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Influencer schießen wie Pilze aus dem Boden!
Zu Tausenden tummeln sie sich in den sozialen Netzwerken, auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Followern. In der Hoffnung auf einen Big Deal mit einem Konzern oder Wirtschaftsgiganten, der ihre Obsessionen finanziert, indem sie Werbung für ihn machen.
Vor allem für Kinder und Jugendliche sind Influencer oftmals Idole, denen sie nacheifern.
Bislang hatte ich mit diesem Phänomen der Neuzeit nichts am Hut gehabt. Das änderte sich jedoch rasch, als ich Vicky Starr kennenlernte, und erkennen musste, mit wem ich es letztendlich zu tun bekommen würde ...
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Seitenzahl: 171
Cover
Alle lieben Vicky Starr
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Alle lieben Vicky Starr
von Ian Rolf Hill
Influencer schießen wie Pilze aus dem Boden!
Zu Tausenden tummeln sie sich in den sozialen Netzwerken, auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Followern. In der Hoffnung auf einen Big Deal mit einem Konzern oder Wirtschaftsgiganten, der ihre Obsessionen finanziert, indem sie Werbung für ihn machen.
Vor allem für Kinder und Jugendliche sind Influencer oftmals Idole, denen sie nacheifern.
Bislang hatte ich mit diesem Phänomen der Neuzeit nichts am Hut gehabt. Das änderte sich jedoch rasch, als ich Vicky Starr kennenlernte, und erkennen musste, mit wem ich es letztendlich zu tun bekommen würde ...
»Oh mein Gott, ich habe gewonnen!«, flüsterte Christine Watkins ungläubig. »Jenny, ich habe wirklich gewonnen!«
Der Studentin traten die Augen so weit aus den Höhlen, dass ihre Kommilitonin befürchtete, sie könnten jeden Moment herausfallen. Jennifer bemühte sich darum, ihre Gefühle nicht allzu offen zur Schau zu stellen, doch die geradezu infantile Begeisterung, die Christine an den Tag legte, fing zunehmend an zu nerven. Insbesondere, weil es praktisch unmöglich war, drei zusammenhängende Sätze mit ihr zu wechseln, ohne dass sie auf ihr Handy sah.
»Ich dachte, wir wollten lernen.«
»Ich habe gewonnen«, hauchte Christine. Ihr Tonfall verriet Jennifer, dass ihre Kommilitonin den Einwand gar nicht mitbekommen hatte.
Jenny seufzte leise, sie würde so oder so nicht um das Gespräch herumkommen, also konnte sie es genauso gut hinter sich bringen. »Na schön«, sagte sie und warf den Bleistift auf das aufgeschlagene Heft. »Was hast du gewonnen?«
Christine antwortete, ohne den Kopf zu heben, ihr Blick klebte förmlich am Display, das sie gleichzeitig mit beiden Daumen bearbeitete, als ginge es um ihr Leben. »Ich darf zusammen mit Vicky Starr ein Video machen. Ist das nicht genial?«
Nein, fand Jenny absolut nicht, trotzdem lächelte sie und sagte: »Hey, klasse. Herzlichen Glückwunsch.«
Natürlich kannte sie Vicky Starr. Wer tat das nicht? Die Influencerin hatte sich innerhalb weniger Wochen zu einem der bekanntesten Gesichter der Szene gemausert, zumindest im Vereinigten Königreich. Mittlerweile folgten ihr einige hunderttausend Follower, und täglich wurden es mehr.
Manche glaubten fest daran, dass sie noch vor Ablauf der Jahresfrist die Eine-Million-Marke knacken würde.
Der absolute Wahnsinn.
Besonders die Kids und Jugendlichen fuhren auf Vicky Starrs Beauty- und Lifestyle-Tipps ab. Und sie machte ihren Job wirklich gut, das musste Jennifer neidlos anerkennen. Christine Watkins jedoch verehrte das Mädel geradezu, das kaum älter als die Studentin sein konnte, die schon fast außerhalb von Starrs Zielgruppe war.
Das Besondere an der Influencerin war, dass sie jeden Monat ein persönliches Treffen verloste, bei dem sie zusammen mit der glücklichen Gewinnerin – achtzig Prozent von Vickys Followern waren weiblichen Geschlechts – ein Video drehte. Natürlich mit dem entsprechenden Product-Placement.
Jennifer blies die Wangen auf und ließ die Luft langsam entweichen. Sie ahnte, dass sie die restlichen Einheiten allein würde durchgehen müssen. Nichtsdestotrotz versuchte sie, Christine zurück in die Realität zu holen.
»Können wir uns jetzt wieder auf den Stoff konzentrieren? Das Zeug lernt sich nicht von selbst, weißt du? Und deine letzten Noten waren nicht gerade der Burner.«
»Sorry, Jenn.« Christine hob abwehrend die Hand und spreizte die Finger, wobei sie die Stirn in Falten legte und die Augen aufriss. »Aber ich kann mich jetzt unmöglich auf BWL konzentrieren.«
»Ich wette, Vicky kennt sich mit BWL aus.«
»Dann kann sie mir ja noch was beibringen!«
»Wenn es mal so wäre«, murmelte Jennifer, die keine Sekunde daran glaubte, dass Vicky Starr Ahnung von Betriebswirtschaftslehre hatte. Aber sie sah nun mal gut aus und hatte ein Händchen dafür, sich entsprechend zu präsentieren.
Ihre Kritiker behaupteten, sie sei eine Kunstfigur. Eine von bestimmten Algorithmen erschaffene Person, deren Identität auf einer cleveren Marketing-Kampagne beruhte. Ganz so weit wollte Jennifer dann doch nicht gehen, auch wenn sie diese Möglichkeit nicht vollkommen ausschloss.
»Wann ist es denn so weit?«
Christine stopfte ihre Sachen in die Tasche und erhob sich. »Schon in einer Woche. Und ich habe keine Ahnung, was ich anziehen soll.«
Jenny schüttelte den Kopf. »Deine Probleme möchte ich haben.«
Jennifers Befürchtungen, dass mit Christine in den folgenden Tagen nichts anzufangen sei, wurden von der Wirklichkeit noch weit übertroffen. Obwohl ihre Zimmer auf demselben Flur des Studentenwohnheims lagen, bekam Jenny ihre Freundin kaum zu Gesicht.
Unter anderen Umständen hätte sie das sehr bedauert. Sie mochte Christine, auch wenn sie sich nicht eingestehen wollte, dass ihre Zuneigung bereits weit über ein kameradschaftliches Verhältnis hinausging.
Trotzdem konnte sie es kaum erwarten, bis der langersehnte Traum ihrer Freundin endlich in Erfüllung ging. Dabei spielte die Erwartung, dass ihre Kommilitonin sich anschließend wieder ihrem Studium widmete weniger eine Rolle, als die leise Hoffnung, dass Christines Besessenheit bezüglich Vicky Starr etwas abflaute, sobald sie erst einmal einen Blick hinter die Kulissen geworfen hatte.
Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand von einer prominenten Person enttäuscht wurde, weil diese in natura absolut nicht den Erwartungen entsprach. Fans interpretierten gerne mehr in ihre Idole hinein, als letztendlich vorhanden war.
Jennifer saß mit überkreuzten Beinen auf ihrer abgewetzten Couch und zog sich die neuesten Folgen ihrer Lieblingsserie rein. Auf den Knien balancierte sie einen Teller mit aufgebackenen Käsebaguettes. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie verstohlen auf ihr Smartphone sah, in der Hoffnung, Christine würde sich bei ihr melden.
Selbst auf Vickys Instagram-Account tat sich nichts. Doch damit hatte Jennifer auch nicht gerechnet. Sie wusste, dass die Influencerin zwar durchaus Live-Videos drehte, allerdings nicht, wenn jemand Unbekanntes dabei war. Und Christine war nun mal kein Profi, ganz gleich, was sie behauptete.
Jenny war sicher, dass sich Christine meldete, sobald sie von ihrem Treffen mit Vicky zurückkehrte. Sie kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, dass diese es kaum aushalten konnte, ihrer Kommilitonin die Aufnahmesession in allen Einzelheiten zu schildern.
Jennifer hatte keine Ahnung, wie lange so ein Dreh dauerte, konnte sich aber nicht vorstellen, dass es mehr als ein paar Stunden waren. Vickys Videos waren selten länger als zwanzig oder dreißig Minuten. Und die wenigsten Promis verbrachten mehr Zeit als unbedingt nötig mit ihren Fans. Die meisten taten dies ohnehin bloß aus reiner Notwendigkeit, weil es Teil ihres öffentlichen Lebens war. So sah es zumindest Jenny.
Insgeheim hatte sie ihrer Freundin zwei Stunden gegeben. Zweieinhalb, wenn sie den Hin- und Rückweg mit einrechnete. Zuerst ein wenig Smalltalk, um die Stimmung aufzulockern und das Eis zu brechen. Anschließend etwas Make-up, dann ein paar Probeaufnahmen und schließlich ging es ans Eingemachte. Vielleicht musste Christine noch einen Vertrag oder eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben, doch das war nicht mehr als eine Formalität und eine Sache weniger Minuten.
Natürlich konnte immer etwas dazwischenkommen. Technische Defekte, Probleme mit der Aufnahme, et cetera. Daher machte sich Jennifer auch drei Stunden später noch keine Sorgen, erst nach vier wurde sie unruhig.
So wie sie ihre Freundin kannte, würde die es bestimmt nicht abwarten können, Jenny zumindest eine kurze Sprachnachricht zu schicken, sobald sie Vickys Studio verlassen hatte.
Nach fünf Stunden hielt sie es nicht mehr aus. Jennifer klappte den Laptop zu – sie hatte sich ohnehin nicht länger auf die Folge konzentrieren können – und stellte den leer gegessenen Teller darauf ab. Dann griff sie zu ihrem Handy und tippte eine kurze Nachricht.
Alles OK? Wie war es? Lass mich nicht dumm sterben. LYJ
Jennifer legte das Smartphone zurück auf den Tisch, ohne es aus den Augen zu lassen. Christines Antwortzeit lag in der Regel unter einer Minute. Als nach fünf Minuten noch immer keine Nachricht eingetroffen war und nicht mal die Häkchen erschienen, die ihr signalisierten, dass die Botschaft angekommen und gelesen worden war, wurde Jenny nervös.
Da Christines Reich nur wenige Türen den Flur hinunter lag, schräg gegenüber der Küche, verzichtete sie darauf, sich Schuhe anzuziehen. Nur mit Wollsocken, schwarzen Leggins und einem viel zu weiten Kapuzenpullover schlurfte Jennifer zum Zimmer ihrer Freundin.
Die Strecke betrug kaum zehn Yards, trotzdem sah sie dreimal aufs Handy, ohne ein Lebenszeichen von Christine Watkins zu entdecken. Von den restlichen Bewohnern ließ sich ebenfalls niemand blicken, worüber Jennifer alles andere als traurig war. Sie verspürte wenig Lust auf Smalltalk, blöde Sprüche oder unnötige Fragen.
Ruhig war es deshalb aber noch lange nicht. Das war es in einem Studentenwohnheim praktisch nie. Egal ob Tag oder Nacht, irgendwo war immer etwas zu hören. Sei es nun mehr oder weniger laute Musik, das Plärren eines Fernsehers, das Klappern von Besteck oder das verhaltene Stöhnen und Ächzen zweier Liebender.
In diesem Fall war es dumpfe Musik, die an Jennys Ohren drang. Sie hatte Christines Zimmer erreicht und stand unschlüssig vor der Tür. Plötzlich kam sie sich albern vor. Bestimmt war Chrissy todmüde gewesen und sofort ins Bett gegangen.
Warum hätte sie sich auch bei ihr melden sollen? Schließlich hatte sie bei mehr als einer Gelegenheit offen zugegeben, wie seltsam sie Christines Bewunderung für Vicky Starr fand.
Sie wollte sich bereits von der Tür abwenden, als ihr Blick auf das Handy fiel. Noch immer keine Reaktion.
Verflixt, es war gerade mal halb acht. So müde konnte Chrissy gar nicht sein.
Jennifer gab sich einen Ruck und klopfte gegen die Tür, die so abrupt aufgerissen wurde, dass die Studentin erschrak. Ihr Herz setzte beinahe aus, nur um danach umso schneller zu klopfen. Nach Luft japsend presste sich Jenny die Hand vor die Brust.
»Chrissy, um Himmels Willen, hast du mich erschreckt. Was ...« Plötzlich wurde sie wütend. »Warum hast du dich nicht gemeldet, verdammt? Ich habe mir Sorgen gemacht.«
Ihre Freundin stand im Schatten der Tür und hörte sich Jennys Vorwürfe stumm an. Schließlich trat sie mit einem raschen Schritt auf den Flur hinaus. Jennifer wollte im Reflex zurückweichen, doch Christine war schneller.
Ehe sich Jenny versah, schlang Chrissy ihre Arme um sie und drückte sie an sich. Der penetrante Duft eines Parfüms kitzelte Jennifers Nase. Rosenwasser, Lavendel und ein Hauch von Kardamom. Eine wahrhaft atemberaubende Mischung.
»Es tut mir sooo leid!«, flüsterte Christine und ihr Atem strich über Jennys Ohr.
Eine Gänsehaut rieselte ihr den Rücken entlang.
Unvermittelt löste ihre Freundin die Umarmung, ergriff Jennifers Hand und zog sie hinter sich her in ihr Zimmer. »Ich wollte mich eigentlich längst bei dir melden, aber in der Aufregung muss ich es wohl vergessen haben.« Chrissy drehte sich um und strahlte ihre Freundin an, die die Tür leise hinter sich ins Schloss drückte.
»Es war einfach unglaublich, Jenny«, plapperte Christine weiter. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie es gewesen ist. Total professionell.« Sie ging leicht in die Knie und riss dabei die Augen auf, dass sie im Licht der Deckenbeleuchtung geradezu funkelten. »Und Vicky Starr ist der Hammer!«
Bevor sie richtig mit der Schwärmerei loslegen konnte, schnitt ihr Jennifer mit einer schnellen Geste das Wort ab und deutete auf die Unordnung in Christines Zimmer.
Der Schrank war offen, sein Inhalt verteilte sich auf dem Boden und dem Bett. Der Mülleimer quoll über vor Papier. Zwei Müllsäcke, vollgestopft mit irgendwelchen alten Klamotten, standen daneben. Auf der Schreibtischplatte stapelten sich Bücher.
»Was treibst du hier eigentlich?«
»Oh, das ... ich räume nur ein wenig auf.«
»Jetzt? Chrissy, du warst heute den halben Tag bei dieser Vicky Starr und hast nichts Besseres zu tun, als auszumisten? Außerdem sieht das eher so aus, als wolltest du ausziehen.«
»Nein, nein, oder vielleicht doch? Ich weiß es noch nicht. Aber ich weiß, dass sich etwas ändern muss. Und das habe ich allein Vicky zu verdanken. Ist das nicht wundervoll, Jenny?«
Chrissy trat erneut auf sie zu. Normalerweise hätte Jennifer nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass ihr Christine zu nahekam. Aber diese Umstände waren alles andere als normal. Es war einfach nur unheimlich. So als stünde gar nicht Chrissy vor ihr, sondern eine Doppelgängerin.
Jennifers Kehle wurde trocken. Sie musste sich räuspern, ehe sie etwas sagen konnte. »Vicky? W...was ... hat sie denn gemacht?«
»Sie hat mir die Augen geöffnet. Endlich weiß ich, was in meinem Leben schiefläuft.«
»Das ist doch Blödsinn«, platzte es aus Jenny hervor. »Was weiß Vicky denn schon von deinem Leben?«
»Genug«, erwiderte Christine und ergriff Jennifers Schultern. Ihr maskenhaftes Lächeln wirkte plötzlich verkrampft, ebenso wie ihre Mimik. In den Augen glitzerte eine Kälte, die Jenny erschaudern ließ. »Sie wusste, dass du so reagieren würdest. Deshalb hat sie mir auch verboten, mit dir darüber zu sprechen. Sie sagte, dass du eifersüchtig auf sie bist. Sag mir, bist du eifersüchtig auf Vicky Starr?«
Jennifers Kinnlade klappte nach unten. »Eifersüchtig?«
Die Frage hatte sie getroffen. Ja, vielleicht war sie tatsächlich ein wenig eifersüchtig, aber das erklärte noch lange nicht, weshalb sich Chrissy mit einem Mal so seltsam aufführte. Wie die Anhängerin einer obskuren Sekte.
Der Gedanke war kaum durch Jennys Kopf gezuckt, da erstarrte die Studentin. Vicky hat ihr das Gehirn gewaschen!
Christine hielt ihre Freundin mit eisernem Griff. Vergeblich versuchte Jennifer, sich zu befreien. Und ehe sie sich versah, zuckte Chrissys Gesicht auf sie zu und einen Lidschlag später, presste sie ihre Lippen auf Jennifers Mund.
Die spannte sich unter der Berührung an, als hätte sie eine Stahlfeder verschluckt. Es war das, was sie sich schon so lange erträumt hatte, doch jetzt, wo es geschah, fühlte es sich einfach nur verkehrt an. Christines Lippen bewegten sich wie kaltes Gewürm, zwischen denen ein glitschiger Tentakel nach einem Weg in ihren Mund suchte.
Hinzu kam dieser betäubende Geruch, unter dem Jennifer jetzt noch ein anderes Aroma wahrnahm.
Stechend, faulig und Übelkeit erregend. Es war der Gestank nach verwesendem Fleisch.
Jennifers Reaktion erfolgte reflexartig.
Ihre Arme zuckten hoch, die Hände trafen Christine an der Schulter und stießen sie zurück. Die Finger ihrer Kommilitonin rutschten von ihr ab. Chrissy schrie erschreckt auf, taumelte rückwärts und stolperte über einen Karton.
Im Fallen krümmte sie sich. Das war ihr Glück, sonst hätte ihr Hinterkopf unangenehme Bekanntschaft mit dem Schreibtisch gemacht.
Jennifer schlug sich die Hand vor den Mund. »E...es tut mir leid, Chrissy. D...das wollte ich nicht.«
Sie rechnete damit, dass Christine sie wütend anfahren würde, stattdessen erschien abermals ein seliges Lächeln auf den Lippen ihrer Freundin. »Aber nicht doch, Liebes. Kein Grund, sich zu entschuldigen. Ich bin es, die um Verzeihung bitten muss.«
Christine stand auf, glättete ihre Kleidung und strich sich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht. »Ich habe dich überrumpelt und ganz vergessen, dass du noch immer in deinen alten Mustern gefangen bist. Dabei könntest du viel freier und bewusster leben.«
Jenny legte die Stirn in Falten. Nein, um Chrissys körperlicher Unversehrtheit brauchte sie sich wahrhaftig keine Sorgen zu machen. Es war ihr Geisteszustand, der infrage gestellt werden musste.
»Hast du deshalb diese Aufräum-Aktion gestartet?«
»Ja, du musst dich zuallererst von sämtlichem irdischen Ballast befreien.«
»Aha. Und was machst du mit dem ganzen Zeug? Nein, lass mich raten: Du vertickst es bei Ebay und gibst das Geld Vicky?«
Christine Watkins schüttelte lächelnd den Kopf. »Du begreifst es einfach nicht. Oder vielmehr willst du es nicht begreifen. Vicky hat gesagt, dass du noch nicht so weit bist, um einen neuen Weg zu beschreiten.«
»Was denn für einen Weg?«
»Den der Freiheit, des ewigen Glücks und der absoluten Erfüllung. Ein neues Zeitalter bricht an, und ich werde eine seiner Botschafterinnen.«
»Das ist doch Bullshit.« Jennifer wurde wütend. Doch ihr Zorn vermochte die darunterliegende Empfindung nur unzureichend zu kaschieren, denn in Wirklichkeit hatte sie Angst. Angst um Christine Watkins.
»Vicky sagte mir, dass ...«
»HÖR AUF!«, brüllte Jennifer und hielt sich die Ohren zu. »Ich will diesen Namen nicht noch einmal hören.«
Auf dem Absatz machte sie kehrt, riss die Tür und stürmte hinaus auf den Flur. Sie rannte zu ihrem eigenen Zimmer und ignorierte das fragende Gesicht eines Kommilitonen, der den Schrei offenbar durch zwei geschlossene Türen hindurch gehört hatte.
Jenny schlug die Tür hinter sich zu und ließ den Tränen freien Lauf. Rücklings sank sie an der Tür entlang nach unten und blieb mit angewinkelten Beinen auf dem Boden hocken. Sie barg ihren Kopf in der Ellenbeuge und schluchzte in den Stoff ihres Kapuzenpullovers.
Es dauerte nicht lange, bis sie ein zaghaftes Klopfen vernahm. Jennifer zog die Nase hoch und versuchte, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. Es gelang ihr nur zur Hälfte. Zwar verschwand der Druck von ihrer Kehle, dafür lastete er jetzt direkt hinter dem Brustbein und erschwerte ihr das Atmen. Aber sie hatte ohnehin nicht vor, zu öffnen. Sie wollte allein sein.
»Jenny?«, erklang es flüsternd jenseits der Tür.
Es war Chrissy.
»Jennifer, mach bitte auf. Es tut mir leid. Ich wollte dir keine Angst machen. Aber ...« Sie verstummte. Vermutlich aus Sorge, etwas Falsches zu sagen. »Lass uns reden, ja?«
Jenny erlebte ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits wollte sie am liebsten allein sein, andererseits schwelte in ihr die Hoffnung, dass sich Christine nur einen dummen Scherz erlaubt hatte. Oder hatte sie selbst bloß überreagiert?
»Hey, Jenny komm schon. Ist es wegen des Kusses? Das war doch nicht so gemeint.«
Das war nicht unbedingt das, was Jennifer hören wollte. Ja, verdammt, vielleicht hätte sie cooler reagieren sollen, aber mit Gefühlen spielte man nicht. Das wusste selbst Christine. Wollte sie ihr etwa weismachen, dass sie in all der Zeit, die sie sich kannten, nicht mitgeschnitten hatte, was sie für sie empfand?
»Na schön, wenn du nicht willst dann ...«
Die Angst schoss wie eine Lohe in Jennifer empor. Ohne sich dessen bewusst zu sein, drehte sie sich um, ging auf die Knie und griff nach der Klinke. Sie fühlte sich gedemütigt und beschämt, doch die Furcht verlassen zu werden war größer.
Christines lächelndes Antlitz erschien in dem dunklen Türspalt. »Du musst nicht weinen, Jenny. Es wird alles gut, ich verspreche es dir. Ja, glaubst du denn, ich hätte nicht bemerkt, wie du mich ansiehst? Ich wollte es mir nicht eingestehen, habe mir bis heute nicht mal vorstellen können, etwas mit einer anderen Frau zu haben. Aber weißt du, wer mir die Augen geöffnet und mich ermutigt hat, sich dir zu offenbaren?«
Die Frage war rein rhetorischer Natur, das wusste Jennifer. Trotzdem kam ihr der Name wie von selbst über die Lippen. »Vicky Starr?«
»Ja, genau«, jubelte Christine. »Und weißt du was? Sie würde dich gerne kennenlernen. Mit dir reden.«
Jenny schluckte, das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
»Bitte, lass mich rein!«
Und dieses Mal musste sie Jennifer kein zweites Mal bitten. Selbst der faulige Geruch, störte die Studentin nicht länger.
Die Sonne stand tief am abendlichen Himmel und schickte ihre Strahlen schräg durch die Wipfel der Nadelbäume am Rand des weitläufigen Gartens, der zum Bungalow hin leicht anstieg. Der Duft von frisch gemähtem Gras lag in der Luft.
Ein Pulk Mücken führte einen bizarren Tanz auf, hielt aber Abstand, wohl nicht zuletzt wegen der blakenden Fackeln, die der Hausherr um die Terrasse herum aufgestellt hatte. Und der lag nur mit Shorts und T-Shirt in einem der beiden Liegestühle und genoss die abendliche Stille.
Die Hitze des Tages war milder Wärme gewichen. Ein schwacher Wind wehte und brachte ein wenig Kühlung. Lange konnte man nicht so leicht bekleidet im Freien verbringen, das war dem Mann durchaus bewusst, der lächelnd den Schritten lauschte, die sich ihm leise von hinten näherten.
Ein frischer Hauch von Kamille kündete von dem Erscheinen der Frau, die, gehüllt in ein leichtes Sommerkleid, an seine Seite trat und ihm ein Cocktailglas mit einer hellroten Flüssigkeit reichte.
»Du bist ein Schatz«, sagte der Mann und lächelte seiner Frau zu.
Eine Salzkruste zog sich am Rand des Glases entlang, an dem darüber hinaus eine frische Limettenscheibe hing. Eine halbe Makkaroni ragte aus der Margarita und diente als Trinkhalm.
Die andere Hälfte steckte im Glas der Frau, die sich neben ihren Gatten auf den zweiten Liegestuhl sinken ließ und genießerisch die Augen schloss.
»Solche Abende sind viel zu selten«, murmelte sie.
»Könnten wir aber häufiger haben. Johnny ist kaum noch zu Hause und in letzter Zeit hatten wir auch keine unangemeldeten Besuche von Du-weißt-schon-wem.«
»John Sinclair?«
»Eigentlich meinte ich seine Kundschaft, aber da er die anzulocken pflegt wie das Licht die Motten, sage ich jetzt einfach mal ja.« Bill Conolly grinste und hielt seiner Frau Sheila das Glas entgegen. »Auf einen dämonenfreien Sommer.«
»Darauf trinke ich doch immer gerne.«
Sie stießen miteinander an und lauschten dem schwachen Klingeln. Nach dem ersten Schluck stöhnten sie unisono und lehnten sich zurück.
»Wollen wir diesen Sommer noch mal wegfahren?«, fragte Sheila.
Der Reporter öffnete die Augen und musterte seine Frau von der Seite. »Wie viele Antwortmöglichkeiten habe ich?«
»Ziemlich genau eine.«
»Also nein.«
»Ich könnte dich jetzt fragen, wie lange wir schon verheiratet sind, aber dann würdest du antworten ›zu lange‹, und ich müsste mich von dir scheiden lassen, weshalb ich uns den Ärger erspare und einfach sage: falsche Antwort.«
Bill grinste. »Warum stellst du mir auch solche rhetorischen Fragen?«
»Weil ich dachte, dass du vielleicht einen Vorschlag hättest.«