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Gefangen in der Hölle!
So kam sich Chandra vor, seit sie in das Hochsicherheitsgefängnis am Polarkreis im Norden Sibiriens gebracht worden war.
Ihre Hoffnung, dass ihre Beschützerin Pandora sie herausholen würde, war schon im Vorfeld zerschlagen worden. Die Unheilsbringerin wollte sie für ihr Versagen bestrafen.
Und so war Chandra den Launen und Trieben der Wärter und Mitinsassen ausgeliefert.
Es war ein offenes Geheimnis, wozu diese Haftanstalten dienten. Hier ging es nicht um Resozialisierung oder bloße Sicherheitsverwahrung, um die Bevölkerung zu schützen.
Die sogenannte Polareule diente nur einem einzigen Zweck: Menschen zu brechen!
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Seitenzahl: 146
Cover
Die Hölle auf Erden
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Die Hölle auf Erden
von Ian Rolf Hill
Gefangen in der Hölle!
So kam sich Chandra vor, seit sie in das Hochsicherheitsgefängnis am Polarkreis im Norden Sibiriens gebracht worden war.
Ihre Hoffnung, dass ihre Beschützerin Pandora sie herausholen würde, war schon im Vorfeld zerschlagen worden. Die Unheilsbringerin wollte sie für ihr Versagen bestrafen.
Und so war Chandra den Launen und Trieben der Wärter und Mitinsassen ausgeliefert.
Es war ein offenes Geheimnis, wozu diese Haftanstalten dienten. Hier ging es nicht um Resozialisierung oder bloße Sicherheitsverwahrung, um die Bevölkerung zu schützen.
Die sogenannte Polareule diente nur einem einzigen Zweck: Menschen zu brechen!
»Die Polareule stammt noch aus Sowjet-Zeiten und wurde 1961 beim Bau der Transpolareisenbahn errichtet. Dies ist die am nördlichsten gelegene Haftanstalt der russischen Föderation. Wer hierher kommt, ist eine Gefahr für die Öffentlichkeit und Unabhängigkeit Russlands.«
Ilona Wasiljewa lauschte dem Geschwafel nur mit einem halben Ohr. Ihre Hauptaufmerksamkeit galt der Einrichtung und den Häftlingen, die ihnen begegneten. Oder sollte sie besser sagen, vorgeführt wurden?
Sie machte sich nichts vor. Schließlich war sie lange genug im Geschäft, genauer gesagt, Mitglied der staatlichen Prüfungskommission für Haftanstalten und Gefängnisse der russischen Föderation.
Russische Föderation.
Fast hätte Ilona gelacht. Von dem Begriff hatte man hier oben im westsibirischen Jamal offenbar noch nichts gehört. Die Polareule wirkte wie ein Relikt aus finstersten Sowjet-Zeiten. Dazu passte auch, dass sich die Justiz-Mitarbeiter mit Genossen anredeten und der Leiter der Einrichtung, ein bärbeißiger Geselle namens Kasimir Volkov, den Knast mit geradezu stalinistischer Inbrunst anpries.
Als ob darauf noch jemand hereinfiel.
Wobei ... wenn sie sich ihren Begleiter Iljitsch Preobraschenski so betrachtete ...
Wie er, gekleidet in einen maßgeschneiderten Parteizwirn, förmlich an den Lippen des Lagerkommandanten klebte und mit verklärtem Gesichtsausdruck einen Punkt nach dem anderen auf dem Formular Nummer 5 abhakte, kam sie nicht umhin, einzuräumen, dass Volkov sein Handwerk verstand.
Wahrscheinlich weil er den Stuss, den er verzapfte, selbst glaubte.
Das war ja das Fatale in diesem Land, mit dem sogar vollkommen widersinnige Angriffskriege gegen unabhängige Nachbarstaaten gerechtfertigt wurden.
Unwillkürlich fragte sich Ilona, wie viele Insassen hier zur Abschreckung einsaßen, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren, um gegen den Wahnsinn ihres »gewählten« Präsidenten zu demonstrieren.
Was die Häftlinge betraf, denen sie auf ihrem Rundgang begegneten, so waren es selbstverständlich ausgewählte und handverlesene Männer, die offenen Blickkontakt mieden und nur auf direkte Ansprache reagierten, um dann genau das zu sagen, was man von ihnen erwartete.
»Die Haftbedingungen sind angemessen, Genosse.«
»Ich kann mich nicht beklagen. Ich habe schlimme Dinge getan und muss dafür geradestehen.«
»Die Versorgung ist besser, als wir es verdient haben.«
Mein Gott, dachte Ilona, als sie die traurigen Gestalten in der Gefängnisküche beobachtete. Die Kartoffeln wurden mit stumpfen Messern bearbeitet, bis sie aussahen, als wäre die Schale mit bloßen Zähnen abgenagt worden.
Immerhin, die Kleidung, inklusive Schürzen, war frisch gereinigt, die Arbeitsflächen und Bestecke sahen aus wie geleckt.
Sie unterdrückte ein Seufzen, es war doch stets dasselbe. Sobald die Prüfungskommission ihr Kommen ankündigte, und das tat sie praktisch immer, gab es nie etwas zu beanstanden. Allenfalls ein paar Kleinigkeiten, damit das Formular Nummer 5 authentischer aussah, wenn es später abgeheftet wurde.
Als ob das Ding jemals gelesen wurde.
Ilona Wasiljewa hatte hart geschuftet, um für das Justizministerium der Russischen Föderation zu arbeiten, in der Hoffnung, die Verhältnisse innerhalb der Haftanstalten für die Insassen zu verbessern.
Diesen Wunsch hatte sie bereits als Kind gehegt, nachdem ihr ihre Mutter eines Abends unter Tränen erklärt hatte, dass Papa nicht wieder nach Hause kommen würde. Er hatte wegen Verleumdung und Hochverrat im Gefängnis gesessen, weil er die demokratischen Rechte der Bürger dieses Landes gefährdet sah und für sie demonstriert hatte.
Leider hatte er es nicht dabei bewenden lassen, sondern auch einen Blog im Internet veröffentlicht, in dem er sich äußerst kritisch gegenüber dem Präsidenten geäußert hatte und sich als Mitglied der Opposition unter der Führung Navalnys geoutet hatte.
Im Gegensatz zu Navalny hatte ihr Vater jedoch nicht den Schutz und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, geschweige denn die Sympathien ausländischer Fürsprecher genossen. Und so war er verhaftet und verurteilt worden. Es war ein Schauprozess gewesen. Ein Exempel, das man an ihm, dem Oppositionellen, statuiert hatte.
Schließlich hatte man ihn mit dem Kopf in der Toilettenschüssel gefunden, in der er sich ertränkt hatte. Angeblich aus Scham über sein unpatriotisches Verhalten.
Nur eine Woche später hatte sich Ilonas Bruder Kolja, der zu dieser Zeit seine Wehrpflicht absolvierte, erhängt. Aus demselben Grund. Weil er nicht ertragen konnte, dass sein Vater ein Landesverräter war.
Die folgenden Jahre waren für Ilona und ihre Mutter die Hölle gewesen. Jeder Gang zum Supermarkt hatte einem Spießrutenlauf geglichen. Noch jetzt sah sie die teils mitleidigen, teils verächtlichen Blick der Nachbarn, sobald sie die Augen schloss.
Es hatte Ilona viel Kraft und Disziplin gekostet, die Schule abzuschließen und das anschließende Jura-Studium durchzuziehen. Und sie war ehrlich, ohne die Fürsprache ihres Dozenten Jakow Wasiljew hätte sie es niemals geschafft. Ihm hatte sie es zu verdanken jetzt Teil des Justizministeriums zu sein. Als Dank hatte sie ihn geheiratet und ihm zwei Kinder geschenkt.
Aber selbst Jakow wusste nichts über ihre Beweggründe. Dass sie versuchte, das System von innen heraus zu verändern, damit das, was ihrem Vater und ihrem Bruder widerfahren war, anderen Familien erspart bliebe.
Ihr Vorbild war die Journalistin und Menschrechtsaktivistin Olga Romanowa, die sich jahrelang für die Rechte der Gefängnisinsassen stark gemacht hatte, bis sie dem herrschenden Regime ein Dorn im Auge geworden war. Sie hatte das Land verlassen müssen, ehe sie die Praktiken, die sie anprangerte, am eigenen Leib zu spüren bekam.
Auch Ilonas anfängliche Euphorie war schnell Ernüchterung gewichen. Bis sie ebenfalls vor der Wahl gestanden hatte, alles hinzuwerfen und das Land zu verlassen oder sich anzupassen.
Mit zwei Kindern, einem sicheren Gehalt und einem gewissen Ansehen als Mitarbeiterin des Justizministeriums war Ilona die Entscheidung nicht schwergefallen.
Sie hatte sich angepasst.
Was jedoch nicht bedeutete, dass sie ihr eigentliches Ziel vollständig aus den Augen verloren hatte. Sie würde vielleicht nicht das System verändern oder die Korruption beenden, aber möglicherweise war sie ja in der Lage, die ersten Schritte in die richtige Richtung zu tun.
»Zurzeit befinden sich siebenhundertvierundachtzig Häftlinge in der Polareule. Davon verbüßen vierhundertsechsundfünfzig lebenslange Haftstrafen.«
»Und lebenslang bedeutet hier genau das«, erklärte Ilona ihrem jungen Adjutanten. »Keiner von diesen Menschen wird diese Mauern lebend verlassen.«
Iljitsch Preobraschenski erschauerte.
Kasimir Volkov musterte Ilona mit einem Blick, der seinem Namen alle Ehre machte: Wolf.
»Seien Sie froh, Genosse Wasiljewa. Diese Männer sind eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung innerhalb des Staates.«
»Natürlich«, erwiderte die Kommissarin, und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. »Sagen Sie, halten Sie uns eigentlich für Idioten, Genosse?«
Sie weidete sich an der Verblüffung in den Gesichtern ihrer Begleiter. Selbst einige der Insassen hoben die Köpfe.
Volkov lief rot an und blinzelte irritiert. »Was meinen Sie damit?«
Ilona machte eine allumfassende Geste. »Das alles hier. Sie führen uns durch das Gefängnis, als stünden wir in der Eremitage um uns das Frühstücksgeschirr von Zar Peter, dem Großen, anzuschauen, und erzählen uns Dinge, die wir schon längst wissen. Das erweckt in mir den Eindruck, dass Sie uns nicht ernstnehmen.«
Der Gefängniskommandant straffte sich und legte die Hände auf den Rücken. Selbst hier in der von heißen Dämpfen erfüllten Küche hielt er die Uniformjacke geschlossen. Nur die Pelzmütze hatte er abgenommen.
»Sollte dieser Eindruck bei Ihnen entstanden sein, so tut es mir leid, Genosse Wasiljewa. Es liegt mir fern, Sie zu langweilen. Aber ich versichere Ihnen, dass dieses Gefängnis ein Musterbeispiel an Disziplin ist. Nur dürfen Sie niemals den Fehler machen, die Männer hier drin zu unterschätzen. Niemand ist umsonst hier. Und es erfordert eine strenge Hand, um die Sicherheit zu gewährleisten. Einige von ihnen würden die kleinste Gelegenheit nutzen, um eine Revolte anzuzetteln oder die Flucht zu ergreifen.«
»Wohin sollten sie denn schon flüchten?«, wagte Iljitsch einen Einwurf. »Eingeschlossen von Schnee und Eis? Die nächste Siedlung ist kilometerweit entfernt. Kein Mensch kann dort draußen überleben.«
Volkov warf dem Bürokraten einen geringschätzigen Blick zu. Seine Körpersprache und Gestik ließ keinen Zweifel daran, wie erniedrigend es für ihn war, sich vor einer Frau und einem glattrasierten Bengel rechtfertigen zu müssen.
»Sie unterschätzen den Freiheitsdrang und den Überlebenswillen der Menschen. Jeder Gefangene wird eine Chance zur Flucht nutzen, sobald sie sich bietet. Die Sommer mögen kurz sein, aber selbst hier oben gibt es schnee- und eisfreie Perioden.«
»In denen Sie natürlich besonders wachsam sind.«
Volkov wandte sich wieder Ilona zu. »So ist es.«
»Uns liegen Berichte über diverse Angriffe auf die Polareule vor, die ...«, begann Iljitsch, und wurde prompt unterbrochen.
»Nichts weiter als westlich forcierte Propaganda.«
»Zu welchem Zweck?«, wollte Ilona wissen.
»Ist doch klar, es geht um Verleumdung. Für die im Westen, sind wir doch die Dummen. Man will uns kleinhalten und Panik innerhalb der Bevölkerung schüren.«
»Zugegeben, die Berichte über ein Rudel menschengroßer Wölfe klingt reichlich ... an den Haaren herbeigezogen. Aber der Ausbruch von Leonid Jaschin war mit Sicherheit keine Propaganda.«
Volkov nickte zögernd. Es war ihm anzusehen, wie unangenehm ihm das Thema war.
»Jaschin war ... ein Präzedenzfall.«
Ilona zog die Brauen über der Nasenwurzel zusammen. »Wofür?«
»Für eklatante Mängel bei der Sicherheit. Mein Vorgänger war zu ...« Er wedelte mit der Hand.
»Human?«, fragte die Kommissarin.
»Liberal«, entgegnete Volkov. »Gleichwohl ich einräumen muss, dass auch ich nicht damit gerechnet hätte, dass die Terrororganisation, die an seiner Flucht beteiligt war, überhaupt in der Lage gewesen war, einen solchen Angriff durchzuführen.«
Iljitsch Preobraschenski blinzelte irritiert und blätterte in seinen Unterlagen. »Terrororganisation?«
Ilona winkte ab. »Die Erben Rasputins. Machen Sie sich keine Mühe, Sie werden den Namen nirgends entdecken.«
»Natürlich nicht!« Volkov grinste. »Die Erben Rasputin haben schließlich nie existiert. Sie sind ein Mythos. Ein Märchen, mit dem man kleinen Kindern Angst macht.«
»Oder Journalisten und Oppositionelle einschüchtert.«
Der Wolf zuckte mit den Schultern.
»Apropos«, fuhr Ilona fort. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass hier nicht nur Männer einsitzen.«
Volkov, schon im Begriff sich abzuwenden und den Rundgang fortzusetzen, hielt inne. »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen? Das hier ist eine Einrichtung speziell für männliche Terroristen und Wiederholungstäter. Was meinen Sie, was hier los wäre, wenn wir Frauen hier hätten?«
»Und doch gibt es eine. Eine besondere und sehr gefährliche Frau, die selbst schon ein Mythos ist.« Ilona lächelte. »Ihre Haut hält angeblich Kugeln stand.«
Volkov lachte. »Allein daran sehen Sie doch schon, dass es sich um ein weiteres Hirngespinst handelt.« Er winkte ab. »Ich kenne, die Geschichten, die man sich über diese Frau erzählt. Angeblich hat sie die URPO*, die Abteilung zur Infiltration krimineller Organisationen des FSB, kontrolliert.«
»Und damit auch die Mafia. Selbst die Oligarchen haben nach ihrer Pfeife getanzt.«
Wieder grinste Volkov herablassend. »Sie sollten nicht alles glauben, was man Ihnen so erzählt, Genosse Wasiljewa. Wie hätte eine Frau so etwas bewerkstelligen sollen? Nein, nein, das ist Fantasterei.«
»Davon habe ich gehört«, sagte Preobraschenski. »Es hieß, die Frau sei eine Terroristin gewesen, deren Kontakte bis in die Führungsebene des FSB reichten.«
»Lassen Sie sich keine Flausen in den Kopf setzen, junger Freund.«
Doch Iljitsch ließ sich nicht beirren. »Angeblich hat sie zusammen mit einer Agentin des FSB das Gerücht in die Welt gesetzt, sie wäre kugelfest. Ich glaube, sie hieß Chandra.«
»Wie ich sagte, Genosse: Eine Betrügerin. Glauben Sie mir, eine Frau namens Chandra hat nie existiert!«
Die Zelle war geradezu winzig. Zwei Meter breit, drei Meter lang.
Sie besaß weder ein Fenster noch eine Pritsche, geschweige denn ein Klosett oder auch nur einen Eimer für die Notdurft.
Dafür brannte das Licht. Tag und Nacht.
Chandra befand sich seit drei Tagen hier drin. Geschlafen hatte sie kaum fünf Minuten. Sobald ihr die Lider vor Erschöpfung zufielen, hämmerte es an die Tür. Öffnete sie dann nicht die Augen, kamen sie herein. Es war jedes Mal dieselbe Prozedur.
Zuerst wurde sie von einem Schwall eiskalten Wassers getroffen. So kalt, dass ihr die Luft wegblieb.
Als Nächstes kamen die Viehtreiber zum Einsatz.
Es gab keinen Muskel in ihrem Leib, der sich noch nicht verkrampft hatte und bei der kleinsten Bewegung in Flammen zu stehen schien.
Zuletzt folgten Schläge und Tritte.
In die Rippen, in den Unterleib, niemals gegen den Kopf. Auf keinen Fall sollte sie das Bewusstsein verlieren oder gar an den Folgen krepieren.
Oh nein, so leicht würden die Hunde sie nicht davonkommen lassen. Dafür hatte sie zu vielen von ihnen auf die Zehen getreten.
Chandra sollte leiden.
Bisweilen hatte sie das Gefühl, dass es nicht nur darum ging, was sie unter Rasputin verbrochen hatte. Oder später, als sie mit Carnegras Hilfe den FSB infiltriert und die Moskauer Unterwelt aufgemischt hatte.
Es machte eher den Eindruck, als würden die Wärter ihren eigenen, ganz speziellen Frust an ihr auslassen.
Schließlich war sie die einzige Frau.
Hätte der Wolf nicht seine schützende Hand über sie gehalten, sie wäre längst vergewaltigt worden. Sie kannte die gierigen Blicke zur Genüge.
Dass es keine Frauen unter den Wärtern gab, machte die Sache für beide Seiten nicht gerade leichter. Hier oben in Jamal gab es nicht allzu viele Möglichkeiten, um Druck abzulassen.
Aber solange Volkov sie nicht freigab, mussten die Männer nun einmal darben.
Manchmal kamen sie Chandra vor wie abgerichtete Köter, denen ein Leckerbissen vor die Nase gehalten wurde, und die mit zitternden Lefzen ausharren mussten, bis Herrchen die Erlaubnis zum Zuschnappen gab.
Lange würde das nicht mehr dauern, das war ihr klar.
Aber auch das würde Chandra erdulden. So wie sie bislang alles erduldet hatte.
Volkov und seine Hunde konnten ihr nichts antun, was sie nicht schon mehrfach durchlitten hatte. Als kleines Mädchen bei ihrem gewalttätigen, dauergeilen Vater. Als Kadettin in der Kaderschmiede des KGB. Und nicht zuletzt als Gefangene des Magiers Rasputin, nachdem sie es gewagt hatte, sich gegen ihn zu stellen und seine Marionette Oleg umzupusten.
Sie leistete keinen Widerstand. Zumindest keinen physischen. Sie aß und trank nicht. Alles, was sie tat, war auf den Tod zu warten. Nicht dass sie ernsthaft damit rechnete, zu sterben. Das würden Volkov und seine Schergen schon zu verhindern wissen.
Chandra ertrug ihr Martyrium stumm, ohne die geringste Regung zu zeigen. Durch Selbsthypnose versetzte sie sich in eine Art Trance, die ihr half, die Kälte- und Elektroschocks, die Schläge und Tritte, auszuhalten.
Sicher, sie spürte die Marter, doch es war, als gehöre der Körper, der von den Wärtern drangsaliert wurde, nicht wirklich zu ihr.
Auch jetzt lag die kugelfeste Russin auf dem Rücken.
Der Overall war klatschnass. Nicht nur vom Wasser, das man über ihr ausgeschüttet hatte, auch vom Urin der Wärter.
Chandra nahm den beißenden Geruch kaum wahr.
Ihr starrer Blick war an die Decke gerichtet und verlor sich im grellen Licht der Leuchtstoffröhren, die unter einem stabilen Drahtgeflecht lagen. Damit sie gar nicht erst auf die Idee kam, eine von ihnen zu zerbrechen, um sie als Waffe zu benutzen.
Als ob sie da oben raufgekommen wäre.
Die Decke hing drei Meter über ihr, und es gab nichts, auf das sie raufklettern konnte. Die Wände lagen zu weit auseinander, um sich daran abzustützen.
Angst, dass sie sich die Pulsadern aufschnitt, brauchte Volkov ebenfalls nicht zu haben. Selbst wenn sie vorgehabt hätte, sich das Leben zu nehmen, so hätten die Scherben niemals ihre kugelfeste Haut durchdrungen. Es war das Erbe ihres Bräutigams Xorron, dem sie einst versprochen gewesen war. Bevor man ihn in Pandoras Kristallwelt vernichtet hatte.
Pandora!
Die griechische Unheilsbringerin war nicht nur Xorrons Herrin gewesen, auch ihr, Chandra, hatte sie das Leben gerettet und sie zu der gemacht, die sie jetzt war. Damals hatte sie noch nicht gewusst, dass sie eine direkte Nachkommin von Rasputin gewesen war, deren Geschicke Pandora ebenfalls beeinflusst hatte.
Nachdem sie aus der Verbannung zurückgekehrt war, hatte sie den Magier und seine rechte Hand Chandra wieder unter ihre Fittiche genommen.
Dummerweise waren ihre Feinde mächtiger gewesen. Luzifer persönlich hatte John Sinclair und Karina Grischin geholfen, Rasputin endgültig zu vernichten.
Chandra indes war abermals von Pandora gerettet worden. Die griechische Göttin hatte sie nicht nur zur Anführerin der Erben Rasputins gemacht, die sich fortan Unheilsbringer nannten, sie hatte ihr auch ihre Tochter Carnegra zur Seite gestellt, eine prähistorische Kannibalin mit bemerkenswerten Fähigkeiten.
Carnegra hatte die Gestalt ihrer Opfer annehmen können, indem sie von ihnen fraß.
Eine überaus nützliche Eigenschaft, mit der sie es bis zum Chef der URPO gebracht hatte.
Dadurch hatten sie nicht nur den russischen Geheimdienst in der Hand gehabt, sondern auch die Mafia mit ihren Oligarchen.
Zumindest so lange, bis Lilith sich eingemischt hatte und Carnegra vernichtet worden war.*
Chandra war wieder auf sich allein gestellt gewesen und hatte im Auftrag von Pandora verhindern sollen, dass Lilith ihre vier Engel der Unzucht und Hurerei erweckte.
Die aber hatte den Spieß umgedreht. Der Geist von Naema, der Tochter des Kain, war in Chandras Leib gefahren.** Und nachdem er ihn wieder verlassen und Liliths Engel zu neuem Leben erwacht war, hatte Karina Grischin sie verhaftet.
Ihre Hoffnung, dass Pandora auch dieses Mal erscheinen und sie befreien würde, war noch in Moskau zerplatzt wie eine Seifenblase. Offenbar hatte sie ihre Herrin einmal zu oft enttäuscht.
Und trotzdem klammerte sich Chandra auch weiterhin an diese Hoffnung, denn sie war buchstäblich alles, was ihr geblieben war.
Vielleicht war es ja nur eine Prüfung!
Ein Test der Unheilsbringerin, um herauszufinden, wie zäh sie wirklich war.
Nun, nicht nur Pandora würde sich wundern.
Selbst als sich der Schlüssel im Schloss drehte, zuckte Chandra nicht mal mit den Wimpern. Mehrere Männer betraten die Zelle.