werde mit Mitleid überschüttet, das ich nicht verdient habe. Ich bin stärker und schneller als die meisten anderen Menschen und kann sogar aus eigener Kraft fliegen, muss aber so tun, als wäre ich ein verkrüppeltes Mädchen, das sich aus Scham verbirgt.«
»Hm«, machte Rosy nur. Sie wirkte verlegen und hilflos.
»Hör zu, ich will dir nichts vorjammern. Das steht mir auch gar nicht zu. Es gibt Millionen andere, denen es, weiß Gott, schlechter geht als mir. Ich bin gesund, habe ein Dach über dem Kopf und kann studieren. Ich darf sogar kleinere Untersuchungen machen und Impfungen vornehmen.« Sie deutete mit dem Kinn auf die Transportbox, in der sich Napoleon II. zusammengerollt hatte. »Trotzdem sehne auch ich mich manchmal nach einem ganz normalen Leben.«
Carlotta musste plötzlich mit den Tränen kämpfen. Es war nicht das erste Mal in den letzten Wochen und Monaten, dass sie mit ihrem Schicksal haderte. Seit sie in dem Coaching-Center HAPPY SPIRIT mit ihrer Vergangenheit konfrontiert worden war und den Zwerg getötet hatte, der drauf und dran gewesen war, Maxine zu vergewaltigen.*
Es war, als wäre ihr an diesem Tag erst richtig bewusst geworden, dass sie niemals ein normales Leben würde führen können. Sie würde immer ein Freak, eine Ausgestoßene, bleiben.
»Ich hab's!« Rosy Mills schnippte mit den Fingern.
Irritiert hob Carlotta den Kopf. »Du hast was?«
»Die Lösung.« Sie strahlte über das ganze Gesicht. Dann hob sie die Hände und spreizte Daumen und Zeigefinger ab, als wären es Pistolen, deren Läufe sie auf Carlottas Brust richtete. »Du. Kommst. Mit.« Sie drehte die Hände, um auf sich zu zielen. »Mir. Zur ...« Sie riss die Arme in die Höhe. »Comic-Con!«
»Du bist verrückt!«, platzte es aus Carlotta hervor.
»Ich meine es todernst.« Sie lief um den Behandlungstisch herum und griff nach Carlottas Händen. »Das wird der Hammer! Wieso bin ich nicht schon viel früher darauf gekommen?«
»Vielleicht weil du genau weißt, dass ich mich dort unmöglich blicken lassen kann?«
»Aber genau darum geht es ja.« Rosys sprühte förmlich vor Enthusiasmus. »Es gibt wohl keinen Ort, an dem du dich freier in der Öffentlichkeit bewegen kannst. Dort wimmelt es geradezu von Cosplayern.«
Carlotta blieb skeptisch. »Du willst, dass ich mich verkleide?«
»Quatsch, Dummerchen. Du bist doch schon längst verkleidet.« Sie stellte sich neben ihre Freundin und legte ihr den linken Arm um die Schultern. »Wir müssen nur noch ein paar passende Klamotten für dich finden, ein wenig Make-up auftragen und tadaaa!« Rosy malte mit der freien Hand einen Bogen in die Luft. »Die geilste Zeit unseres Lebens!«
Die Tür öffnete sich, und Maxine stand im Rahmen. Sie sah die beiden Mädchen nebeneinander stehen und zog die Brauen zusammen. »Na prima, dass ihr auch mal endlich fertig seid. Sei mir nicht böse, Rosy, aber wir haben noch andere Patienten. Carlotta, zieh dir bitte was über.« Und damit schloss sie die Tür hinter sich.
»Ja, Miss Wells«, rief Rosy, doch Maxine hörte sie längst nicht mehr. »Viel zu tun, wie?«, fragte das Mädchen und hob die Box mit Napoleon II. an. »Na komm schon, Dickerchen. Zu Hause wartet eine Dose Thunfisch mit deinem Namen drauf.«
Der Kater maunzte voller Vorfreude. Rosy legte die Hand auf die Klinke und drehte sich noch einmal zu Carlotta um. »Überleg dir's. Aber lass dir nicht allzu viel Zeit. Die Con ist schon nächsten Monat.«
»Ich lass es mir durch den Kopf gehen«, versprach Carlotta, während sie den Kittel überzog, der ihre Flügel verbarg.
»Tu das, ich würde mich echt freuen. Denk dran: die geilste Zeit unseres Lebens!«
»Du willst was? Sag mal, hast du Sie noch alle beisammen?«
Maxine hielt in der Bewegung inne. Sie war dabei gewesen, den Tisch für das Abendessen zu decken, als Carlotta ihr von der Idee mit der Comic-Con erzählte, was diese umgehend bereute. Sie hätte sich denken können, dass Max nicht gerade begeistert reagierte.
»Was soll denn schon passieren?«, fragte sie und rührte den Reis um, den es zum Curry geben sollte. Da ein gewisser Geisterjäger nicht zu Gast war, verzichteten die beiden Frauen auf das Hühnchen.
»Was passieren soll? Muss ich dir das wirklich erklären?« Ein Ruck ging durch Maxines Gestalt. Heftiger als nötig stellte sie die Teller auf den Tisch und drehte sich zu der Salatschüssel um.
»Max, dort sind alle verkleidet.« Carlotta nahm den Topf mit dem Reis vom Herd und schaltete die Heizspirale ab. »Na ja, fast alle. Ich werde wahrscheinlich noch die Normalste dort sein.«
»Nein, wirst du nicht«, entgegnete Maxine. »Weil du nämlich gar nicht erst dort hingehen wirst.«
»Ach, und warum nicht?« Carlotta klang wütend und enttäuscht.
Die Tierärztin richtete sich auf und ließ die Schultern hängen. »Dort laufen massenweise Leute herum, die wahrscheinlich auch Fotos mit dir machen wollen oder sogar Selfies.«
»Ja, kann sein«, rief Carlotta. »Na und, was ist denn schon dabei?« Sie rammte den Löffel in den Reis, um ihn mit hektischen Bewegungen auf die Teller zu verteilen.
»Was schon dabei sein soll? Was, wenn jemand herausfindet, dass deine Flügel keine Attrappen sind, sondern echt?«
»Wie sollte das jemand herausfinden?«
»Weil er neugierig ist und wissen will, wie du das gemacht hast.«
»Dann sage ich, dass das mein Geheimnis sei.«
»Und wenn irgendwelche Leute versuchen, an den Flügeln zu ziehen?«
Carlotta stellte den halbleeren Topf zurück auf den Herd und schnappte sich den mit dem Curry. »Dann werde ich ihn bitten, dass er das bleiben lassen soll.«
»Und wenn er nicht damit aufhört?«
»Dann knall ich ihm eine.« Demonstrativ rammte sie den Kochtopf auf den Untersetzer aus Kork.
»Eben genau das befürchte ich ja. Dass die Situation eskalieren könnte und du in Schwierigkeiten gerätst.«
»Max, das war ein Witz.«
»Seh ich so aus, als würde ich lachen?« Sie ließ sich auf den Stuhl sinken. »Carlotta ich versuche doch nur, dich zu beschützen.«
»Wenn ich mich recht entsinne, war ich es, die dir im Coaching-Center den Arsch gerettet hat. Und nicht nur dir, wie ich anmerken möchte. Vielleicht akzeptierst du mal langsam, dass ich kein kleines Kind mehr bin.«
»Nein, das bist du wahrhaftig nicht«, murmelte Maxine und blickte zu ihrer Ziehtochter auf, die sich den Teller der Tierärztin nahm und das Curry mit der Suppenkelle über den Reis verteilte.
»Ist es denn so schwer zu begreifen, dass ich ein normales Leben führen möchte?«
Sie stellte den Teller vor Max ab und griff nach ihrem eigenen. Carlottas Portion war unverhältnismäßig größer. Maxine konnte jedes Mal nur staunen, wenn sie sah, was für Mengen ihre Tochter verdrückte, ohne auch nur ein Gramm Fett anzusetzen. Ihr Grundumsatz war enorm. Selbst wenn sie nicht flog, verbrauchte ihr Stoffwechsel Unmengen an Kalorien.
»Aber du bist nun mal nicht normal«, sagte Maxine so sanft wie möglich und legte ihr die Hand auf den Unterarm.
Carlotta ließ die Suppenkelle fallen, als wäre sie glühend heiß geworden. Maxine fürchtete, dass der Teller das gleiche Schicksal erleiden könnte, doch ihre Sorge war unbegründet. Zumindest was ihr Geschirr und das Essen betraf. Nicht jedoch, was ihre Ziehtochter anging, deren Gesichtszüge entgleisten.
»Danke, dass du mich daran erinnerst.«
»Hey, so war das doch gar nicht gemeint.«
»Ach nein? Wie denn dann?«, rief Carlotta mit schriller Stimme. So schrill, dass es Maxine in den Ohren schmerzte.
Das lag an Carlottas Syrinx, dem Stimmkopf, der durch die genetischen Veränderungen, dem eines Vogels glich. Normalerweise sprach Carlotta wie ein gewöhnlicher Mensch, sobald sie jedoch erregt war, verlor sie bisweilen die Kontrolle, sodass der Klang ihrer Stimme einige Oktaven höher wurde.
»Du bist eben etwas Besonderes.«
»Oh bitte«, zischte Carlotta und mit einem Schlag entfaltete sie die Flügel, die so gewaltig waren, dass sie sie nicht mal komplett ausbreiten konnte.
Auf einer Seite stießen sie gegen die Tür, auf der anderen ragten sie unter den Hängeschrank, unter dem mehrere Tassen an Haken baumelten und jetzt leise aneinander klapperten. »Wenn ich etwas so Besonderes bin, wieso darf ich es nicht zeigen? Kein Mensch wird auch nur einen Gedanken daran verschwenden, dass diese Flügel echt sein könnten.«
Maxine atmete tief durch. Langsam wurde sie ebenfalls sauer. Carlotta wollte wie eine Erwachsene behandelt werden, schön. Aber dann sollte sie sich auch entsprechend verhalten und sich nicht aufführen wie ein bockiger Teenager.
»Carlotta, wir haben Feinde!«
»Ja, genau. Die wahrscheinlich nur darauf warten, dass ich auf eine Comic-Con gehe, statt mir nachts aufzulauern, wenn ich alleine über das Meer oder einen finsteren Wald hinwegfliege.« Sie faltete ihre Flügel zusammen, schnappte sich den Teller und ging auf den Durchgang zum Flur zu.
»Wo willst du hin?«
»Dorthin, wo Tiere nun mal hingehören: In den Stall!« Neben dem Kühlschrank blieb sie stehen, riss ihn auf und schnappte sich eine Coladose, die sie im Muff ihres Hoodies verschwinden ließ.
Maxine sprang auf und wirbelte herum. »Du bist kein Tier«, rief sie. »Das habe ich nie gesagt.«
»Nein«, antwortete Carlotta theatralisch. Ihre Augen, in denen es plötzlich feucht schimmerte, weiteten sich. »Ich bin etwas Besonderes.« Ihr Gesicht verzog sich vor Abscheu. »Einen Scheiß bin ich. Weißt du, was ich wirklich bin?«
»Carlotta!«
»Ein Freak!«, schrie sie. »Ein verschissener Freak. Seht alle her! Hier ist das Vogelmädchen, halb Mensch, halb Tier! Du hast recht, die Comic-Con ist eine beschissene Idee. Warum machen wir nicht einfach eine Freakshow auf und verlangen Eintritt? Ich könnte sogar Rundflüge für Kinder anbieten, dann wäre ich endlich zu was nütze.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie auf dem Absatz herum und stapfte aus der Küche. Im Hinausgehen spreizte sie die rechte Schwinge ab und drosch damit die Kühlschranktür zu, dass die Gläser und Flaschen in der Tür nur so schepperten.
Im ersten Impuls wollte Maxine hinterherlaufen, um ihr sprichwörtlich den Kopf zu waschen, besann sich jedoch rasch eines Besseren. Es war nicht der erste Streit, den sie hatten, aber in letzter Zeit häuften sie sich leider. Und dabei hatte Max gehofft, dass sie diese Phase überwunden hatten.
Um ehrlich zu sein hatte sich die Tierärztin schon gewundert, wie glimpflich Carlottas Pubertät verlaufen war. Ein Irrtum, wie sich jetzt herausstellte.
Möglicherweise hingen Carlottas Verhalten und ihre verzögerte Pubertät ebenfalls mit der genetischen Optimierung zusammen. Auch ihr Hormonsystem funktionierte anders als das gewöhnlicher Menschen.
Doch was auch immer der Grund für ihre Reizbarkeit und Launenhaftigkeit sein mochte, es half Maxine momentan herzlich wenig. Erschöpft ließ sie sich zurück auf den Stuhl sinken und presste sich die Handballen gegen die Augen. Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen. Max hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als einen ruhigen Abend zu verbringen.
Sie hätte sogar lieber gegen eine Meute Zombies oder einen Werwolf gekämpft, als mit einem zornigen Teenager zu diskutieren.
»Ist das zu fassen? Behandelt mich, als ob ich noch ein Küken wäre.« Carlotta wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen.
Sie war natürlich nicht in den Stall beziehungsweise ins Außengehege gegangen, in dem die Wildtiere untergebracht waren, die sie und Maxine aufpäppelten, sondern schnurstracks in ihr Zimmer.
Mechanisch hatte sie das Curry heruntergeschlungen, ohne sich dessen bewusst zu sein, und starrte nun frustriert auf den leeren Teller. Sie war nicht nur wütend auf Maxine, sondern mehr auf sich selbst, weil sie sich so hatte gehen lassen. Das hatte Max nicht verdient, aber verflixt noch mal, sie war auch nur ein Mensch. Trotz des gewaltigen Flügelpaars, auf dem sie gerade fläzte.
Das Tablet hatte sie gegen ihre angezogenen Beine gelehnt, um während des Essens eine Folge ihrer derzeitigen Lieblingsserie »The Queen's Gambit« zu gucken, von der sie genauso wenig mitbekommen hatte wie von dem Curry. Carlotta stellte den leer gegessenen Teller neben das Bett auf den Teppich und erinnerte sich an die Cola, die noch immer im Muff des Kapuzenpullovers steckte.
Sie zog die Dose hervor, öffnete die Lasche und leerte sie in drei gierigen Zügen. Anschließend zerquetschte sie die Aluminiumdose zu einem handlichen Ball und warf ihn, ohne zu gucken, in den Mülleimer. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass für einige Tiere gleich Fütterungszeit war. Das war ihr Job, also konnte sie ihn auch genauso gut jetzt erledigen.
Carlotta stand auf, verspürte einen wachsenden Druck im Magen und beeilte sich, rechtzeitig die Tür zu öffnen, bevor sie sich lauthals rülpsend auf den Weg zum Gehege machte.
Auch wenn es ihr leidtat, hieß das noch lange nicht, dass Maxine recht und sie unrecht hatte. Sie konnte gut auf sich selbst aufpassen, das hatte sie nun wirklich schon oft genug unter Beweis gestellt. Wieso machte Max also ausgerechnet jetzt so einen Aufstand?
Die Comic-Con war in Edinburgh und schließlich nicht in Aibon, obwohl das einigen Cosplayern bestimmt gefallen würde. Zumindest so lange bis sie von irgendwelchen Trollen gefressen wurden.
Carlotta mischte für die Eichhörnchen Welpenmilch mit Fencheltee und erwärmte die Mischung in einem Flaschenwärmer. Anschließend holte sie die Tupperdose mit den toten Mäusen für die Eule aus dem Kühlschrank. Dabei dachte sie über Rosy nach. Es war schön gewesen, ihre Freundin mal wieder zu sehen. Jetzt wo sie selbst in Edinburgh studierte, war sie nur an den Wochenenden zu Hause in Dundee, wodurch sich die Mädchen noch weniger sahen als vorher.
Schon als Rosy ihren ersten Freund gehabt hatte, hatten sie sich seltener getroffen. Aber auch Carlotta hatte sich nicht über Langeweile beschweren können. Allerdings aus gänzlich anderen Gründen, denn irgendwie schaffte sie es immer wieder, in Fälle hineinzustolpern, die mit dem gesunden Menschenverstand nicht oder nur schwer zu erklären waren.
Nicht auszudenken, wenn Rosy etwas passierte. Carlotta würde sich ein Leben lang Vorwürfe machen. Das Vogelmädchen stutzte, als es die Parallele zu seiner eigenen Situation erkannte. So wie Maxine sie bevormundete, hatte Carlotta ihrerseits die Entscheidung gefällt, Rosy über die Existenz von Geistern, Zombies und Dämonen im Unklaren zu lassen. Um sie zu beschützen!
Mit einem leisen Pling signalisierte der Flaschenwärmer, dass die Milch die richtige Temperatur besaß. Carlotta schüttelte wütend den Kopf. »Was für ein Quatsch. Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, dass mir irgendjemand aus Versehen einen Milchshake über die Flügel schüttet. Und wenn ein Cosplayer durchdreht, versucht er wenigstens nicht, mir das Blut auszusaugen.«
Kurzentschlossen holte Carlotta ihr Smartphone hervor und steckte sich das Bluetooth-Headset ans Ohr. Dann wählte sie Rosys Nummer und ging mit dem Milchfläschchen zuerst zu dem Käfig mit den Eichhörnchen-Jungen. Während sie darauf wartete, dass ihre beste Freundin abhob, nahm sie aus einem der Hängeschränke im Behandlungszimmer eine Einwegspritze.
»Hey, hast du es ihr überlegt?«
»Hm«, machte Carlotta, schraubte den Deckel von der Milchflasche und zog die Spitze auf. »Gesetzt den Fall, es wäre so. Als was soll ich denn gehen?«
»Ha, darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht. Du bist Shana.«