John Sinclair 2252 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2252 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Pee krümmte sich vor Schmerzen!
In Wellen überschwemmten sie ihren Körper, wühlten sich wie heiße Messer durch die Eingeweide. Der Gestank von Erbrochenem drang ihr in die Nase. Ihre Kehle fühlte sich wund und aufgescheuert an. Sie hätte gerne einen Schluck Wasser getrunken, doch das hatten die Kerle ebenso mitgenommen wie den Rest ihres Ersparten.
Immerhin hatten sie es nicht geschafft, sie zu vergewaltigen.
Sie hatte geschrien und um sich getreten, sodass es den beiden Kerlen, die wohl gedacht hatten, leichtes Spiel zu haben, zu bunt geworden war. Statt sich an ihr zu vergehen, hatte sie sie zusammengeschlagen und ihre Sachen geplündert.
Als sie am Boden gelegen hatte, hatte ihr einer von den Scheißkerlen noch in den Bauch getreten. Fairplay kannten solche Typen nicht. Konnte man von den Dreckskerlen auch nicht erwarten. So war eben das Gesetz der Straße ...


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Seitenzahl: 163

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Die Nekrophagen

Epilog

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Die Nekrophagen

von Ian Rolf Hill

Pee krümmte sich vor Schmerzen!

In Wellen überschwemmten sie ihren Körper, wühlten sich wie heiße Messer durch die Eingeweide. Der Gestank von Erbrochenem drang ihr in die Nase. Ihre Kehle fühlte sich wund und aufgescheuert an. Sie hätte gerne einen Schluck Wasser getrunken, doch das hatten die Kerle ebenso mitgenommen wie den Rest ihres Ersparten.

Immerhin hatten sie es nicht geschafft, sie zu vergewaltigen.

Sie hatte geschrien und um sich getreten, sodass es den beiden Kerlen, die wohl gedacht hatten, leichtes Spiel zu haben, zu bunt geworden war. Statt sich an ihr zu vergehen, hatte sie sie zusammengeschlagen und ihre Sachen geplündert.

Als sie am Boden gelegen hatte, hatte ihr einer von den Scheißkerlen noch in den Bauch getreten. Fairplay kannten solche Typen nicht. Das konnte man von den Dreckskerlen auch nicht erwarten. So war eben das Gesetz der Straße ...

Sie kannte dieses Spiel zum Erbrechen. Hatte es oft genug gespielt, seit sie mit dreizehn Jahren ausgebüxt war. Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern war sie jedoch nicht ein paar Tage später reumütig nach Hause zurückgekehrt, sondern auf der Straße gelandet.

Wahrscheinlich hatten ihre Eltern nicht mal mitgeschnitten, dass sie abgehauen war, so zugedröhnt, wie die immer gewesen waren. Ob sie später die Bullen benachrichtigt hatten, wagte Pee zu bezweifeln. Ihr Stiefvater hatte vermutlich viel zu viel Schiss gehabt, dass die Polizei die Drogen fand, die er ihm Haus gebunkert hatte.

Und das wäre nur die Spitze des Eisbergs gewesen. Zu dem Vorwurf der Dealerei wären noch Anklagen wegen Körperverletzung und Zuhälterei gekommen. Der Wichser hatte nicht nur Mum regelmäßig verdroschen, auch Pee hatte oft genug eine Packung abgekommen.

Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte er sie wenigstens nicht vergewaltigt. Allerdings auch nur, weil sie rechtzeitig die Kurve gekratzt hatte. Sie hatte seine gierigen Blicke sehr wohl bemerkt und selbst mit dreizehn schon gewusst, was sie zu bedeuten hatten. Seine Kommentare waren mehr als eindeutig gewesen. Und es war ja nicht so, als ob Pee von nichts Ahnung gehabt hätte.

Sie hatte genau gewusst, was im Schlafzimmer ihrer Eltern abgegangen war, wenn »Dad« seine Kumpels eingeladen hatte.

Nach Schweiß, Zigarettenrauch und billigem Schnaps stinkende Kerle.

Die Geräusche, die anschließend aus dem Schlafzimmer gedrungen waren, hätten besser in einen Schweinestall gepasst, aber nicht in einen Familienhaushalt mit einer Minderjährigen.

Sobald die Typen fertig gewesen waren, waren sie gegangen. Und Pete hatte mit feistem Grinsen auf der abgewetzten Ledercouch gesessen und das Geld gezählt, während Mum über der Toilettenschüssel gehangen hatte. Das Gesicht verborgen hinter einer Maske aus Verbitterung, Resignation und verschmiertem Make-up.

Eines Abends hatte Pee ein Gespräch zwischen ihren Eltern belauscht. Pete war längst voll gewesen. Voller Alkohol, Frust und Aggression. Letztere hatte er natürlich an Mum ausgelassen.

Die Freier hatten den Preis drücken wollen, weil ihre Mutter eben keine zwanzig mehr war. Wenn sie wenigstens wie dreißig ausgesehen hätte ...

Die Jahre mit Pete, die Drogen und der Alkohol hatten schon früh ihre Spuren hinterlassen. Doch dann hatte der Drecksack tatsächlich vorgeschlagen, dass Pee künftig das Geld heranschaffen sollte. Für so junges Fleisch waren viele Männer bereit, tief in die Tasche zu greifen.

Anfangs hatte Mum sich dagegen gesträubt. Einige Schläge später und nachdem ihr Pete verklickert hatte, dass sie Pause machen könnte, wenn sie stattdessen ihre Tochter ranließ, war Mum eingeknickt. Da war für Pee das Maß voll gewesen. Noch in derselben Nacht hatte sie ihre Sachen gepackt und war gegangen.

Zuerst war sie bei einem Freund untergetaucht. Er war zehn Jahre älter gewesen. Hatte irgendwas von der großen Liebe gefaselt und sie noch am selben Abend entjungfert. Damals hatte Pee geglaubt, es ihm schuldig zu sein. Sie hatte sich lange genug geziert und außerdem gehörte es doch dazu, wenn man sich liebte, oder?

Egal wie weh es tat.

Und das war Pees erste Lektion gewesen, nachdem sie von zu Hause abgehauen war: Liebe tut weh!

Erst Jahre später war ihr klar geworden, dass es beim Sex in den seltensten Fällen tatsächlich um Liebe ging. Also um wahre Liebe. Und dass sie im Prinzip nichts anderes getan hatte als Mum. Sie hatte sich prostituiert. Nicht für Geld, aber für gute Worte und ein Dach über dem Kopf.

Was sie wollte, hatte niemanden interessiert.

Anfangs hatte Pee tatsächlich noch an ein Happy End geglaubt. Sie war wirklich davon ausgegangen, dass Gavin sie liebte. Bis sie schwanger geworden war und er sie dermaßen vertrimmt hatte, dass ihr im wahrsten Sinn des Wortes hören und sehen vergangen war. Es folgten Drogen, Alkohol und Ladendiebstähle.

Pee war geschnappt, eingebuchtet und ins Pflegeheim gesteckt worden.

Eine Woche hatte es gedauert, bis sie wieder verschwunden war. Seitdem war sie von einer Einrichtung in die nächste getingelt, hatte drei Pflegefamilien verschlissen und sämtliche Klapsmühlen und Entzugskliniken von innen kennengelernt.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie war schon bald zu ihrer einzigen Konstante geworden.

Bis sie endgültig die Schnauze vollgehabt hatte.

Seit ihrem sechzehnten Geburtstag war die Straße ihr zu Hause. Ein ewiger Kampf ums Überleben, aber wenigstens war sie frei.

Obwohl diese Freiheit einen verdammt hohen Preis hatte, denn wer kein Dach über dem Kopf hatte, galt als Freiwild. Besonders die jungen Frauen und Mädchen, weshalb sie gut daran taten, sich zusammenzuschließen. In der Gemeinschaft war man stark, das war die zweite Lektion, die man in der Obdachlosigkeit lernte.

Dicht gefolgt von Nummer drei: Vertraue niemandem.

Absolut niemandem!

Wer morgens noch dein bester Freund ist, kann dir bereits abends das mühsam erbettelte Kleingeld stehlen. Oder Schlimmeres antun.

Am sichersten fühlte sich Pee, wenn sie allein war.

Wie trügerisch diese Sicherheit jedoch war, hatte sie gerade am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Dabei hatte sie gehofft, unterhalb der Brücke, nahe des Themseufers, ihre Ruhe zu haben. Wenigstens für die Nacht. Offenbar war sie nicht die Einzige, die so gedacht hatte. Leider waren die zwei Penner größer und stärker gewesen als sie. Und so sehr sie der Verlust des Geldes, der Wasserflaschen und des Beutels trockener Brote, die sie aus dem Container einer Bäckerei gefischt hatte, auch schmerzte, am meisten Sorgen machte sie sich um ...

»Ozzy!«

Der Gedanke an ihren kleinen Freund half Pee, die Schmerzen und die Übelkeit zu verdrängen. Die Neunzehnjährige stützte sich auf einen Ellenbogen und sah sich um. Tränen verschleierten ihren Blick.

Der alte Armeerucksack lag einige Yards entfernt. Schlaff und ausgehöhlt wie ein vergammelter Kürbis, der vom letzten Halloween übrig geblieben war. Der Inhalt lag verstreut auf dem mit Gestrüpp überwucherten Ufer. Leere Plastikflaschen, Taschentücher, Tampons, ein wenig Wäsche und ein zerfledderter Stephen King-Roman, dessen vergilbte Seiten sich langsam mit Feuchtigkeit vollsaugten.

»Ozzy«, wimmerte Pee, während sie auf allen vieren auf den Rucksack zu krabbelte. Sie musste einen Bogen schlagen, um nicht durch ihre eigene Kotze zu kriechen. Die heftiger werdenden Stiche, die durch ihren Unterleib und die Wirbelsäule entlang Richtung Schädel rasten, beachtete sie nicht.

Ihre Finger zitterten, als sie nach dem Rucksack griff und ihn vorsichtig zu sich heranzog. Langsam hob sie den Stoff, um Ozzy nicht zu erschrecken, falls er sich darin versteckt hatte.

Pee drehte sich der Magen um, wenn sie daran dachte, dass eines der Arschlöcher ihm etwas angetan hatte. Denen traute sie alles zu. Auch, dass sie ein wehrloses Tier zu Tode trampelten.

Ihre Hoffnung, Ozzy im Rucksack zu finden, zerplatzte jäh. Er war leer. Die Enttäuschung wurde nur durch die Erleichterung geschmälert, dass sie keinen zerdrückten Kadaver in dem Beutel entdeckte.

Nur wo steckte Ozzy dann?

Pee richtete sich auf und brüllte seinen Namen. So laut, dass sich ihre Stimme überschlug und vom Betonfundament der Brücke widerhallte.

Natürlich antwortete Ozzy nicht. Das tat er nie.

Der Blick der jungen Obdachlosen fiel auf ihren zerknüllten Schlafsack. Zerwühlt und zusammengestaucht lag er im Uferschlamm. Heiß fuhr Pee der Schreck durch Mark und Bein. Sie stand auf und brach sofort wieder zusammen. Greller Schmerz zuckte durch ihren unteren Rücken, dicht oberhalb des Beckenkamms.

Auch dort hatte sie ein Schlag getroffen. Kurz bevor sie zu Boden gegangen war und sich der Stiefel des anderen in ihren Bauch gebohrt hatte.

Pee biss die Zähne aufeinander.

Fang bloß nicht an zu heulen, ermahnte sie sich, gestattete sich aber zumindest ein leises Winseln. Irgendwie gelang es ihr, sich erneut auf die Beine zu rappeln. Es tat zwar noch immer verdammt weh, doch da sie jetzt wusste, was sie erwartete, war es nur halb so schlimm.

Lektion Nummer vier: Rechne mit dem Schlimmsten, dann kann es nur besser werden.

Pee taumelte auf den Schlafsack zu, fiel davor auf die Knie und zerrte das Bündel auseinander. Dabei stammelte sie unentwegt Ozzys Namen. Sie schickte sich gerade an, das untere Ende umzustülpen, als sich ihr ein winziges, hellrosa Näschen entgegen reckte.

Lange Schnurrhaare an einer spitze Schnauze, umgeben von hellgrauem Fell.

»Ozzy!«, jubelte Pee.

Vergessen waren die Schmerzen, wurden von der Erleichterung, ihre Ratte wiedergefunden zu haben, regelrecht fortgespült. Behutsam hob sie das Tier mit beiden Händen an. Mit den Krallen klammerte sich Ozzy an ihren Fingern fest und schnupperte. Sanft stupste Pee ihn mit der Nase an. Dann erst brachen die Dämme, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf.

Gerade lange genug, um das Wiedersehen mit Ozzy zu feiern, der über ihren Arm auf die Schultern und von dort in den Kragen des schmutzigen Sweaters schlüpfte.

Mit dem Ärmel wischte sich Pee den Rotz aus dem Gesicht. Zum Glück hatte sie Ozzy mit in den Schlafsack genommen. Wäre er in seinem kleinen Käfig geblieben, hätten ihn die Kerle mit Sicherheit entdeckt und ihren Frust an dem wehrlosen Tier ausgelassen.

Der Metallkäfig lag verbogen im Wasser. Er wäre längst abgetrieben oder untergegangen, hätte er sich nicht im Ufergestrüpp verhakt.

»Scheiße, Ozzy!«, murmelte Pee. »Und was machen wir jetzt?«

Ozzy gab keine Antwort.

Sie wusste, dass sie hier nicht bleiben konnte. Für den Moment hatten die Typen genug, spätestens in der Nacht würden sie aber wiederkommen. Und dann konnte sie froh sein, wenn man sie am nächsten Morgen nicht aus der Themse fischte. Mit dem toten Ozzy im Mund.

Pee raffte den feuchten Schlafsack zusammen und schlurfte damit zu ihrem Armeerucksack. Dort fiel sie auf die Knie und fing an, das herumliegende Zeug einzusammeln. Während sie das tat, dachte sie über ihre Situation nach.

In eine der Notunterkünfte konnte sie nicht. Wenn einer der anderen sah, dass sie Ozzy dabeihatte, war das Leben der Ratte keinen Pfifferling mehr wert.

Morgen früh hatte sie einen Termin mit Melody.

Die Streetworkerin versuchte seit zwei Jahren, sie von der Straße zu holen. Im Gegensatz zu all den anderen Sozialarbeiterinnen, Streetworkern und Gutmenschen, war es Melody sogar ernst damit. Was nicht bedeutete, dass Pee ihr bedingungslos vertraute. Aber wenn ihr jemand ein sicheres Plätzchen besorgen konnte, dann Melody.

Die würde es sogar fertigbringen, sie bei ihr schlafen zu lassen.

Selbst wenn das bedeutete, dass sie sich den ganzen Abend lang ihr Gerede anhören musste, nach dem sie sich jedes Mal so beschissen fühlte, als hätte sie gestrecktes Zeug geraucht.

Aber immer noch besser, als von irgendeinem besoffenen Penner zu Tode geprügelt zu werden. Abgesehen davon, knurrte ihr Magen und der von Ozzy bestimmt auch. Von dem Geld, das sie sich zusammengeschnorrt hatte, hatte sich Pee eigentlich was zu essen kaufen wollen.

Und vielleicht etwas Tabak. Das Bisschen, was noch im Beutel war, reichte gerade mal für ...

Pee stutzte. Wo war der verdammte Tabak?

Hastig durchwühlte sie den Rucksack, öffnete die Seitentaschen und kippte schließlich alles, was sie eben zurückgepackt hatte, wieder aus. Doch den Knaster fand sie ebenso wenig wie die Kugel aus zerdrücktem Aluminium, in dem sich noch ein Rest Marihuana befunden hatte.

»Fuck!«

Wütend stopfte Pee ihre wenigen Habseligkeiten zurück. Danach griff sie unter den Sweater, zog Ozzy hervor und schob ihn behutsam in den Muff vor ihrem Bauch, damit er beim Gehen nicht herausfiel. Anschließend wuchtete sie sich den Rucksack auf die Schultern, raffte den Schlafsack zusammen und schlurfte davon. Sie machte sich nicht die Mühe, die ausgelatschten Doc Martens zuzubinden.

Wenn sie wenigstens ein Handy gehabt hätte, so aber musste sie bis in die City, um Melody von dort aus anzurufen. Sie durfte nur keinem Bobby vor die Beine stolpern.

»Hey, Pee«, was ist denn mit dir passiert?«

Das Mädchen blieb stehen und drehte sich um. Sie hatte Weasel an der Stimme erkannt, die irgendwie immer eine Spur zu schrill klang. Der junge Mann, der kaum älter war als sie selbst, war dünn wie ein Strich. Seine Augen mit den viel zu großen Pupillen huschten unstet von einer Seite zur anderen.

Er stand nie still, sondern zuckte und zappelte auf der Stelle, als stünde er unter Dauerstrom.

Weasel war immer auf dem Sprung. Sobald er nur den Zipfel einer Polizeiuniform sah, suchte er das Weite. So schnell und geschwind wie ein Wiesel eben.

Nein, der Typ war bestimmt nicht der Mutigste, und Pee würde auch nicht so weit gehen, ihn als Freund zu bezeichnen. Aber er hatte ihr nie etwas getan. Und das war in dieser beschissenen Welt schon verdammt viel.

Sie wusste, dass Weasel ein Drücker war, ein Fixer, der eher früher als später unter die Räder kommen würde. Das war selbst ihm klar. Aber auf der Straße machte man sich nur selten Gedanken über die Zukunft. Hier lebte man von der Hand in den Mund. Nur das Hier und Jetzt zählte, alles andere war ein Haufen Scheiße.

»Bin aufgemischt worden«, sagte sie, drehte sich um und schlurfte weiter.

Weasel ließ sich nicht abschütteln. Sie hörte, wie er die Verfolgung aufnahm. »He, bist du verletzt?«

Pee blieb stehen. Das war eine verdammt gute Frage, die sie sich noch gar nicht gestellt hatte. »Glaub nicht.«

»Haben sie dich vergewaltigt?«

»Dazu hatten sie keine Gelegenheit. Aber sie haben alles mitgenommen.«

»Alles?«

»Ja, alles. Das Geld, das Brot, das Wasser und sogar den verschissenen Tabak mit dem Gras.« Sie zwinkerte. »Hast du vielleicht ne Fluppe?«

Weasel grinste schief. »Sorry, Pee. Bin selbst abgebrannt.«

Sie wusste, dass er log. Aber das taten sie ja alle. Nicht nur die Penner, Obdachlosen und Junkies. Pee ging weiter, dicht gefolgt von Weasel.

»Was willste jetzt machen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Mir was für die Nacht suchen.«

»Du weißt nicht, wo du hinsollst?«

»Werd schon was finden«, murmelte sie. Irgendetwas hinderte sie daran, ihm von ihrer Verabredung mit Melody zu erzählen. Das ging Weasel nun wirklich nichts an.

»Ich wüsste da vielleicht was«, sagte er so beiläufig, dass Pee aufhorchte.

»Nee, lass mal stecken.«

Er grunzte. »Als ob du noch nie die Beine für ne Schachtel Kippen breit gemacht hast.«

»Fick dich.«

»Hey, war doch bloß ein Scherz. Ethel und Cedric sind völlig korrekt. Du kannst sogar baden und bekommst was zu essen. Und alles für umsonst.«

»Nix ist umsonst. Das solltest du doch am besten wissen.«

»Kann sein, dass du vielleicht ein wenig im Haushalt mit anpacken musst, aber ...«

»Siehst du da geht's schon los. Ich kann mir denken, wo ich anpacken muss.«

»Die Millweards sind keine Zuhälter. Und ihre Hütte ist auch kein Puff. Da ist alles sauber.«

»Aha.«

»Hör zu, mir egal, ob du mir glaubst oder nicht. Ich wollte dir nur helfen. Aber wenn du nicht willst, dann eben nicht. Aber heul mir keinen vor, wenn du dir ne Lungenentzündung holst oder dich ein paar Kerle durchreiten.« Er wollte sich abwenden.

»Warte!« Pee nagte hektisch an ihrer Unterlippe.

Weasel blieb stehen und drehte sich um. Die Lippen hinter dem dünnen Bartgestrüpp grinsten. »Was denn noch?«

»Was sind das für Typen? Ich meine die Millweards.«

Er hob die Schultern. »Alte Knacker mit einem viel zu großen Haus. Glauben wohl, der Gesellschaft was schuldig zu sein. Keine Ahnung. Riesengarten, völlig zugewuchert. Überall steht was rum. Alter Krempel und so. Die sind harmlos. War selbst schon da. Glaub mir, die ticken nicht richtig. Wenn du es geschickt anstellst, kriegste vielleicht sogar ein paar Pfund.«

»Sind die dement?«

Weasel überlegte. »Glaub nicht. Ich glaub, die sind einfach so. Haben sich vielleicht mal Enkelkinder gewünscht und nie bekommen. Oder sie sind so ... so ...«

»Samariter?«, half Pee aus.

»Ja, so ähnlich. Predigen auch ständig von Nächstenliebe.«

»Solange die mir nichts von Jesus oder seinem Dad erzählen wollen.«

»Selbst wenn«, erwiderte Weasel. »Hör's dir einfach an, lächele brav und nicke ab und zu. Leichter bist du noch nie an ein heißes Bad und ein warmes Bett gekommen.«

Pee blieb skeptisch, doch die Aussicht, die Nacht nicht im Freien verbringen zu müssen, war mehr als verlockend. Die Nächte wurden länger, der Herbst stand vor der Tür.

Und ob Melody sie wirklich bei sich pennen ließ, war auch nicht sicher. Was wenn sie einen Freund hatte, der nicht wollte, dass sie bei ihr blieb? Was würde Melody dann machen? Sie in eine Obdachlosenunterkunft stecken? Oder schlimmer noch: die Bullen rufen?

Siedend heiß fiel Pee ein, dass sie ihr auf keinen Fall von dem Überfall erzählen durfte. Aber Melody war auch nicht blöd. Die würde doch sofort Lunte riechen, wenn Pee sie so spät abends anrief.

»Na ja«, murmelte sie daher. »Ich kann's mir ja mal angucken. Werden mich ja nicht gleich auffressen, deine Samariter.«

Das Haus lag nicht weit entfernt, unweit des Themseufers. Leicht erhöht, inmitten eines verwilderten Gartens, der den düsteren, zweistöckigen Kasten förmlich umarmte. Efeu und wilder Wein rankten sich an der Fassade empor. Flechten klebten auf den Dachschindeln, aus den Regenrinnen ragten dünne Äste und kleine Mooskissen. Neben dem Haus stand ein Carport, unter dem das Wrack eines VW Busses vor sich hin rostete.

Lautes Hundegebell begleitete Pee und Weasel auf ihrem Weg durch den Vorgarten.

»Haben die etwa Hunde?«

Der Junkie nickte. »Ja, zwei Schäferhunde. Aber tagsüber sind die meist in ihrem Zwinger. Denen würd ich an deiner Stelle nicht zu nahe kommen.«

Pee sah sich unbehaglich um. Beinahe kam sie sich vor, als hätte sie mit dem Durchschreiten der Gartenpforte eine andere Welt betreten. Der Lärm der Großstadt blieb hinter ihr zurück. Sie hörte zwar noch immer das Rauschen des Verkehrs und das Heulen der Sirenen, nur schien es meilenweit entfernt zu sein. Dafür vernahm sie das Quietschen der verrosteten Kettenglieder, die an den Überresten einer alten Kinderschaukel hingen.

Die Stufen der hölzernen Treppe, die hinauf zum Eingang führten, knarrten unter ihren Schritten.

Pees Unbehagen wuchs von Sekunde zu Sekunde. Sie war drauf und dran, kehrtzumachen, als die Tür unvermittelt aufgezogen wurde. Noch bevor Weasel klingeln konnte.

Eine Frau stand auf der Schwelle. Das geblümte Kleid spannte sich über ihrem wabbeligen Körper, die Füße steckten in alten Filzpantoffeln. Blasse mit Krampfadern übersäte Waden, schimmerten in der einsetzenden Dämmerung wie gebleichtes Gebein. Die Arme ragten dick und fleischig aus den kurzen Ärmeln.

Auf dem runden Gesicht mit dem gewaltigen Doppelkinn, das ansatzlos in den Hals überging, erschien ein gutmütiges Lächeln. Das grauschwarze, ungepflegte Haar hing in fettigen Strähnen auf die Schultern.

»Wilbur, mein Junge. Das ist aber eine Freude, dich zu sehen. Wie schön, dass du uns besuchen kommst. Und dann auch noch zusammen mit deiner Freundin.«

»Hi, Mrs. Millweard«, murmelte Weasel unterwürfig und warf Pee einen knappen Blick über die Schulter zu. »Das, äh, ist Pee. Sie ... lebt auf der Straße. Sie wurde ausgeraubt und weiß nicht wohin, und da ...«

Die dicke Frau neigte den Kopf. Ihre Miene schien vor Mitleid zerfließen zu wollen. »Oh, du armes Ding«, rief sie. »Wie schrecklich.« Sie klatschte so laut in die Hände, dass Pee erschrocken zusammenzuckte. »Nun kommt erst mal rein. Ihr seid genau richtig gekommen. Wir haben gerade erst gegessen, und es ist noch jede Menge übrig.«

Mrs. Millweard drehte sich um und schlurfte zurück in die Diele, die Pee plötzlich vorkam wie der Schlund eines menschenfressenden Ungeheuers. Ihr Herz klopfte schneller, die Hände wurden feucht. Weasel bemerkte Pees Zögern.

»Was ist?«, flüsterte er ungeduldig. »Nun komm schon.«