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Mit einem Schrei des Entsetzens auf den Lippen fuhr ich auf.
Mein Herz hämmerte wie wild, kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Mir war so schlecht, dass ich mich am liebsten übergeben hätte.
Warum wollte die Angst nicht weichen?
Bevor ich dazu kam, näher über diese Frage nachzudenken, erschien eine zierliche Gestalt in der Öffnung. Ein Mädchen, das auf der Schwelle zum Erwachsenendasein stand.
"Was ist los?", fragte es besorgt. "Du ... du starrst mich an, als würdest du mich heute zum ersten Mal sehen. Erkennst du denn eigene Tochter nicht mehr?"...
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Seitenzahl: 163
Cover
Ich, Hesekiel
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Ich, Hesekiel
(Teil 2 von 4)
von Ian Rolf Hill
Mit einem Schrei des Entsetzens auf den Lippen fuhr ich auf.
Mein Herz hämmerte wie wild, kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Mir war so schlecht, dass ich mich am liebsten übergeben hätte.
Um es kurz zu machen, mir war hundeelend zumute.
Trotzdem verspürte ich auch eine tiefe Erleichterung. Dem Herrn sei gedankt, es war nur ein Traum gewesen. Das Neujahrsfest, die schwarzen Wolken, die Panik, das Ungeheuer – all das war nicht wirklich passiert, obwohl es sich so angefühlt hatte.
Doch warum wollte dann die Angst nicht weichen?
Bevor ich dazu kam, näher über diese Frage nachzudenken, wurde das Tuch, das anstelle einer Tür vor dem Eingang meiner Kammer hing, zur Seite gerissen. Eine zierliche Gestalt erschien in der Öffnung. Ein Mädchen, das auf der Schwelle zum Erwachsenendasein stand.
»Aselya?«
»Was ist los?«, fragte sie besorgt. »Du ... du starrst mich an, als würdest du mich heute zum ersten Mal sehen. Erkennst du denn eigene Tochter nicht mehr?«
Steif wie eine Puppe saß ich auf der schlichten Bastmatte und bekam kein Wort heraus. Tausend Gedanken wirbelten durch meinen Kopf.
Sie drehten sich nicht allein um den Begriff Tochter, der sich irgendwie falsch anfühlte, sondern auch um die Sprache, mit der sie mich angesprochen hatte. Die Worte klangen fremd und gleichzeitig doch vertraut, so als hätte ich sie schon mein ganzes Leben lang gesprochen und buchstäblich mit der Muttermilch aufgesogen.
Dabei konnte ich mich beim besten Willen nicht an meine Mutter erinnern. Genau genommen konnte ich mich an gar nichts erinnern. Weder wer ich war noch wo ich mich befand. Erst beim Anblick des Mädchens, es mochte vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt sein, blitzte eine Erinnerung in mir auf. Instinktiv wusste ich den Namen des Kindes, das jetzt auf mich zukam und vor mir zu Boden sank, wobei es die Hände auf mein Knie legte.
»Papa, was ist mit dir?«
Angst schwang in der Stimme des Mädchens mit. Seine Augen flackerten. Aselya machte sich Sorgen, und es brach mir das Herz.
Der helle Leinenkaftan war etwas zu groß für ihre schmächtige Figur und bildete einen starken Kontrast zu ihrer braunen Haut, unter der sich die Schlüsselbeine deutlich hervorhoben. Dichte Brauen über nicht minder dunklen Augen machten ihr Gesicht noch ausdrucksstärker, als es ohnehin schon war.
»Hast du wieder einen schlimmen Traum gehabt?«
Ich senkte den Kopf, legte meine Hand auf ihr dichtes, schwarzes Haar, das in Wellen auf die schmalen Schultern fiel.
»Einen Traum? Ja, ich ... ich hatte einen Traum. Von Babylon. Und ...« Ich stutzte, denn mir war eine weitere Einzelheit eingefallen. »Semiramis!«
Aselyas Auge wurden noch größer. »Du ... du hast von Semiramis geträumt?«
»Ja, wir ... wir waren zusammen auf dem Neujahrsfest und ...«
Das schallende Gelächter meiner Tochter unterbrach mich. Zornig sah ich sie an.
»Was gibt es denn da zu lachen?«
Das Mädchen stand auf und legte seine Hände an meine Wangen, die von einem dichten Bart umwuchert wurden. »Entschuldige, Papa. Aber das war wohl wirklich nur ein böser Traum.«
»Natürlich war es nur ein Traum. Das sagte ich doch.«
»Sicher, es ist auch nur, weil ... weil du doch in deinen Träumen oft kommende Ereignisse voraussiehst. Warum sollte sich die Frau des Königs ausgerechnet für dich interessieren? Du bist doch bloß ein Gefangener. So wie wir alle. Das Volk von Zion.«
Ruckartig hob ich den Kopf und blickte meiner Tochter in die Augen. Was redete sie denn da für wirres Zeug? Doch tief in meinem Innersten wusste ich, dass es überhaupt nicht wirr war, was sie da sagte. Ohne auf Aselyas Worte einzugehen, erhob ich mich. Ich ging auf den Vorhang zu, schlug ihn beiseite und fand mich in einem großen, fensterlosen Raum wieder, spärlich möbliert, mit einem tönernen Ofen, in dem ein winziges Feuer knisterte.
Der Duft von frisch gebackenen Weizenfladen hing in der Luft.
Mein Magen knurrte, das Wasser lief mir im Munde zusammen.
Mannigfaltige Geräusche einer erwachenden Stadt waren durch die geschlossene Tür zu hören. Ich vernahm das Klappern von Ochsenkarren und Pferdefuhrwerken. Hufe auf festgestampfter Erde, das Gackern von Hühnern. Irgendwo krähte ein Hahn. Und dazwischen das Schwatzen und Rufen meiner Mitbürger.
Mit hastigen Schritten durchquerte ich den Raum und stieß die Tür auf.
Ein dürrer Mann mit fusseligem Bart führte einen mit Trögen beladenen Karren, der von zwei kräftigen Ochsen gezogen wurde, an meinem Haus vorbei. Er lächelte mir freundlich zu, wobei er ein lückenhaftes Gebiss entblößte.
Ich beachtete den Mann gar nicht, meine Aufmerksamkeit wurde von den Gebäuden beansprucht, die die Straße säumten. Sie waren aus Holz und Lehm errichtet, Palmwedel bedeckten die Dächer. Im Osten, dort, wo die Sonne aufging, erhob sich schattenhaft ein riesiges Gebilde, das weit über die anderen Bauwerke hinausragte.
Ein siebenstufiger Tempel, auf dessen Spitze ein mit blauen Ziegelsteinen verziertes Heiligtum thronte. Nur konnte ich das von hier aus natürlich nicht erkennen. Ich wusste es einfach. Genau wie ich den Namen des Tempels kannte, der turmhoch in den Himmel ragte.
Etemenanki.
Er hatte jedoch noch einen anderen Namen, bei dem es mir kalt den Rücken hinunterrieselte. Der Turm zu Babel. Aus ihm war in meinem Traum der siebenköpfige Drache gekrochen.
Mit einem Mal prasselten die Erinnerungen wie Hagelkörner auf mich ein. Plötzlich wusste ich wieder, wer ich war und woher ich stammte. Nicht von hier, so viel stand fest. Hierher hatte man mich vor einigen Jahren verschleppt, nachdem die stolze Stadt Jerusalem gefallen und der Tempel Zion zerstört worden war.
Dort war meine Heimat gewesen, denn ich war ... Hesekiel.
Und dies ist meine Geschichte.
London, Gegenwart
Wie betäubt starrte Suko auf den leblosen Körper John Sinclairs. Der Inspektor konnte es noch immer nicht fassen.
Sein Partner, sein bester Freund, war tot!
Er war nicht erschossen oder erstochen worden. Man hatte ihm auch nicht das Genick gebrochen oder ihn erdrosselt. Er war vom Stuhl gekippt. Einfach so.
Obwohl, so einfach nun auch wiederum nicht. Suko dachte darüber nach, was er in den letzten Minuten erlebt hatte. Es war verdammt viel gewesen. Erst der Kampf mit Liliths Vollstreckerinnen, dann die Auseinandersetzung mit der Großen Mutter selbst. In Gestalt der Schamanin Isabell hatte sie dem verstoßenen Engel Metatron Kraft entzogen, um sie durch ihr geheimnisvolles Zepter in den Körper des Geisterjägers zu pumpen, der stocksteif auf einem Stuhl gesessen und anscheinend nichts von seiner Umgebung mitbekommen hatte.
Was zum Teil an der VR-Brille gelegen haben mochte, die er getragen hatte. Gefangen in einer virtuellen Realität. Genau dadurch war der Fall erst ins Rollen gekommen.
Raniel, der Gerechte, war bei John erschienen, um ihn vor einer großen Gefahr zu warnen. Lilith stand nicht nur kurz davor, die vier Engel der Unzucht und Hurerei zu erwecken, sie wollte auch den sagenumwobenen Engelstöter in ihre Gewalt bringen. Jenes Schwert, mit dem der Erzengel Michael angeblich Luzifer in die Verdammnis gestoßen hatte.
Dieses Schwert befand sich im Besitz von Metatron, der sich mit seiner Hilfe selbst zum Erzengel erhöhen wollte, indem er die Waffe gegen seine Brüder einsetzte. Das befürchtete zumindest Raniel.
Niemand wusste, wo Metatron den Engelstöter versteckt hatte. Ein Hinweis sollte angeblich im Startup-Unternehmen M-Tronic zu finden sein. Die Firma beschäftigte sich mit der Rekonstruktion antiker Städte durch virtuelle Realität. Darunter auch Babylon, wo die vier Engel der Unzucht und Hurerei verehrt worden waren.
Bevor Suko und John sich um M-Tronic kümmern konnten, hatte Sir James ihnen den Auftrag erteilt, zunächst in einem andere Fall zu ermitteln. Ein Informatik-Student war Amok gelaufen und hatte ein Studentenwohnheim angezündet. Seine letzten Worte: »Tod der Hure Babylon!«
Weder John noch Suko hatten dabei an einen Zufall geglaubt, umso weniger, als Glenda herausfand, dass Toby Walsh zuvor ein Praktikum bei M-Tronic gemacht hatte.
Statt jedoch auf seinen Freund zu warten, der im St. Mary's Hospital eine Zeugin vernahm, hatte sich John allein auf den Weg gemacht. Über die Gründe konnte Suko bloß spekulieren. Ihn selbst konnte er schließlich nicht mehr fragen, denn nachdem er ihm die VR-Brille vom Kopf gerissen hatte, war John bereits vom Stuhl gekippt.
Lilith und Metatron waren verschwunden. Es gab nur noch ihn, Raniel – und Gabrielle Bernstein, die CEO von M-Tronic. Am gestrigen Abend waren John und er noch davon ausgegangen, dass es sich bei ihr um eine Helferin von Metatron handelte. Jetzt deutete jedoch alles darauf hin, dass Suko es bei ihr mit einer Dienerin von Lilith zu tun hatte, einem Kind der Großen Mutter. Vielleicht sogar mit einer ihrer Vollstreckerinnen, einer Tochter des Kain.
Wenn ihnen jemand Antworten geben konnte, dann sie.
»Suko, ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Der Inspektor erwachte wie aus einer tiefen Trance. Langsam, wie in Zeitlupe, hob er den Kopf und sah Raniel in die Augen. Der Engel hielt Sukos Blick nur mühsam stand. Der hatte nicht vergessen, wie brutal und rücksichtslos er gegen Liliths Vollstreckerinnen vorgegangen war, bei denen es sich um Menschen handelte.
Verblendet und gewissenlos zwar, aber immerhin Menschen.
Dass Raniel dem Inspektor durch sein schnelles Eingreifen das Leben gerettet hatte, hatte Suko keineswegs vergessen, nur rechtfertigte das noch lange nicht die brutale Ermordung von fünf Frauen, unter denen sich vermutlich auch ihre alte Freundin Karina Grischin befunden hatte, die sich von ihnen abgewendet und Lilith angeschlossen hatte.
Dafür würde er Raniel zur Rechenschaft ziehen, das schwor Suko sich. Momentan hatte er jedoch andere Sorgen. Das Letzte, was er für seinen Freund tun konnte, war, seine Augen zu schließen. Dann sprang er auf, um sich um Gabrielle Bernstein zu kümmern.
Raniel stand ihm dabei im Weg.
Rücksichtslos stieß er den Gerechten zur Seite. Da Suko noch immer die magischen Handschuhe des Drachengottes trug, mit denen er versucht hatte, John zu retten, wurde die Kraft seines Stoßes um ein Vielfaches potenziert. Raniel taumelte zurück und prallte gegen den Aktenschrank, der als Raumtrenner diente.
Davor lag auch die junge Frau, die versucht hatte, Suko mit einem Blumenkübel den Kopf einzuschlagen. Dem Inspektor war nichts anderes übrig geblieben, als sie mit einem Tritt außer Gefecht zu setzen. Sie war zu Boden gestürzt, wo sie noch immer regungslos lag. Sukos Magen verkrampfte sich bei dem Anblick. So fest hatte er doch gar nicht zugetreten, oder?
Ihm wurde speiübel.
Gabrielle Bernstein lag verkrümmt auf dem Rücken, Arme und Beine schlaff neben dem Körper. Ihr Kopf war unnatürlich weit nach hinten gebogen, der Hals gewunden wie ein Korkenzieher, die Haut dunkelblau angelaufen.
Neben der Toten ging Suko in die Hocke. Es kostete ihn einiges an Überwindung, den Hals zu berühren. Er fühlte sich eiskalt, weich und schwammig an. Man hatte der Frau nicht einfach nur das Genick gebrochen, ihre Halswirbelsäule war regelrecht zertrümmert worden.
Nein, das konnte unmöglich eine Folge seines Trittes sein. Suko ahnte, wer dafür die Verantwortung trug.
Lilith hatte die Zeugin zum Schweigen gebracht. Warum sie sie nicht einfach mitgenommen hatte, darüber konnte Suko nur Vermutungen anstellen. Möglicherweise wollte die Große Mutter ihnen auf diese Weise ihre Überlegenheit demonstrieren. Dass sie bereit war, für ihre Ziele Opfer zu bringen. Wobei Suko bezweifelte, dass Lilith die Tötung einer Dienerin wirklich schwerfiel.
Doch was auch immer die Dämonin für ein Motiv gehabt hatte, es änderte nichts daran, dass sie damit sämtliche Spuren beseitigt hatte.
Der Inspektor sackte auf die Knie und ließ die Schultern hängen. Er machte sich nichts vor. Es war ohnehin vorbei. Sie hatten verloren. Die Hölle hatte gesiegt. Ihr größter Feind, der Sohn des Lichts, war tot!
Ohne John und sein silbernes Kreuz konnten sie den Kampf unmöglich gewinnen, das wurde Suko schlagartig bewusst. Zwar war es auch in anderen Händen eine mächtige Waffe, sein gesamtes Potenzial ließ sich jedoch nur durch die Formel oder das Anrufen der vier Erzengel entfesseln, und dazu war ausschließlich der Sohn des Lichts imstande.
Eben John Sinclair, für den das Kreuz geschaffen worden war.
Vor über 2500 Jahren von einem Propheten namens Hesekiel in Babylonischer Gefangenschaft.
Das Kreuz!
Er musste es an sich nehmen, ebenso wie die anderen Waffen. Der Bumerang lag dort, wo Suko ihn fallen gelassen hatte, nachdem er Liliths Zunge zerschlagen hatte. Noch jetzt glaubte er, ihren Würgegriff an seinem Hals zu spüren.
Ebenso wie das Brennen auf der Haut, dort, wo ihn das Dämonenblut erwischt hatte. Es verschwand erst, als er mit den Handschuhen über sein Gesicht strich. Danach zog er sie aus und verstaute sie in der Innentasche des Sakkos.
Raniel stand noch genau an der Stelle, wo Suko ihn mit seinem Stoß hin befördert hatte. Der musste sich erst räuspern, ehe er ein Wort über die Lippen bekam.
»Was ist hier gerade passiert?«
»Ich ...« Raniel wandte den Kopf ab, um John anzusehen. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht.«
Da brannten bei Suko die Sicherungen durch. Er packte den Gerechten an den Mantelaufschlägen und schüttelte ihn durch.
»John ist tot!«, brüllte er ihm ins Gesicht. »Und du hast nichts weiter dazu zu sagen, als ›ich weiß es nicht‹?«
Raniels Miene versteinerte, für einen Moment funkelte es silbrig in seinen Augen auf. Ein Zeichen dafür, dass die Engelskraft wirksam wurde. Suko wusste, dass er im Zweikampf kaum eine Chance gegen den Gerechten hatte, aber er wollte sich auch nicht einschüchtern lassen.
Sein Blick fiel auf das Blut, das den Stoff des altmodischen Rüschenhemdes benetzte.
Suko erinnerte sich, dass draußen auf dem Flur noch weitere Tote lagen.
Wütend zerrte er Raniel zu sich heran und stieß ihn durch die Lücke zwischen den beiden Aktenschränken hindurch auf die zerschmetterte Tür zu, hinter der die Leichen von fünf vermummten Frauen ruhten.
Ein Hauch von Ozon lag in der Luft und zeugte von den gewaltigen Energien, die hier eben noch getobt hatten und von Lilith und Metatron entfesselt worden waren.
Glassplitter knirschten unter den Schritten der beiden Männer.
Raniel trat zwischen die Körper und breitete die Arme aus. »Was willst du von mir hören? Dass es mir leidtut?«
Suko blieb vor dem geköpften Leichnam einer Vollstreckerin stehen. Raniels Schwerthieb hatte ihr außerdem noch einen Arm abgeschlagen.
»Das wäre zumindest ein Anfang«, erwiderte der Inspektor und erschrak vor dem Klang seiner eigenen Stimme, die sich rau und monoton anhörte. Die Wut auf Raniel, die kurzzeitig in ihm hochgekocht war, verrauchte ebenso schnell wieder und wich einer schmerzhaften Leere.
Der Inspektor fühlte sich wie ein alter Mann, als er neben der Toten in die Hocke ging. Er hatte in seinem Leben schon eine Menge erlebt und zahlreiche Leichen gesehen, meistens Opfer grausamer Verbrechen, dennoch kostete es ihn enorme Überwindung, die Hände auszustrecken und die Maske abzuziehen. Bevor er das tat, streifte er sich dünne Silikonhandschuhe über, die er immer bei sich trug, für den Fall, dass er Beweismittel sicherstellen musste.
Suko erinnerte sich an die Szene im British Museum, als Karina die Maske abgenommen hatte. Sie hatte einen Reißverschluss im Nacken geöffnet, sodass sie den Kopf aus der Haube herausnehmen konnte wie aus einer Schale.
Ja, da war tatsächlich ein Reißverschluss.
Suko schluckte trocken. Er schloss die Augen, atmete noch einmal tief durch, dann ergriff er den Schieber und zog ihn nach oben. Mit der freien Hand musste er den Kopf fixieren. Er versuchte, nicht daran zu denken, dass es sich um einen Menschen, vielleicht sogar um eine ehemalige Freundin, handelte.
Die Naht führte bis zum Scheitel. Jetzt konnte er die Halbschalen aufklappen. Kurzes dunkles Haar kam zum Vorschein.
Suko stutzte.
Karina hatte dichtes kastanienbraunes Haar gehabt, das deutlich länger war. Plötzlich schlug Sukos Herz schneller. Er pulte den Kopf förmlich aus der Maske – und atmete erleichtert auf. Es war nicht Karina Grischin!
Trotzdem traf ihn der Anblick der offen stehenden Augen bis ins Mark. Er schämte sich angesichts seiner Erleichterung, denn trotz allem war das hier vor wenigen Minuten noch ein lebender, atmender Mensch gewesen.
Suko erinnerte sich an die beiden Henkerinnen, die Raniel zuletzt getötet hatte. Einer hatte er die Kehle durchgeschnitten, sodass sie langsam ausgeblutet war. Die andere hatte versucht, ihr zu helfen, woraufhin sie der Gerechte aufgespießt hatte wie einen Schmetterling.
Für Suko war die Geste der Beweis, dass die Vollstreckerinnen keineswegs so abgebrüht waren, wie es vielleicht den Anschein haben mochte.
Der Inspektor bettete das Haupt der Unbekannten sanft auf den Boden und ging zu den nächsten beiden Leichen. Raniel würdigte er dabei keines Blickes.
»Ich hatte eine Nachricht von Metatron bekommen«, erklärte der Gerechte. »Er wollte sich mit mir treffen. Ich dachte, es ginge dabei um den Engelstöter. Dass er eingesehen hätte, dass das Risiko, er könne Lilith in die Hände fallen, zu groß sei. Doch als ich am Treffpunkt eintraf, wartete dort nicht nur Metatron, sondern auch Matthias.«
Suko hielt kurz in seinen Bemühungen, die Vollstreckerinnen zu demaskieren, inne. »Matthias? Was wollte der denn? Ist er auch mit vom Komplott?«
»Er ist Luzifers Diener und damit auch Lilith verpflichtet«, fuhr Raniel fort. »Er sollte uns ablenken. Uns beide, verstehst du?«
Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Nein, ich verstehe überhaupt nichts.«
»Lilith wollte freie Bahn haben.«
»Freie Bahn wofür? Was hat Lilith mit Metatron angestellt?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich nehme an, dass es mit dem Engelstöter zu tun hat.«
»John war in einer virtuellen Realität gefangen. Was auch immer er gesehen oder getan hat, es war nicht die Wirklichkeit.«
»Das ist mir bewusst. Ich befinde mich leider nicht im Besitz sämtlicher Fakten. Ich muss darüber nachdenken. Ich ...«
»Denk von mir aus, so viel du willst, aber beeil dich besser, bevor ...« Suko verstummte.
Während er gesprochen hatte, hatte er der Toten, der Raniel das gläserne Schwert in den Rücken gerammt hatte, die Maske vom Kopf gezogen. Im Gegensatz zu der Enthaupteten kannte er diese Frau hier. Vor gar nicht langer Zeit hatte sie für eine Escort-Agentur gearbeitet. Ihr Name war Veronica Brown. Zusammen mit ihrer Schwester Giselle hatte sie zu den Töchtern des Kain gehört, den Dienerinnen der Naema, einem der vier Engel der Unzucht und Hurerei.*
Und damit stand für Suko fest, wer unter der anderen Maske steckte.
Langsam erhob er sich. Er wollte Raniel ansprechen, doch der Gerechte hatte es vorgezogen, zu verschwinden. So schnell und lautlos, wie er auch zu erscheinen pflegte.
Suko war es nur recht so. Der Halbengel schien ohnehin keine weiteren Informationen zu haben, die ihm hätten weiterhelfen können. Auf ihn aber kam jetzt eine schwere Bürde zu. Er musste nicht nur die Mordkommission verständigen, sondern auch seine Freunde benachrichtigen.
Müde schritt er zurück in das Büro. Ein einsamer, gebrochener Mann inmitten von sieben Leichen, von denen eine sein bester Freund gewesen war.
Jane Collins ließ die Hüften kreisen. Sie senkte den Blick auf ihren Freund Chis Ainsworth, sah die hervorquellenden Augen und spürte, wie er sich unaufhaltsam dem Höhepunkt näherte.
Kurz bevor es so weit war, legte sie ihm beide Hände um die Kehle und drückte mit aller Kraft zu!
Chris' Lider flatterten, und noch während die Lust in Wellen durch seinen Körper floss, bemerkte er, dass er keine Luft mehr bekam. Die Hände glitten zu Janes Unterarmen, um den mörderischen Griff von seiner Kehle zu lösen, doch gegen ihre Kraft kam er nicht an.
Sein Mund verzerrte sich, klappte auf, aber mehr als ein hohles Röcheln drang nicht hervor.
Jane drückte noch stärker zu. So kräftig, dass sein Kehlkopf unter ihren Fingern nachgab und das Zungenbein brach.
Chris Ainsworth erschlaffte.
Und Jane entfaltete die nachtschwarzen Schwingen, warf den Kopf zurück und stieß einen spitzen Schrei aus, der an den Ruf einer Eule erinnert. Und tatsächlich, aus dem Spiegel am Kleiderschrank starrte sie nicht länger das Gesicht der blonden Detektivin an, sondern der schwarz gefiederte Schädel einer riesigen Eule mit silbrig funkelnden Augen.
Zwei Hände umklammerten ihre Schultern.
»Jane!«
Sie wollte sie zur Seite schlagen, den Griff sprengen, doch sie fassten nur noch kräftiger zu, schüttelten sie durch.
»Verdammt, Jane. Wach auf!«