John Sinclair 2261 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2261 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Der Ort befand sich zwischen den Dimensionen, im absoluten Nichts.
Es gab weder eine Atmosphäre noch Licht. Dennoch tobten Stürme durch die Unendlichkeit. Blitze spalteten die Finsternis. Die Umrisse gewaltiger Felsen wurden aus der Dunkelheit geschält. Sie drifteten um sämtliche Achsen, überschlugen sich und prallten mitunter auch gegeneinander. Einige zerstoben, andere bekamen eine neue Richtung.
Es war eine paradoxe Welt. Eine Welt voller Gegensätze.
Menschen konnten hier nicht überleben, dieser Ort war allein den Mächtigen vorbehalten. Den Teufeln, Engeln und Dämonen.
Hier trafen sie sich, um zu reden, zu verhandeln und Bündnisse zu schließen.
Mitunter wurde aber auch gespielt. Der Einsatz war hoch, denn es ging um nicht weniger als das Schicksal der Menschheit ...


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Seitenzahl: 157

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Jagd auf den Engelstöter

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Jagd auf den Engelstöter

(Teil 1 von 2)

von Ian Rolf Hill

Der Ort befand sich zwischen den Dimensionen, im absoluten Nichts.

Es gab weder eine Atmosphäre noch Licht. Dennoch tobten Stürme durch die Unendlichkeit. Blitze spalteten die Finsternis. Die Umrisse gewaltiger Felsen wurden aus der Dunkelheit geschält. Sie drifteten um sämtliche Achsen, überschlugen sich und prallten mitunter auch gegeneinander. Einige zerstoben, andere bekamen eine neue Richtung.

Es war eine paradoxe Welt. Eine Welt voller Gegensätze.

Menschen konnten hier nicht überleben, dieser Ort war allein den Mächtigen vorbehalten. Den Teufeln, Engeln und Dämonen.

Hier trafen sie sich, um zu reden, zu verhandeln und Bündnisse zu schließen.

Mitunter wurde aber auch gespielt. Der Einsatz war hoch, denn es ging um nicht weniger als das Schicksal der Menschheit ...

Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon in der Finsternis wartete. Zeit war hier ebenso bedeutungslos wie die Gesetze der Physik. Allein die bloße Existenz dieser Dimension hätte ausgereicht, um Generationen von Wissenschaftlern in den Wahnsinn zu treiben.

Der Gedanke amüsierte den einsamen Mann, der nur äußerlich einem Menschen glich. In Wirklichkeit war er ein Engel. Allerdings ein besonderer. Einst wandelte er auf Erden, bis er seine wahre Bestimmung erkannte und begriff, wer – oder besser gesagt, was – er tatsächlich war.

Die Stimme Gottes.

Er wurde zum Boten des Allmächtigen. Aber auch zum Vermittler zwischen der Welt des Lichts und den Dimensionen der Finsternis und des Grauens. Kein anderer Engel war für diese Aufgabe geeigneter als er, der Metatron!

Dank seiner Herkunft war er geradezu prädestiniert.

Und so wurde er zu einer Schlüsselfigur im ewigen Kampf zwischen Gut und Böse. Er war es, der mit dem abtrünnigen Erzdämon Abraxas das Buch der grausamen Träume geschrieben und dadurch geholfen hatte, das Gleichgewicht der Kräfte aufrechtzuerhalten.

Das war seine Bestimmung. Sein Daseinszweck. Seine Funktion.

Gab es einen wichtigeren Posten zu bekleiden? War es da nicht nur gerecht, dass er den Platz in der himmlischen Hierarchie einforderte, der ihm zustand? An der Seite des Allmächtigen, im Reigen der Erzengel?

Doch ausgerechnet jene, denen man Güte und Weisheit nachsagte, reagierten mit beispielloser Arroganz und Niedertracht. Sie intrigierten und verstießen ihn.

Heimatlos irrte er über die Erde. Vertrieben, gedemütigt, aber nicht gebrochen. Er hatte stets gewusst, dass seine Zeit kommen würde. Und jetzt endlich, nach Tausenden von Jahren, rückte das Ziel in greifbare Nähe. Er war im Besitz einer Waffe, mit der er sich seinen rechtmäßigen Platz an der Spitze der Erzengel erkämpfen würde. Schon bald.

Was zählten da ein paar Tage, Wochen oder gar Monate?

Menschliche Zeitbegriffe, denen er ohnehin keine Bedeutung beimaß.

Wieder zuckte ein Blitz durch die unendliche Schwärze. Das stroboskopartige Flackern erhellte die karstige Oberfläche des Felsens, der so gigantisch war, dass Metatron die trudelnden Bewegungen, mit denen er durch das Vakuum trieb, nicht registrierte.

Im Licht der elektrischen Entladungen sah der Engel einen Tisch mit zwei sich gegenüberstehenden Lehnsesseln, die förmlich aus dem Gestein herauswuchsen. Es waren regelrechte Throne. Mehr als angemessen, wenn man sich die Gegenstände betrachtete, die auf dem Tisch standen: Ein Schachbrett nebst Figuren, wie man sie nirgendwo ein zweites Mal fand. Weder in dieser noch in einer anderen Welt.

Als Metatron hier angekommen war, waren die Throne verwaist gewesen. Das hatte sich in den letzten Sekunden geändert.

Eine zierliche Gestalt saß auf einem der beiden Lehnsessel, rechts von Metatron.

Schwarzes Haar umrahmte ein schmales Gesicht mit vollen Lippen, die zu einem spöttischen Lächeln verzogen waren. Die spärliche, eng anliegende Kleidung bedeckte gerade mal die Brüste, das Gesäß und den Schoß. Stulpen umschlossen die Unterarme, bis über die Ellenbögen. Die hohen Stiefel schmiegten sich wie Schlangenhaut an die Beine, die sie kokett übereinandergeschlagen hatte. Die Hände hielt sie vor dem Bauch gefaltet.

Metatron stutzte. Er hatte jemand anderen erwartet.

Erst als er das leise Lachen vernahm, erkannte der Engel, dass sie es tatsächlich war.

Er schüttelte den Kopf. Ein derart infantiles Verhalten, war er von ihr nicht gewohnt. Oder wollte sie ihm nur ihre Macht demonstrieren?

Am liebsten hätte er sie schmoren lassen, doch das konnte er sich nicht leisten, und so setzte er sich in Bewegung und schritt bedächtig auf den zweiten Thron zu.

»Interessante Verkleidung«, sagte Metatron zur Begrüßung.

»Gefalle ich dir?« Sie lächelte kokett. »Vielleicht sollten wir das Schachbrett vom Tisch fegen und uns anderweitig vergnügen.«

Metatron tat so, als würde er ernsthaft über das Angebot nachdenken. »Bist du gekommen, um mich zu verführen? Oder hast du Angst, zu verlieren?«

»Du bist kein ernstzunehmender Gegner für mich, Metatron.«

»Das sah beim letzten Mal aber anders aus.«

»Ich habe dich gewinnen lassen.«

»Soll ich dir das glauben?«

»Ich weiß doch, was für ein schlechter Verlierer du bist.« Mit dem Kinn deutete sie auf die weißen Figuren. »Du hast den ersten Zug. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob du wirklich auf der richtigen Seite sitzt.«

»Von uns beiden? Mit Sicherheit.« Er griff nach dem Springer, rechts neben dem König.

Sie schüttelte den Kopf. Schlanke Finger näherten sich einem schwarzen Bauern. »Du weißt, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt?«

»Komisch, dasselbe wollte ich dich gerade fragen. Du spielst ein gefährliches Spiel.«

Die Finger der Frau schwebten dicht über der Figur. »Machst du dir etwa Sorgen um mich?«

»Moloch hat sich von seiner Niederlage noch immer nicht erholt.«*

Sie gluckste, schob den Bauern nach vorn und winkte ab. »Moloch ist ein noch schlechterer Verlierer als du.«

»Mag sein, aber er war klug genug, nicht um sein eigenes Leben zu spielen. Vielleicht solltest du Pandora einladen. Gemeinsam könntet ihr nicht nur eine Welt aus den Angeln heben. Ihr könntet an den Grundfesten der Schöpfung rütteln.«

»Pandora pflegt einen schlechten Umgang. Hüte dich vor ihr, Metatron. Sie spricht mit gespaltener Zunge und ist stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Sie gewährt ihre Gunst jedem, der ihr die Treue schwört.«

Auch Metatron brachte seinen ersten Bauern ins Spiel. »Seltsam«, murmelte er. »Für einen Moment dachte ich, du sprichst von dir.«

»Falsch«, peitschte ihre Stimme durch die Unendlichkeit. »Ich gewähre nicht, ich unterwerfe. Ich nehme mir, was ich brauche.« Die schwarze Dame trat aus ihrer Deckung.« Der Trick ist, sein Gegenüber glauben zu lassen, es hätte die Kontrolle.«

»So wie Luzifer?«

»Du bist am Zug!«

Die Docklands sind etwas Besonderes.

Einst waren sie das Herz des Londoner Hafens gewesen, doch mit der zunehmenden Industrialisierung hatte sich ein Wandel vollzogen. Plötzlich waren die Docks nicht mehr groß genug für die riesigen Containerschiffe. Ende der Siebziger waren die meisten Piers geschlossen worden.

Die wirtschaftlich bedeutsame Hafenindustrie hatte sich weiter flussabwärts in Richtung Themsemündung verlagert, wo die großen Hochseehäfen lagen. Die Arbeitslosigkeit grassierte, das Leben an den Docks war fast gänzlich zum Erliegen gekommen. Bis sich eine neu gegründete Behörde dem Problem angenommen und die Liegenschaften und Grundstücke an ausländische Investoren abgetreten hatte.

Beinahe über Nacht war das Leben in die Docklands zurückgekehrt.

Riesige Bürogebäudekomplexe, wie das Canary Wharf, waren entstanden. Leider war die Verkehrsanbindung miserabel gewesen. Die Grundstückspreise waren gefallen, zahlreiche Bauwerke hatten über Nacht leer gestanden. Ein gefundenes Fressen für Immobilienhaie.

Heute gehören die Docklands zu einem der florierendsten Geschäftsviertel der Stadt. Dabei können die Gegensätze kaum gravierender sein. Wolkenkratzer mit teuren Luxusapartments stehen vis-à-vis mit Plattenbauten und Betonsilos voller Sozialwohnungen. Es gibt Yachthäfen und Sportclubs, in denen sich die Reichen und Schönen tummeln. Darunter Menschen zweifelhaften Rufes, denn auch das organisierte Verbrechen hatte von der Immobilienflaute profitiert, und tut es heute noch.

Die Dockarbeiter, deren Familien in zig Generationen am Hafen gearbeitet hatten, hatten sich von der Regierung im Stich gelassen gefühlt. Unzufriedenheit war ein fruchtbarer Boden, in den die Mafia nur ihre Saat einzubringen brauchte.

Die ehrenwerte Gesellschaft gab den Dockarbeitern das, wozu die Regierung nicht in der Lage gewesen war: Arbeit. Noch unter dem Betongesicht Logan Costello wucherte die Mafia wie ein Tumor, der seine Metastasen überall in der Stadt verstreute.

Nach dem Tod des Capo zerfiel das Imperium der Cosa Nostra, bis sich ein Mann aus den Trümmern erhob wie der Phönix aus der Asche.

Frederik Beauchart.

The Iron Man, wie er sich selbst gerne nannte. Er war Costellos aufstrebender Immobilienspekulant gewesen, bevor sich das Betongesicht mit den falschen Partnern eingelassen hatte. Gerüchten zufolge hatte es sich um Zombies und Vampire gehandelt.

Angeblich hatte der Capo sogar einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.

Frederick Beauchart hatte diesen Geschichten nie viel Glauben geschenkt. Ganoven waren ein abergläubisches Pack. Und dumm obendrein. Dass ein Mann wie Logan Costello all die Jahre unangefochten an der Spitze des organisierten Verbrechens gestanden hatte, konnte ihrer Meinung nach nicht mit rechten Dingen zugehen.

Wie recht sie damit hatten, hatte Beauchart am eigenen Leib erfahren, als eines seiner Restaurants am Hafen von einer dämonischen Schlangensekte unterwandert und von einer Riesenschlange förmlich zerlegt worden war.* Wenige Jahre später hatte die Yakuza versucht, sich sein Unternehmen unter den Nagel zu reißen, und ihm einen japanischen Rachegeist auf den Hals gehetzt.** Kurz darauf waren die Ghouls erschienen und hatten ihm ihre Dienste angeboten.

Und plötzlich war es für Frederick Beauchart aufwärts gegangen.

Bis die Unheilsbringer aufgetaucht waren und mit ihnen die Russenmafia.

Die Kanisterköpfe hatten schon länger ein Auge auf London geworfen, doch mit Hilfe der Unheilsbringer und ihrer Galionsfigur Pandora war es ihnen gelungen, Beauchart an den Rand des Ruins zu treiben. Einige seiner besten Männer waren getötet worden. Schließlich war Pandora persönlich erschienen und hatte ihm ein Angebot unterbreitet, das er nicht ausschlagen konnte.***

Hätte er es getan, säße er jetzt nicht hier, in der Lounge eines exklusiven Yachtclubs, der seinem neuen Geschäftspartner gehörte. In gewissen Kreisen nannte man ihn bloß den Russen.

Ein brutaler Typ mit kantigem Schädel und kurz geschorenem Haar. Die solariumgebräunte Haut war von zahllosen Fältchen übersät und wirkte wie gegerbtes Leder. Der Russe war Mitte fünfzig, aber durchtrainiert und muskulös. Wer dem ans Bein pinkelte, musste schon Todessehnsucht haben.

Und wenn sämtliche Stricke rissen, gab es da noch Dimitri und Sviatoslav, seine beiden Wachhunde. Obwohl Beauchart bisweilen den Eindruck gewann, dass sie eher seinetwegen hier waren. Um aufzupassen, dass er spurte.

»Warum ziehst du so ein Gesicht, Freddy?« Der Russe lehnte sich zurück und stürzte den Espresso in einem Zug herunter. Die ohnehin schon winzige Tasse sah in seinen beringten Wurstfingern aus wie Zubehör aus der Puppenstube.

»Ich halte es für keine gute Idee, uns ausgerechnet hier mit unserem Geschäftspartner zu treffen.« Beauchart ließ den Blick durch die belebte Lounge schweifen, ehe er ihn durch das Panoramafenster auf die Themse lenkte. Das Licht der Herbstsonne warf funkelnde Reflexe auf die Wellen. Obwohl die Sonne schien, fegte ein scharfer Wind von Osten über das Land.

Kein gutes Omen, fand Freddy.

»Lass das mal ruhig meine Sorge sein«, erwiderte der Russe und stellte die Tasse ab. »Hauptsache dein Freund versetzt uns nicht.«

Beauchart war lange genug im Geschäft, um die Drohung hinter diesen Worten zu verstehen. Egal ob Cosa Nostra, Yakuza, Russen oder Kolumbianer. Die Regeln, auf denen die Macht der Kartelle und Organisationen fußte, waren überall dieselben.

Frederick hatte den Kontakt hergestellt, und er würde dafür geradestehen, sollte etwas schiefgehen. Ein nervöser Blick auf die Armbanduhr. Fünf Minuten noch bis zum vereinbarten Termin. Was, wenn sein Geschäftspartner beschloss, dass ihm dieser Treffpunkt zu belebt sei?

Der Russe war eindeutig gewesen. Ging die Transaktion sauber über die Bühne, hatte Beauchart ausgesorgt. Falls nicht, nun ... dann hatte er andere Sorgen. Und nicht nur er, auch seine Frau Natasha und sein Adoptivsohn Viktor würden sein Versagen ausbaden müssen.

Kein Wunder, dass er Blut und Wasser schwitzte. Sein Kopf glühte. Am liebsten hätte er das Jackett ausgezogen, fürchtete jedoch, dass man dann die Schweißflecken unter den Achseln sehen konnte. Und so schmorte er weiter vor sich hin, während der Zeiger der Uhr unaufhaltsam vorrückte.

Der Russe beugte sich vor und legte die Unterarme auf die Knie. Er trug eine weiße Hose und ein schwarzes Hemd. Im Gegensatz zu Freddy hatte er das Sakko ausgezogen und über die Lehne gehängt. »Ich hoffe, du hast unserem Freund die Dringlichkeit dieses Unternehmens deutlich gemacht. Ich vergeude nicht gerne meine Zeit.«

»Da sind wir ja schon zu zweit«, erklang die fremde Stimme schräg hinter dem Iron-Man.

Der erschrak so sehr, dass er unwillkürlich nach Luft schnappte. Aber nicht nur er wurde von der plötzlichen Ankunft des hochgewachsenen Mannes überrumpelt, auch Dimitri und Sviatoslav fuhren zusammen, ehe sie wie die Kastenteufel aufsprangen. Sie sahen aus, als wollten sie sich auf den Fremden stürzen.

Der schenkte den beiden Leibwächtern ein gewinnendes Lächeln. »Aber, aber, meine Herren. Kein Grund zur Aufregung. Setzen Sie sich wieder.« Er legte ihnen jeweils eine Hand auf die Schulter und drückte sie beinahe sanft in die Sessel zurück.

Widerstandlos ließen Dimitri und Sviatoslav es geschehen. Letzterer hatte sogar die Hand unter die Jacke geschoben, wo die Finger mit Sicherheit den Griff einer Waffe berührten.

Ihr Besucher aber schritt hinter Beauchart vorbei auf den freien Platz gegenüber dem Russen zu. Bevor er sich setzte, öffnete er das Jackett des maßgeschneiderten Anzugs. Ein Hauch von Ozon kitzelte Freddys Nase, der den Blick nicht von dem Fremden abwenden konnte. Persönlich war er ihm nie begegnet, der Kontakt war im Darknet geknüpft worden, wo der Knabe unter dem zweifelhaften Namen Metatron agierte.

Dabei war es nicht mal sein unvermitteltes Auftauchen, das den Iron-Man aus der Fassung brachte. Es waren die Stimme und sein Aussehen. Die markanten Züge, das blonde Haar, die blauen Augen. Im ersten Moment hatte Beauchart wirklich gedacht, dass Sinclair in ihre kleine Zusammenkunft geplatzt wäre. Bei genauerem Hinsehen erkannte er seinen Irrtum. Die Ähnlichkeit war unverkennbar, aber nicht so groß, dass der Fremde als Doppelgänger durchgegangen wäre.

Trotzdem hämmerte Beaucharts Herz so schnell wie ein Pferd im Galopp. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Er bekam Atemnot.

»Sie sollten vorsichtig mit dem Koffein sein.« Der Neuankömmling schlug die Beine übereinander und legte die Hände auf die Sessellehnen, wobei er sich neugierig umsah. »Hübsch haben Sie es hier.«

Der Russe zeigte seine Zähne. »Danke, Mister ...«

»Metatron.«

»Metatron«, wiederholte er. »Sonderbarer Name.«

»Kommt aus dem Griechischen.«

»Wie ein Grieche sehen Sie mir nicht gerade aus.«

»Und Sie nicht wie ein Antiquitätensammler.«

Der Russe schüttelte den Kopf. »Ich bin Geschäftsmann, kein Sammler. Wie auch immer Sie sich einen Solchen vorstellen. Was mich allerdings irritiert, ist, dass sie die Ware nicht dabei haben.«

»Erwarten Sie tatsächlich, dass ich mit dem Objekt in diesen ... Club spaziere?«

»Warum nicht?«

Metatron lachte, und es klang irgendwie klirrend. Beauchart rieselte es kalt über den Rücken, und selbst der Russe erschauerte. »Sie sind nicht der einzige Interessent. Dieses Artefakt ist von einem unschätzbaren Wert. Es ist ein Unikat. Und damit meine ich weder das Material noch die Verarbeitung. Es birgt Kräfte, die weit über Ihren Verstand hinausgehen.«

»Sofern es echt ist«, schränkte der Russe ein.

»Es ist echt«, versicherte Metatron.

»Und trotzdem sind Sie bereit, es zu veräußern?«

»Ich bin nur der Mittelsmann. Ich habe kein Interesse an irdischen Besitztümern. Aber ich verstehe Ihr Misstrauen. Sie zweifeln daran, dass ich das Artefakt besitze.«

»Würden Sie das an meiner Stelle nicht tun?«

»Absolut. Allerdings sind Sie bereit, das Risiko einzugehen. Allein, dass ich von der Reliquie weiß, gibt Ihnen zu denken. Wir sprechen schließlich nicht über den Heiligen Gral oder die Lanze des Longinus. Daher versteht es sich von selbst, dass ich es nicht per Flugzeug einfliegen lasse.«

»Sicher, der Zoll ...«

»Nicht nur der. Es gibt noch ein anderes Problem.«

»Sinclair«, mischte sich Freddy erstmals in das Gespräch ein.

Metatron wandte kurz den Kopf und deutete mit den Händen Beifall an. »Bravo, Mister Beauchart. Sie sind scharfsinniger, als Sie momentan aussehen.«

»Woher sollte Sinclair wissen, dass sich das Artefakt in London befindet?«

»Nun, unter anderem weil ich es ihm erzählen könnte.«

Der Russe lief rot an. »Wollen Sie mir drohen? Oder den Preis in die Höhe treiben?«

»Weder noch. Aber ich möchte Ihnen den Ernst der Lage vor Augen führen. John Sinclair ist nicht irgendein Polizist, das dürfte Ihnen doch klar sein.«

»Aber er ist ein Mensch. Sollte er uns in die Quere kommen, werden sich Dimitri und Sviatoslav um ihn kümmern.«

»Und genau das wäre Ihr Fehler. Ohne Sinclair ist das Artefakt wertlos.«

Beauchart hob die Brauen. Er verstand nur Bahnhof, aber offensichtlich verfügte dieser Metatron über Insiderwissen, das selbst der Russe nicht hatte.

»Wo befindet sich die Ware jetzt?«

»Auf einem Schiff. Es kommt aus Beirut und ankert zurzeit im Atlantik.«

Der Russe blickte verständnislos zwischen Beauchart und Metatron hin und her. »Erwarten Sie ernsthaft, dass ich aufs Meer hinausfahre?«

»Warum nicht?« Metatron deutete durch das Panoramafenster auf den Yachthafen hinaus. »Sind die Kutter da draußen nur Attrappen, oder fehlt es Ihnen lediglich an geeignetem Personal?«

»Weder noch ...«

»Prima«, unterbrach ihn Metatron abrupt und erhob sich. »Dann haben Sie ab jetzt genau vierundzwanzig Stunden Zeit, um Ihre Vorbereitungen zu treffen. Ich melde mich bei Mister Beauchart. Wir machen eine kleine Bootsrundfahrt, und ich gebe Ihnen, was Ihre Auftraggeberin so heiß und innig haben will.«

Der Russe wurde kreidebleich. »Woher ...?«

»Entschuldigen Sie mich, Gentlemen.« Metatron knöpfte das Jackett zu, deutete eine spöttische Verbeugung an und verließ die Lounge, ohne von einem der Angestellten oder den Gästen beachtet zu werden.

Erst jetzt fiel Beauchart auf, dass niemand sich nach seinen Getränkewünschen erkundigt hatte.

Schnurstracks eilte der geheimnisvolle Mister Metatron auf den Ausgang zu. Der Russe gab Dimitri und Sviatoslav einen Wink, ihm zu folgen. Wortlos gehorchten die Wachhunde ihrem Herrn, kehrten jedoch nach nicht einmal zwei Minuten mit langen Gesichtern zurück.

»Er war weg«, erstattete Sviatoslav Bericht.

»Wie weg?«, blaffte der Russe.

»Verschwunden, als hätte er sich ...«

»... in Luft aufgelöst«, folgerte Beauchart.

Dimitri und Sviatoslav nickten hastig. Der Russe fluchte. »Das darf nicht wahr sein. Seid ihr zu dämlich, einen einzelnen Mann zu verfolgen?«

Sviatoslav hob zu einer Rechtfertigung an, doch der Russe schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab und zückte sein Handy. Beauchart konnte sich denken, wo er jetzt anrief. Und es behagte ihm nicht. Ein säuerlicher Geschmack legte sich auf seine Zunge, sein Magen begann zu zwicken.

Morgen, hatte Metatron gesagt. In vierundzwanzig Stunden würde er wieder erscheinen. Für Frederik Beauchart hatte es sich wie ein Ultimatum angehört.

Carnegra fühlte sich beobachtet.

Und das nicht zum ersten Mal. Besonders intensiv war dieses Gefühl, sobald sie etwas aß. Zumindest wenn sie sich nicht an ihrer natürlichen Nahrung labte. Doch die Chance im White Rabbit Menschenfleisch zu bekommen, war verschwindend gering. Da hätte sie sich schon selbst bedienen müssen, und das widersprach eindeutig Chandras Politik, kein Aufsehen zu erregen.

Aber Carnegra gelüstete es ohnehin nicht nur nach Menschenfleisch. Je häufiger sie die Gestalt gewechselt hatte, desto mehr Gefallen hatte sie an den körperlichen Vergnügungen des irdischen Daseins gefunden. Essen stand dabei ziemlich weit oben auf ihrer Liste.

Momentan war es ein Fisch namens Heilbutt, der ihre menschlichen Geschmacksknospen zur Explosion brachte. Sie hätte am liebsten genießerisch die Augen geschlossen, hätte Chandra sie nicht misstrauisch beäugt.

»Was?«, nuschelte Carnegra.