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Sie mussten sterben!
Es gab keine andere Möglichkeit. Das Schicksal aller stand auf dem Spiel. Und wenn er sie nicht aufhielt, wer dann?
Könnte er sich doch nur jemandem anvertrauen ...
Nein, unmöglich. Das Risiko, dass der Feind ihm auf die Schliche kam, war viel zu groß. Selbst er vermochte sie ja kaum von gewöhnlichen Menschen zu unterscheiden. Das machte sie ja so gefährlich. Und deshalb durfte er auch nicht länger zögern.
Heute Nacht war es so weit ...
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Seitenzahl: 161
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Dämontopia
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Dämontopia
(Teil 1 von 4)
von Ian Rolf Hill
Sie mussten sterben!
Es gab keine andere Möglichkeit. Das Schicksal aller stand auf dem Spiel. Und wenn er sie nicht aufhielt, wer dann?
Könnte er sich doch nur jemandem anvertrauen ...
Nein, unmöglich. Das Risiko, dass der Feind ihm auf die Schliche kam, war viel zu groß. Selbst er vermochte sie ja kaum von gewöhnlichen Menschen zu unterscheiden. Das machte sie ja so gefährlich. Und deshalb durfte er auch nicht länger zögern.
Heute Nacht war es so weit. Heute Nacht würde er sie alle vernichten. Ja, vernichten. Auslöschen. Töten konnte man schließlich nur Tiere und Menschen, doch diese Kreaturen waren weder das eine noch das andere. Es waren Dämonen!
Geschöpfe, die sich anschickten, aus den Tiefen der Vergangenheit in die Gegenwart vorzustoßen, um Angst, Schrecken und Tod über die Menschheit zu bringen.
Zu Tausenden waren sie aus dem Götzenturm in die Leiber der Menschen gefahren. Erst hatten sie ihre Sprache verwirrt, dann ihre Gedanken. Auf dass Frauen und Männer übereinander herfielen wie Tiere, um sich in der Sünde zu suhlen.
Geschehen vor Tausenden von Jahren in einer Stadt, die heute unter dem Namen Babylon bekannt ist. Doch es gab noch einen anderen.
Dämontopia!
Toby Walsh hatte die Stadt gesehen. Mit eigenen Augen. Es hieß, sie sei nicht echt gewesen. Bloß das Produkt einer neuen, digitalen Technologie. Revolutionär lautete das Wort, das er in diesem Zusammenhang mehr als einmal gehört hatte.
Und auch er war anfangs begeistert gewesen.
Oh ja, er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er durch das aus blauen Ziegeln errichtete Ishtar-Tor getreten und über die Prachtstraße flaniert war.
Er hatte die Menschen gesehen, hatte ihren Unterhaltungen gelauscht, und war sogar selbst angesprochen worden, in einer Sprache, die er nicht verstanden hatte. Wozu auch? Er war ja ohnehin nur ein stummer Beobachter gewesen.
Toby Walsh hatte die vielfältigen Eindrücke in sich aufgesogen wie ein Schwamm das Wasser.
Sogar den warmen Wind hatte er auf der Haut gespürt. Er hatte nach Flieder, Zimt und Honig geschmeckt.
Dicht gedrängt hatten die Bewohner der Stadt Spalier gestanden, um die von prachtvollen weißen Pferden gezogenen Festwagen zu bestaunen, auf denen die Götter an den Menschen vorbeigezogen wurden. Allen voran der Stadtgott Marduk.
Ihm voraus war der König geschritten. Eingehüllt in edle Gewänder aus feinsten Stoffen, behängt mit Diamanten und wertvollem Geschmeide.
Aus dem Esangil, dem Marduk-Tempel, waren sie gen Norden gezogen, geradewegs zum Tor der Ishtar, durch das Toby Walsh das Stadtzentrum betreten hatte, um dem bunten Treiben beizuwohnen.
In der Mitte aber, in unmittelbarer Nähe des Esangil-Tempels, hatte sich für jedermann weithin sichtbar, die neunzig Meter hohe Zikkurat Etemenanki erhoben. Siebenstufig mit einer Krone aus blauem Ziegel. Marduks Heiligtum.
Oh, wenn diese Narren doch nur geahnt hätten ...
Was dann jedoch passiert war, würde Toby Walsh niemals mehr vergessen. Es hatte sich so tief in sein Gedächtnis gebrannt, dass er nur die Augen zu schließen brauchte, um die Geschehnisse erneut zu durchleben. Das Massaker zu sehen, das Blut zu schmecken, die Schreie zu hören.
Ruckartig hob er die Lider.
Nein, nein, nein, es führte kein Weg daran vorbei. Sollte London nicht dasselbe Schicksal erleiden wie Babylon, dann durfte er nicht zaudern. Er hatte ja schon alles vorbereitet. Die Kanister mit dem Benzin standen draußen im Kofferraum seines klapprigen Peugeots.
Er hatte nicht gewagt, sie nach unten in den Keller zu bringen, sondern extra auf Einbruch der Nacht gewartet. Jetzt, zwischen zwei und drei Uhr morgens, war der ideale Zeitpunkt für sein Vorhaben. Die meisten Nachtschwärmer lagen bereits in den Betten, und wer noch unterwegs war, würde erst bei Tagesanbruch in das Studentenwohnheim zurückkehren.
Darüber hinaus erreichte die Konzentrationsfähigkeit der Menschen um diese Zeit ihren Tiefstand. Falls doch noch jemand mit übermüdeten Augen über irgendwelchen Büchern, Skripten oder Mitschriften grübelte, war er mit sich beschäftigt und hatte gewiss Besseres zu tun, als durch die dunklen Gänge zu stromern.
Toby Walsh schwang die Beine vom Bett, schlüpfte in die bereitstehenden Schuhe und zog den Parker über. Er hatte sich gar nicht erst ausgekleidet.
Dreimal hatte jemand an die Tür geklopft, er hatte es ignoriert. Er konnte niemandem mehr vertrauen, absolut niemandem. Auch Handy und Laptop waren ausgeschaltet.
Bevor er das Zimmer verließ, vergewisserte er sich, dass das Feuerzeug und die Holzkeile in den Jackentaschen steckten, wo er sie am Nachmittag hineingetan hatte. Erst danach öffnete er die Tür und schob den Kopf durch den Spalt. Der Flur lag im Dunklen. Nur am Ende, dort, wo das Treppenhaus lag, schimmerte das grünweiße Licht der Notbeleuchtung.
Ein Fanal der Hoffnung.
Irgendwo dudelte leise Musik, ansonsten war es still. So still, dass er meinte, sein eigenes Herz klopfen hören zu können. Es wummerte und hämmerte in der Brust, als wollte es herausspringen.
Toby Walsh atmete ein letztes Mal tief durch, dann huschte er aus dem Zimmer. Die Tür zog er behutsam hinter sich ins Schloss, verriegelte sie aber nicht. Er würde ohnehin nicht mehr zurückkehren.
Eilig hastete er die Treppe hinunter. Niemand kam ihm entgegen. Perfekter konnte es gar nicht laufen. Doch das Schwierigste stand ihm noch bevor, das wusste er. Aber es gab nun mal kein Zurück. Jetzt oder nie.
Vor ihm, unterhalb des letzten Treppenabsatzes schimmerten die Fliesen des Hausflurs hell im Schein des Mondes, der sein Licht durch die verglaste Eingangstür schickte.
Es war eine klare, wolkenlose Nacht, in der man das Meer der Sterne hätte sehen können, würde die Stadt nicht mal wieder unter einer Dunstglocke liegen, die das Atmen tagsüber zur Qual machte. Selbst jetzt war es drückend warm. Eigentlich hätte Toby den Parka gar nicht gebraucht, doch irgendwie fühlte er sich mit der Jacke wohler, sicherer.
Das Schmatzen, mit dem sich die Gummidichtung der Eingangstür aus dem Rahmen löste, fuhr dem Studenten durch Mark und Bein. Unwillkürlich verharrte er und warf einen Blick auf die zweite Tür, hinter der sich der Korridor des unteren Wohntrakts erstreckte.
Dort rührte sich nichts.
Warum auch? Es war keineswegs ungewöhnlich, dass jemand die Tür öffnete. Selbst um diese Zeit nicht. Es hieß, dass London eine Stadt sei, die nie zur Ruhe kam, die niemals schlief.
Besonders in der Innenstadt pulsierte das Leben die ganze Nacht über, gingen die Menschen sündigen Vergnügungen nach.
Das Studentenwohnheim war das beste Beispiel. Statt zu lernen und sich auf ihre Studien zu konzentrieren, hurten die Weiber herum, boten ihre Körper feil wie Nutten auf dem Straßenstrich. Ließen sich von fremden Männern besteigen wie Zuchtstuten.
Toby dachte an die Musik, die er drei Stockwerke höher, auf dem Flur gehört hatte. Auch dort wurde vermutlich gerade Unzucht getrieben. Kein Wunder, dass die Welt vor die Hunde ging.
Wie arrogant die Menschen doch auf ihre Vorfahren im Mittelalter und der Antike herabblickten und sich für ihre Errungenschaften feierten und rühmten, während sie die Luft mit Abgasen verpesteten und ihre Körper mit Drogen vergifteten.
Toby Walsh bebte vor kaum verhohlenem Zorn. Beinahe fluchtartig verließ er das Studentenwohnheim, rannte hinüber zum Parkplatz und nestelte die Schlüssel aus der Jackentasche.
Seine Hände zitterten so stark, dass ihm der Bund aus den schweißfeuchten Finger rutschte und zu Boden fiel. Rasch hob er ihn auf. Ehe er das Schloss öffnete, sah er sich um, ob auch ja niemand das Geräusch gehört hatte.
Leise quietschend schwang der Kofferraumdeckel in die Höhe und gab den Blick frei auf zwei Zehn-Liter-Kanister. Prall gefüllt mit Benzin, das er noch heute Nachmittag von einer Tankstelle geholt hatte. Daneben lagen gummiummantelte Kettenschlösser für Fahrräder.
Die nahm Toby zuerst heraus und hängte sie sich um den Hals. Anschließend hob er die Kanister aus dem Kofferraum und stellte sie behutsam neben sich ab, bevor er den Deckel vorsichtig wieder ins Schloss drückte. Dass es nicht vollständig einrastete, kümmerte den Studenten ebenso wenig, wie seine unverriegelte Wohnungstür.
Er hob die Kanister an und eilte zurück ins Wohnheim.
Zum Glück brauchte er nicht den ganzen Weg nach oben zu laufen. Schließlich musste er sichergehen, dass niemand entkam. Deshalb blieb er hinter der Eingangstür stehen und legte das erste Kettenschloss um die Plastikbügel.
Mit beiden Händen überprüfte er, ob das Schloss auch wirklich eingerastet war.
Dann zog er die Tür zum Flur des Erdgeschosses auf und verkeilte sie. Jetzt das Benzin. Vor dem ersten Kanister ging er in die Hocke und schraubte ihn auf. Der scharfe Geruch ließ Tobys Herz schneller schlagen.
Er verspürte keine Reue, im Gegenteil. Es gab keinen anderen Weg. Er tat das einzig Richtige. Mit beiden Händen packte er den Kanister und verteilte den Inhalt im Treppenhaus. Nicht viel, gerade genug, um der panischen Meute den Weg abzuschneiden.
Toby hob den Kanister an und bewegte sich rückwärtsgehend durch den Flur. Dabei schwenkte er den offenen Behälter vor sich her wie ein Priester das Weihrauchfass. Der hochentzündliche Treibstoff klatschte gegen Wände und Türen.
Hinter einer von ihnen erklangen eindeutige Geräusche. Ein abgehacktes Stöhnen, begleitet von grunzenden Lauten und dem rhythmischen Klatschen von Fleisch gegen Fleisch.
Toby Walsh verzog das Gesicht. Hätte es noch eines weiteren Anspornes bedurft, er hätte ihn eben bekommen. Dieser Dämonenbrut musste der Garaus gemacht werden.
Die Hure Babylon musste brennen!
Hastig leerte er den Kanister. Es reichte nicht ganz bis zur Biegung des langgestreckten Korridors, wo sich auch der Aufenthaltsraum und die Küche befanden. Hier knickte der Flur in einem Neunzig-Grad-Winkel ab und führte geradewegs auf die zweite Tür zu.
Dort verteilte Toby den Inhalt des nächsten Kanisters, bevor er mit dem übrig gebliebenen Kettenschloss auch diese Tür verriegelte. Dann nahm er den Benzinbehälter, in dem noch ein Rest Flüssigkeit schwappte, und marschierte zurück zur Biegung, wo er den leeren Kanister stehen gelassen hatte.
Ein letzter Blick die beiden Flure entlang, dann stemmte er den Behälter hoch über den Kopf und goss sich das restliche Benzin über den Körper.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, hinter der er eben noch das Grunzen und Stöhnen der beiden Unzuchttreibenden vernommen hatte. Ein junger Kerl mit gegelten Haaren, nackt bis auf Boxershorts, erschien in dem hellen Rechteck, das aus dem Zimmer in den Flur fiel.
»Was ist denn hier los?«
Toby Walsh ließ die Arme mit dem jetzt leeren Kanister sinken.
Das Benzin sickerte durch die Haare über das Gesicht und brannte in den Augen. Der beißende Gestank raubte ihm den Atem.
Trotzdem schaffte er es noch, dem Hurenbock, der mit einem großen Schritt den Flur betrat, um den Lichtschalter an der gegenüberliegenden Wand zu betätigen, eine Antwort zu geben. Hinter dem Kerl erschien seine Gespielin. Lediglich bekleidet mit einem viel zu weiten T-Shirt, das wahrscheinlich ihm gehörte. Ob sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, ein Höschen überzuziehen?
»Die gerechte Strafe für euch gottlose Sünder!«, rief Toby Walsh, während über ihm die Leuchtstoffröhren anfingen zu flackern.
»Was zum ...?« Der halbnackte Kerl drehte sich um, ließ den Blick über Türen und Wände bis hin zu Toby wandern.
Seine Hure rümpfte die Nase. »Elliot, das ... das ist Benzin.«
Ihre Stimme klang schrill. Offenbar ahnte sie, was hier vor sich ging. Aus dem Augenwinkel sah er, wie eine weitere Tür aufgezogen wurde.
Jetzt schnell, bevor noch das ganze Haus wach wurde.
Toby ließ den leeren Benzinkanister fallen und tastete nach dem Zippo.
Elliots Augen weiteten sich. »Was hast du vor?«
Dämliche Frage, dachte er und kämpfte gegen den Hustenreiz an, den die Dämpfe in ihm auslösten. Für einen kurzen Moment fühlte er ein leichtes Bedauern, doch dann hatte er sich wieder im Griff. Seine Finger schlossen sich um das Feuerzeug, zogen es aus der Tasche des Parkers und ließen es aufschnappen.
»Du Wahnsinniger!«, keuchte der halbnackte Schönling.
Hinter sich hörte Toby einen erstickten Schrei. Die Hure im T-Shirt dagegen fing an zu quieken wie ein Schwein, das zur Schlachtbank geführt wurde.
Ihr Stecher wollte sich auf ihn stürzen, doch das Weib hielt ihn fest. »Elliot, nicht! Lass uns abhauen ...«
Aber so leicht würden sie nicht davonkommen.
Triefend vor Benzin, mit dem aufgeklappten Zippo in der Hand, stürmte er auf das Pärchen zu. Sie taumelte zurück ins Zimmer. Elliot jedoch wollte den Helden spielen. Er riss sich los und warf sich auf Toby Walsh.
»Tod der Hure Babylon!«, brüllte dieser.
Dann entfachte er das Inferno.
»Schachmatt!«
Der Engel beugte sich vor und betrachtete eingehend das Spielfeld. Er kniff die Lider zusammen, blinzelte, dann hob er den Blick und spähte am König vorbei auf sein Gegenüber, das die Lippen zu einem süffisanten Grinsen verzogen hatte.
»Du hast doch geschummelt!«
Die nackte Frau mit der bläulich schimmernden Haut richtete sich auf. Ihr üppiger Busen wölbte sich nach vorne, zwischen den schwarzen Haaren knisterten winzige Entladungen.
»Mein lieber Metatron, wir spielen Schach. Schummeln hätte ich nur dann können, wenn du nicht aufmerksam gewesen wärst.« Obwohl sie die Worte nur hauchte, klirrten sie wie zerbrechendes Glas. »Tatsache ist jedoch, dass du immer wieder denselben Fehler machst. Dabei weißt du doch, welche die wichtigste Figur in diesem Spiel ist.«
Lilith fletschte die Zähne, ergriff die schwarze Dame, wofür sie nur die krallenartigen Fingernägel benutzte, und hob sie an. Mit dem Sockel stieß sie gegen den weißen König, der in einer Wolke aus Asche zerstob.
Metatron zuckte zusammen und richtete sich nun ebenfalls auf. »Ich verlange Revanche.«
»Egal wie oft du gegen mich antrittst, du wirst immer verlieren.« Sie neigte das Haupt zur Seite. »Es sein denn, ich lasse dich gewinnen. Allein, weil es meinen Zielen dient oder mir Spaß bereitet.«
»Sei dir da mal nicht zu sicher. Ich bin ein guter Schüler. Und ich lerne schnell.«
»Fürwahr. Einstweilen schlage ich vor, du spielst noch ein wenig mit Matthias. Oder Moloch. Das täte deinem empfindlichen Ego sicherlich besser.«
Metatron machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das sind keine würdigen Gegner. Da könnte ich genauso gut gegen mich selbst spielen.«
»Jetzt weißt du, wie es mir geht.«
Lilith erhob sich. Ihr knisterndes schwarzes Haar, dessen Strähnen ein gespenstisches Eigenleben zu führen schienen, verschmolz mit den lichtlosen Schatten dieser Welt, sodass der Eindruck entstand, ihr Haupt wäre kahl.
Die Große Mutter wandte sich ab und Metatron ihr pralles Gesäß zu. »Sorge dafür, dass alles nach Plan verläuft, dann werde ich so oft gegen dich spielen, wie du willst.« Ein Blick über die Schulter zurück. »Und gewinnen.«
Ihre gespaltene dunkelblaue Zunge glitt über die dunkel umrandeten Lippen, an denen winzige scharfkantige Kristalle wucherten. Sie hob den linken Arm, stieß die Krallen von Daumen und Zeigefinger in die Schwärze und zupfte daran. Ein Spalt klaffte in der Unendlichkeit. Helles Licht erstrahlte dahinter, ohne die Finsternis zu vertreiben.
Die sich zuckenden, schlängelnden Haare der Urmutter strebten darauf zu. Wie Eisen, das von einem Magneten angezogen wurde.
»Warte«, rief Metatron, und sprang auf. »Wie wäre es, wenn ich den Einsatz erhöhe?«
Lilith verharrte. »Ich höre!«
Ein Lächeln huschte über die Lippen des Engels. Für wie klug sie sich doch hielt. Dabei war sie nicht weniger berechenbar als all die anderen Mächtigen.
»Ich sage nur ein Wort: Engelstöter!«
Die Große Mutter sprach den Namen in derselben Sekunde aus wie ihr Gegenspieler. Metatrons Lächeln gefror. Er knirschte mit den Zähnen.
»Es ist mein Ernst. Du bekommst ihn. Ich verrate dir, wo er ist.«
Da ließ Lilith den Arm sinken und drehte sich wieder zu ihm um. »Aber mein lieber Metatron. Das weiß ich doch schon längst.«
Die Augen des verstoßenen Erzengels weiteten sich kaum merklich. Stimmte das? Oder bluffte sie nur? Selbst für ihn war es schwer, zu erkennen, ob sie log oder die Wahrheit sprach. War es bei Kreaturen wie ihr ja immer. Schnell gewann er seine Fassung zurück.
»Mag sein, aber ohne mich kommst du nicht an ihn heran.«
»Das stimmt nicht ganz. Und das weißt du auch. Möglicherweise brauche ich Unterstützung, aber nicht zwingend von dir. Gleichwohl ...«, sie machte eine auffordernde Handbewegung in Richtung Spielbrett, wo wie aus dem Nichts ein neuer weißer König erschien, »... gewähre ich dir eine weitere Stunde meiner Gunst.«
Metatron seufzte larmoyant. »Ich versichere dir, dieses Mal wird es länger dauern.«
Lilith schloss den Spalt in der Schwärze. Schattengleich glitt sie auf einen der beiden Throne, die vor dem Steintisch aufragten, auf dessen Platte das Schachbrett stand.
Mehr existierte nicht auf dem kargen Felsbrocken, der durch die Unendlichkeit dieser Welt driftete, in der sich die Mächtigen trafen, um zu spielen und zu verhandeln.
Hier wurde nicht gekämpft, hier wurde intrigiert.
Niemand wusste das besser als er, der Metatron. Die Stimme Gottes. Der verstoßene Erzengel, der fest entschlossen war, seinen Platz in den Reihen der höchsten himmlischen Boten einzunehmen, koste es, was es wolle.
Und seine Chancen standen nie besser.
Metatron besaß nämlich den sagenumwobenen Engelstöter, jenes Schwert, mit dem der Erzengel Michael angeblich den abtrünnigen Luzifer aus den himmlischen Gefilden vertrieben und in die Verdammnis gestoßen hatte. Samt seiner höllischen Entourage, zu der im Übrigen auch Lilith gehörte, die Geliebte des Luzifer.
Wie der gefallene Engel, so sann auch sie, die erste Hure des Himmels, auf Rache. Und er, der Metatron, konnte sie ihnen verschaffen. Auf eine Weise, wie es Tausend Legionen von Dämonen nicht vermochten.
»Worauf wartest du?« Liliths Frage klang spöttisch. »Brauchst du eine Extraeinladung?«
»Gewiss nicht«, erwiderte er, und nahm wieder Platz.
Seine Fingerspitzen näherten sich der ersten Figur, einem Bauern, als erneut ein Spalt in der endlosen Schwärze aufklaffte. Wie eine Wunde, aus der statt Blut blendend weißes Licht suppte. So rein und voller Güte, dass es in Metatron umgehend ein Gefühl der Sehnsucht und Geborgenheit hervorrief.
Engelslicht.
Und darin zeichnete sich eine hochgewachsene Gestalt ab, eingehüllt in einen dunklen Mantel, der sie wie eine Glocke umgab. Wie an unsichtbaren Schnüren hängend, schwebte sie näher, und ehe sich Metatron versah, stand der Neuankömmling vor dem Tisch mit dem Schachbrett, genau zwischen ihm und Lilith.
Das Geräusch, das aus ihrem Mund drang, erinnerte tatsächlich an das Zischen einer Schlange.
Auch sie hatte den Mann mit den markanten, glatt rasierten Gesichtszügen längst erkannt und spie seinen Namen aus wie etwas Unanständiges.
»Raniel!«
Der Gerechte!
Metatron lehnte sich zurück, schloss die Augen und legte sogar eine Hand auf das Gesicht. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Was willst du denn hier?«, fuhr Lilith fort.
»Mit dir sprechen!« Sein Blick wanderte zu Metatron, der die Lider wieder geöffnet hatte und durch die Finger der gespreizten Hand linste. »Mit euch beiden.«
Der verstoßene Erzengel seufzte. »Tja, aber ich nicht mit dir. Hast du das Schild nicht gelesen? Spielverderber müssen draußen bleiben.«
»Für euch mag es nur ein Spiel sein, doch für die Menschen geht es um Leben und Tod.«
Lilith warf den Kopf in den Nacken und lachte. Laut und scheppernd. Raniel verzog nicht eine Miene. Mit sprichwörtlicher Engelsgeduld wartete er, bis der Heiterkeitsausbruch vorbei war, dann nickte er langsam.
»Lach so viel du willst, aber auch für dich kann es gefährlich werden.« Der Gerechte trat näher an die Urdämonin heran. »Ich beobachte schon seit Längerem, was du hier treibst, und ich ahne, was du vorhast. Hast du wirklich geglaubt, es würde uns entgehen?«
Die Große Mutter starrte Raniel aus hervorquellenden Augen an. Auch ihr abstoßend schönes Antlitz blieb unbewegt. Schließlich zog sie die Mundwinkel leicht nach unten, was ihr einen hochmütigen Ausdruck verlieh. »Na und? Warum sollte es mich interessieren, was deinesgleichen von mir und meinen Plänen hält?«
»Weil wir nicht zulassen werden, dass du den Engelstöter in Besitz nimmst.«
»Fürchtest du um dein Leben, Raniel?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte um das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Ich fürchte um die Stabilität sämtlicher Welten und Dimensionen. Was du vorhast, rüttelt an den Grundfesten der Schöpfung, an den ehernen Gesetzen des Lebens.«