John Sinclair 2307 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2307 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Es roch nach Fleisch!
Nicht besonders intensiv, aber kräftig genug für meine empfindliche Nase. Insbesondere, da der Geruch aus meiner Wohnung kam, deren Tür ich soeben aufgeschlossen hatte.
Eine unheilvolle Ahnung befiel mich, die Narbe auf meiner Wange fing an zu kribbeln.
"Jetzt sag nicht, du hast den Wein vergessen", meldete sich Glenda hinter mir, als ich in der offenen Tür stehen blieb.
"Bleib zurück", erwiderte ich nur und tastete nach der Beretta im Schulterholster.
Ich brauchte mich nicht um meine Assistentin zu kümmern. Sie arbeitete lange genug für mich, um zu wissen, wie der Hase lief.
Die Pistole schräg vor den Körper haltend, durchquerte ich die Diele und betrat den Wohnraum, in dem eine Gestalt in meinem Lieblingssessel saß.
"Das wurde aber auch Zeit", begrüßte mich Morgana Layton und grinste mich mit blutverschmierten Lippen an ...

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Seitenzahl: 159

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Wie der Vater ...

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Wie der Vater ...

(Teil 1 von 2)

von Ian Rolf Hill

Es roch nach Fleisch!

Nicht besonders intensiv, aber kräftig genug für meine empfindliche Nase. Insbesondere, da der Geruch aus meiner Wohnung kam, deren Tür ich soeben aufgeschlossen hatte.

Eine unheilvolle Ahnung befiel mich, die Narbe auf meiner Wange fing an zu kribbeln.

»Jetzt sag nicht, du hast den Wein vergessen«, meldete sich Glenda hinter mir, als ich in der offenen Tür stehen blieb.

»Bleib zurück«, erwiderte ich nur und tastete nach der Beretta im Schulterholster.

Ich brauchte mich nicht um meine Assistentin zu kümmern. Sie arbeitete lange genug für mich, um zu wissen, wie der Hase lief.

Die Pistole schräg vor den Körper haltend, durchquerte ich die Diele und betrat den Wohnraum, in dem eine Gestalt in meinem Lieblingssessel saß.

»Das wurde aber auch Zeit«, begrüßte mich Morgana Layton und grinste mich mit blutverschmierten Lippen an ...

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst!«

Ich ließ die Waffe sinken und deutete mit dem Kinn auf den Teller, der neben Morgana auf dem Wohnzimmertisch stand. Er war leer. Keine Spur von den beiden Steaks, die ich zum Auftauen aus dem Gefrierschrank genommen hatte, bevor ich mit Glenda ins Kino gegangen war.

»Das habe ich mich auch gefragt«, antwortete Morgana, und leckte sich über die Lippen. »So was nennst du also ein vernünftiges Steak?«

»Das ist bestes Rinderfilet aus Hereford. Ich meine, das war bestes Rinderfilet aus Hereford.«

»Ja, das wollte man dich glauben machen, nicht wahr?«

»Was willst du damit sagen?«

»John?«, meldete sich Glenda, die natürlich nicht untätig geblieben war.

In solchen Fällen brauchten wir uns nicht abzusprechen. Während ich die Wohnung betreten hatte, war sie nach nebenan gegangen, um meinen Freund und Kollegen Suko zu verständigen.

»Suko ist nicht ...«

»Schon gut«, rief ich über die Schulter, ohne mich umzudrehen. »Du kannst reinkommen. Es war ... ein Missverständnis.«

»Ja, so könnte man es auch bezeichnen«, murmelte Morgana mit Blick auf den Teller.

Ich hörte, wie Glenda hinter mir die Tür schloss und trat beiseite, damit sie unseren späten Gast ebenfalls begrüßen konnte.

Sie blieb wie angewurzelt stehen. »Wer sind Sie denn, zum Teufel?«

Fast hätte ich mir mit der Hand vor die Stirn geschlagen. Stattdessen schob ich die Beretta zurück ins Holster. »Tut mir leid, aber ihr seid euch ja noch nie persönlich begegnet, oder?«

»Nicht, dass ich wüsste«, bestätigte Morgana, und erhob sich geschmeidig aus dem Sessel.

Sie trug ein schwarzes Kleid, das seine besten Zeiten schon lange hinter sich hatte. Beine und Füße waren unbekleidet, Letztere starrten vor Schmutz. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass sie unter dem dünnen Stoff ebenfalls nackt war.

Das rotbraune Haar trug sie offen. Durch die hohen Wangenknochen, die schmalen Augen und die dunklen Brauen erinnerte sie mich nicht zum ersten Mal an die Schauspielerin Eva Green.

Ich seufzte und machte die beiden Frauen miteinander bekannt. »Glenda, das ist Morgana Layton. Morgana, das ist Glenda Perkins, meine, äh, Freundin.«

»Immerhin hast du nicht Sekretärin gesagt.« Ein spöttisches Lächeln, für das sie berüchtigt war, und das ihr selbst der Tod nicht hatte nehmen können, huschte über Morganas Züge. »Sehr erfreut«, fügte sie hinzu, und reichte Glenda die Hand, die diese nach kurzem Zögern ergriff.

»Also ist es wahr«, hauchte meine Assistentin. »Sie leben!«

»Die Berichte über meinen Tod sind stark übertrieben.«

Bei diesen Worten sah sie mich an. Kein Wunder, immerhin war ich es gewesen, der ihr in einem Dorf in Bulgarien eine Silberkugel in den Schädel gejagt hatte.

Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits schwanger gewesen. Die Magie von Fenris dem Götterwolf hatte dafür gesorgt, dass die befruchtete Eizelle in Lykke, der Schamanin der Berserker, zu einem Kind heranwachsen konnte, in dem Morganas Geist wiedergeboren worden war.

Doch erst durch die Magie der Nornen sowie der Weltenesche Yggdrasil war aus dem Mädchen Rebecca wieder die Königin der Wölfe, Morgana Layton geworden.

Und sie war mächtiger denn je. Als Fenris ihrem Leichnam die befruchtete Eizelle entnahm, versah er sie mit einem magischen Anker, der dafür Sorge trug, dass in der Stunde seines Todes ein Teil seiner Kraft auf das Mädchen Rebecca überging.

Wir hatten es also nicht nur mit einer gewöhnlichen Werwölfin oder einer Reinkarnation zu tun. Vor uns stand die Erbin des Götterwolfs Fenris, der im Land der Mythen und Legenden auf das Ende der Welt, Ragnarök, wartete.

Was mich betraf, konnte er darauf gerne noch ein Äönchen länger warten. Und ich hoffte ernsthaft, dass Morganas unerwartetes Erscheinen nichts mit ihm oder seinem Halbbruder Lykaon zu tun hatte, der uns viele Jahre Ärger bereitet hatte, bevor es uns gelungen war, ihn zu vernichten.

Andererseits hatte Morgana die magische Reise von Alaska, hierher nach London, gewiss nicht zum Spaß unternommen. Die dumpfe Ahnung, die mich beim Betreten der Wohnung befallen hatte, kehrte mit einem Schlag zurück.

»Was willst du, Morgana? Du bist doch nicht bloß gekommen, um dich für dein vorzeitiges Ableben zu rächen, indem du Mundraub begehst und mir die Steaks vor der Nase wegfrisst.«

»Mitnichten«, gab sie zu. »Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber es könnte sein, dass wir deine Hilfe benötigten.«

»Mit wir meinst du deine Kolonie und die Berserker?«

»Natürlich.«

Die ungute Ahnung verdichtete sich zu einem dumpfen Gefühl von Furcht. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Wenn Morgana sich dazu herabließ, mich um Hilfe zu bitten, musste die Bedrohung erheblich sein. Wie beim letzten Mal, als die Totengöttin Hel sie in ihr Reich entführt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war sie noch das kleine Mädchen Rebecca gewesen.

»Wer ist es dieses Mal? Hel, Pandora oder Matthias?«

Sowohl die nordische Totengöttin als auch die griechische Unheilsbringerin hatten vor nicht allzu langer Zeit die Kolonie beziehungsweise den Stamm der Berserker angegriffen. Selbst Luzifers erster Diener, Matthias, hatte mit ihnen noch eine Rechnung offen.

Während Hel sich an den Asen für ihre Verbannung aus Asgard rächen wollte, ging es Pandora um etwas ganz anderes. Sie brauchte Unterstützung im Kampf gegen Lilith, die durch die Erweckung der vier Engel der Unzucht und Hurerei noch mächtiger geworden war.

Pandora benötigte Verbündete. Umso mehr, da ihre Unheilsbringer schwere Rückschläge erlitten hatten. Unter anderem war ihre Anführerin Chandra dingfest gemacht worden und verbüßte zurzeit eine lebenslange Haftstrafe in dem sibirischen Hochsicherheitsgefängnis Polareule.*

Aber auch Matthias brauchte dringend Erfolge. In letzter Zeit häuften sich seine Niederlagen, und es war fraglich, wie lange sich Luzifer das Spielchen noch ansah. Die Hölle duldete keine Versager, daher glich es schon fast einem Wunder, dass Matthias nicht längst ersetzt worden war.

»Weder noch«, entgegnete Morgana Layton. »Es ist sogar noch viel schlimmer. Es geht um Denise. Ich fürchte, sie hat das Erbe ihres Vaters angetreten.«

»Der Chugach State Park ist das drittgrößte Naturschutzgebiet der USA«, rief Ken Boulder über das Dröhnen des Propellers seiner Cessna hinweg.

Trotzdem hätte ihn vermutlich keiner seiner Passagiere verstanden, hätten sie sich vor dem Start nicht die Headsets aufgesetzt, über die sie mit ihrem Piloten in Verbindung standen.

»Er ist über zweitausend Quadratkilometer groß und wurde nach den Chugach benannt, einem Stamm von Eskimos, die hier am pazifischen Golf lebten.«

Im Geiste zählte Ken die Sekunden, bis einer der Touristen sich traute, die scheinbar unvermeidliche Frage zu stellen, die seinen Ausführungen stets auf dem Fuße folgte. Umso mehr, seit politische Korrektheit zum Modewort und zum Aushängeschild für eigene moralische Überlegenheit geworden zu sein schien.

Sieben ... acht ... neun ...

»Ähm, Mister Boulder, Sir, Sie meinen doch sicherlich Inuit!«

Ken gönnte sich ein schmallippiges Grinsen. Nicht nur, weil die Frage innerhalb von zehn Sekunden gestellt worden war, sondern auch, weil sie von dem schlaksigen Hipster gekommen war. Mit seinem dichten Bart, den Tunneln in den Ohrläppchen und dem Nasen-Piercing sah er aus, als wäre er einer Werbung für smarte Mobilfunk-Technologie entsprungen.

Seine dunkelblonde, hornbebrillte Freundin, die glatt als seine ältere Schwester hätte durchgehen können (natürlich ohne Bart), nickte bestätigend.

Sorry, Mädchen, dachte Ken. Heute gibt es keine Punkte für euer Karma-Konto.

»No, Sir!«, rief er daher. »Bei den Begriffen Eskimo und Inuit geht es um Sprache und Dialekt. Die Chugach sind Yupikvölker, definitiv keine Eskimos. Sie denken vielleicht, der Begriff sei rassistisch, weil Sie der Meinung sind, er bedeute Rohfleischesser, dabei stammt er aus einer indigenen Sprache und bedeutet nichts anderes als Schneeschuh-Flechter.«

Dem Hipster und seiner Freundin klappten die Kinnladen auf.

Und wieder was gelernt, dachte Ken zufrieden und konzentrierte sich auf den Flug. Dabei fragte er sich unwillkürlich, warum die meisten Hipster sich eigentlich zu älteren Frauen hingezogen fühlten. Möglicherweise ein tief verwurzelter Mutter-Komplex? Möglich, aber andererseits kannte er nicht genug von denen, um das mit Sicherheit sagen zu können. Außerdem war er weder Soziologe noch Psychologe, sondern Pilot. Und das seit annähernd vierzig Jahren mit Leib und Seele.

So lange flog er nun schon kreuz und quer durch Alaska, transportierte Post, Medikamente, Lebensmittel und Personen. Vor allem Passagier-Rundflüge waren in den letzten zwei Dekaden schwer in Mode gekommen und stellten mittlerweile seine Haupteinnahmequelle dar.

Und obwohl auf dem Lake Hood, in unmittelbarer Nachbarschaft des Ted Stevens Anchorage International Airport, täglich bis zu achthundert Wasserflugzeuge starteten und landeten, was der Metropole unter anderem den Beinamen »Hauptstadt der Wasserflugzeuge« eingebracht hatte, konnte er sich vor Aufträgen kaum retten.

Vor allem seit im Hafen von Anchorage immer mehr Kreuzfahrtriesen anlegten und Tausende von Touristen die Stadt stürmten, um innerhalb kürzester Zeit so viel wie möglich von dem Land zu sehen, ehe es weiter nach Norden ging.

Und von wo ließ sich die wunderschöne Landschaft Alaskas besser bewundern als aus dem Fenster eines Flugzeugs heraus?

Besonders im Spätsommer und Frühherbst, wenn die Blätter der Laubbäume sich verfärbten und in den prächtigsten Farben leuchteten, wodurch das üppige Grün der Sitkafichten noch besser zur Geltung kam. Auch die Chance, Bären auf Nahrungssuche zu erspähen, war hoch, denn im Herbst, wenn sich die Tiere den nötigen Speck für den Winterschlaf anfraßen, waren sie besonders aktiv.

Für die Touristen war das jedes Mal ein Erlebnis, fast so sehr wie der Anblick der Polarlichter, für die die meisten Passagiere eine solche Kreuzfahrt überhaupt erst unternahmen.

Früher hatte Ken lieber seine Ruhe und kein Problem damit gehabt, zehn, zwölf Stunden allein im Flugzeug zu hocken und Lebensmittel und Medikamente zu den Einheimischen in den Norden zu bringen. Doch mit den Jahren und der wachsenden Familie freute er sich über geregelte Arbeitszeiten und das eine oder andere üppige Trinkgeld. Wer sich eine derartige Kreuzfahrt leisten konnte, der gehörte gewiss nicht zu den Ärmsten der Armen.

Nun, bei Mr. Und Mrs. Hipster war er sich dahingehend nicht so sicher. Die sahen so aus, als hätten sie sich das Geld vom Munde abgespart. Vielleicht waren sie in den Flitterwochen. Die hatte das andere Pärchen bereits lange hinter sich.

Er war ein großer dicker Texaner, worauf nicht nur der Stetson hindeutete, den er zwischen seinen beringten Wurstfingern beinahe zerquetschte, während er sich unablässig den Schweiß von der Stirn tupfte. Auch der Akzent verriet seine Herkunft. Sie dagegen war eine schmuckbehangene Lady, auf die bestimmt mal der überstrapazierte Begriff Südstaaten-Schönheit zugetroffen hatte. So vor vierzig, fünfzig Jahren. Wenn Ken seine Karten richtig ausspielte, konnte er mit Sicherheit den einen oder anderen Fünfziger abstauben.

Bei dem fünften Mann im Bunde war er sich nicht so sicher. Der Typ machte nicht nur einen durchtrainierten, sondern auch introvertierten Eindruck. Was aber auch daran liegen mochte, dass er sich an keiner Unterhaltung beteiligte und sich nur mit seiner Spiegelreflexkamera beschäftigte. Ein Mordsapparat, für den Ken fast ein eigenes Ticket verlangt hätte.

Das beständige Klicken strapazierte jedenfalls gehörig seine Nerven.

Wenigstens die Passagiere schwiegen in den folgenden Minuten. Alles andere hätte Ken ihnen auch übel genommen, denn soeben kletterte der Zeiger des Höhenmessers über die 10.000-Fuß-Marke. Die schneebedeckten Gipfel der Chugach Mountains kamen rasend schnell näher.

Ken hörte den Texaner hinter sich nach Luft schnappen und zog das Steuerhorn langsam zu sich heran. Die Nase der Cessna hob sich.

Fallwinde schüttelten das alte Mädchen ordentlich durch. Keine Seltenheit hier oben zu dieser Jahreszeit, wenn die kalte Luft von den Hängen hinab ins Tal rauschte. Hinzu kam der Klimawandel, der sich in erster Linie durch zunehmende Wetterextreme bemerkbar machte.

Nur wer keinen Bezug zur Natur hatte und in zugepflasterten Städten lebte oder schlicht und ergreifend nicht alle an der Murmel hatte, konnte die Zeichen ignorieren.

Aber darüber wollte sich Ken heute keine Gedanken machen. Dafür war der Ausblick, an dem er sich selbst nach vierzig Jahren noch nicht sattgesehen hatte, zu majestätisch. Unaufhaltsam rückten die Gipfel näher. Wolkenfetzen flogen wie Zuckerwatte an den Fenstern vorbei.

In Anchorage war der Himmel klar und postkartenblau gewesen, hier oben tummelten sich jedoch immer ein paar verlorene Schafe herum. Manchmal bildeten die tiefstehenden Schichtwolken einen regelrechten Nebel, doch davon blieben Ken und seine Passagiere heute glücklicherweise verschont.

Endlich erreichte die Cessna 208 Amphibian den Bergrücken.

Selbst Ken hielt in Erwartung des Anblicks, der sich ihnen gleich bieten würde, unwillkürlich den Atem an. Dies war einer der schönsten Momente in seinem Beruf. Wenn selbst dem phlegmatischsten Teenager der Mund aufklappte oder dem knallharten Börsenspekulant das Wasser in die Augen schoss, als würde es sich bei der Gebirgslinie um den gottverdammten DAX handeln.

Der Schulterdecker schwebte wie an unsichtbaren Schnüren hängend über die Chugach Mountains hinweg und ...

... urplötzlich war der Schatten da!

Wie von der Sehne geschnellt fegte er wenige Meter hinter dem Grat hervor. So dicht, dass Ken das Steuer verriss, in Erwartung eines anderen Flugzeugs, das die vorgegebene Route verlassen hatte und zwischen den Bergen umherirrte.

Auch wenn es bisweilen den Eindruck machte, man sei hier oben allein, stimmte das nur bedingt. Mitunter herrschte hier so viel Betrieb wie am Black Friday in der Great Alaska Mall. Aber für ein Flugzeug war das Ding dann doch irgendwie zu klein gewesen, oder?

Ken Boulders Herz hämmerte, peitschte das Adrenalin durch seine Adern.

»Was war das, Mister Boulder?«, rief die Schmuckbehangene mit schriller Stimme.

Ihr texanischer Mann begnügte sich derweil damit, erschrocken zu japsen.

Das fehlte ihm noch, dass der Sack 'nen Herzkasper schob, ehe seine Frau ein paar Scheine locker gemacht hatte.

Ihre Frage war jedoch durchaus berechtigt, und Ken hätte gerne eine Antwort parat gehabt, doch er musste sich darauf konzentrieren die Cessna wieder in den Griff zu bekommen. Als ob es hier oben nicht schon turbulent genug zuging.

Zum Glück fühlte sich der Hipster bemüßigt, seine Eskimo-Scharte auszuwetzen. »Das war'n Vogel. Möglicherweise ein Seeadler.«

Fast hätte Ken gelacht. Nicht der Höheangabe wegen, das bekam so ein Bursche schon hin. Nein, mehr wegen der Ausmaße. Die hätten besser zu einem Kondor gepasst.

»Viel zu groß«, meldete sich prompt der Fotograf zu Wort.

»Vielleicht waren es zwei«, gab Mrs. Hipster ihren Senf dazu. »Dicht hintereinander.«

»Das könnte sein, obwohl ...« Der Mann schwieg.

Ken dagegen wäre geneigt gewesen der Frau zuzustimmen. Und warum auch nicht?

Es wäre die einfachste und unverfänglichste Erklärung gewesen, wäre ihm an dem Schatten nicht etwas aufgefallen, das sich unmöglich mit der Seeadler-Theorie vereinbaren ließ.

Seeadler besaßen nämlich keine roten Augen!

Ganz gleich, wie hoch sie flogen.

Nur langsam beruhigte sich Kens aufgeregter Herzschlag. Seine Finger umklammerten das Steuerhorn so fest, dass die Knöchel weiß hervorsprangen. Es musste ja niemand merken, wie sehr er zitterte.

Gott sei Dank war das kein Vogelschwarm gewesen, dann wären sie wie ein Stein vom Himmel gefallen oder gegen die Felswand gekracht.

WUMMS!

Der Schlag traf die Cessna mit solcher Wucht, dass die Maschine mehrere Meter in die Tiefe sackte. Ein kollektiver Schrei des Entsetzens hallte durch die Kabine. Nur Ken schwieg verbissen. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu.

So etwas hatte er in vierzig Jahren noch nie erlebt.

Schweiß perlte auf seiner Stirn. Mit weit aufgerissenen Augen fixierte er den Höhenmesser. Langsam, aber stetig sackte das Wasserflugzeug ab, so als würde etwas verflixt Schweres auf der Tragfläche sitzen.

»Mister Bouldeeerrr!«, kreischte die Schmuckbehangene.

»Ja, doch«, murmelte er, wusste aber auch nicht so recht, was er tun sollte.

Eine Rolle mit diesem Klotz auf den Tragflächen traute er sich nicht zu. Er war kein Kunstflieger, verdammt noch mal.

Also aufsteigen. Höhe gewinnen.

Das war immer gut. Sollte sich tatsächlich ein Adler auf der Cessna niedergelassen haben, würde ihm irgendwann die Luft zu dünn werden.

Wie absurd dieser Gedanke war, begriff er erst, als die Maschine von einer Seite zur anderen schwankte. Was auch immer sich über ihnen festklammerte, es bewegte sich.

Nein, das war mit Sicherheit kein verschissener Seeadler. Wie hätte der sich denn bitte schön festhalten sollen?

Das war ...

»Ein Monster!«, kreischte die Alte hysterisch.

Ken Boulder sackte das Blut aus dem Kopf. So sehr die Schreie auch seine Nerven malträtierten, inhaltlich hatte die Südstaatlerin vollkommen recht.

Unvermittelt wurde die Cessna kopflastig, als sich das Gewicht nach vorne verlagerte. Ein länglicher Schatten erschien vor dem Cockpitfenster.

Im ersten Moment war Kens Verstand derart überfordert, dass er das Gebilde nicht zuordnen konnte, bis sich die Klaue spreizte, die ihn an eine Mischung aus Gorillapranke und Bärentatze erinnerte. Sie mündete in einem kräftigen Arm, der mit einem zotteligen grauschwarzen Pelz bewachsen war.

Ein massiger Schädel schob sich von oben in sein Sichtfeld.

Heißer Raubtieratem quoll aus den ledrigen Nüstern, die Cockpitscheiben beschlugen.

Durch den Flugwind verdunsteten die Kondenstropfen jedoch umgehend. Die Lefzen hoben sich, entblößten ein grauenhaftes Raubtiergebiss.

Und darüber – beziehungsweise darunter, denn das Biest glotzte ja kopfüber in die Kabine – schimmerten zwei rot glühende Lichter.

Ihr Blick bohrte sich in Kens aufgerissene Augen, brannte sich in seine Seele und entfachte ein Feuer aus Angst und Entsetzen, dem sein Herz zu entfliehen suchte, indem es im Stakkato galoppierte.

»Neeein«, hörte er sich kreischen, und riss in schierer Panik am Steuer.

Die Cessna kippte nach links und überschlug sich.

Plötzlich kamen sich Ken und seine Passagiere vor, wie ein einer riesige Zentrifuge steckend. Der zweiundsechzigjährige Pilot wurde in die Gurte gepresst.

Das Steuerhorn zitterte und wackelte, als stünde es unter Strom. Verzweifelt tastete Boulder danach, bekam es zu packen und schaffte es irgendwie, die Maschine unter Kontrolle zu bringen.

Rasend schnell kam der Bergrat näher.

Ken zog das Steuer zu sich heran. Um die panischen Schreie der Passagiere kümmert er sich in diesen Sekunden nicht, seine gesamte Konzentration galt der Cessna und ihrem Überleben.

Mit beiden Füßen stemmte er sich gegen den Flugzeugboden, presste den Oberkörper fest an den Pilotensitz und umklammerte das Steuerhorn, als wollte er es zerbrechen. Seine Zähne knirschten. Der Motor der Maschine heulte.

Und dann fegte die Cessna haarscharf über den Bergrat und schraubte sich in den azurblauen Himmel. Für einen Augenblick war nichts weiter zu hören als das Knattern des Propellers und das Japsen des Texaners.

Dann fingen die Passagiere an zu jubeln. Auch Ken atmete erleichtert auf.

Nur die Schmuckbehangene und ihr Gatte wollten sich an der allgemeinen Euphorie nicht beteiligen.

»Fred? Fred, um Himmels sag doch was! Fred!!!«

Ken stabilisierte die Fluglage und riskierte einen Blick über die Schulter. Der Anblick des bläulich angelaufenen Texaner-Gesichts ging ihm durch und durch.

Er zerquetschte einen Fluch zwischen den Zähnen. Der Alte hatte einen Herzanfall!

Sie mussten so schnell wie möglich zurück nach Anchorage.