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Der Mount Shasta in Norden Kaliforniens. Hierher hat es die beiden Blogger Jarvis Porter und Heather Williams verschlagen, denn sie wollen über den Berg berichten, der den amerikanischen Ureinwohnern als heilig gilt. Ein alter Indianer erzählt ihnen die Legende vom Großen Geist und den Bären, die einst hier lebten und seine geliebten Kinder waren, bis sie ihn verrieten ...
Und damit beginnt für Jarvis und Heather ein Abenteuer, das schließlich in einem blutigen Albtraum endet. Unheimliches geschieht am Mount Shasta, und auch der FBI-Agent Abe Douglas und John Sinclair von Scotland Yard werden in die schrecklichen Ereignisse hineingezogen ...
Teil 1 des neuen Zweiteilers!
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Seitenzahl: 141
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Berg der alten Götter
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Berg der alten Götter
(Teil 1 von 2)
von Ian Rolf Hill
13. Februar 1579
»Hicks! Hicks, du verdammter Schmarotzer, wo steckst du?«
Gregor tastete sich geduckt durch die dunkle Mannschaftskoje. Durch die offene Luke fiel zwar ein wenig Sonnenlicht, verlor sich aber nach wenigen Schritten. Die Luft war zum Schneiden dick.
Bis auf Gregor trieb sich hier unten keine Menschenseele herum. Die Mannschaft war an Deck und arbeitete. Da die Luke meistens offen stand, um den Mief der Nacht hinauszulassen, kam es schon mal vor, dass sich Hicks hierher nach unten verirrte, in der Hoffnung auf einen Leckerbissen, den einer der Matrosen fallen gelassen hatte. Oder um es sich in einer der Hängematten bequem zu machen.
Plötzlich hielt Gregor inne. Er hatte etwas gehört. Der Matrose grinste.
»Hab ich dich, du räudiges Vieh!«
Gregor duckte sich unter einem niedrigen Balken hindurch und trat zur Seite. »Komm, Hicksy! Komm zu Papa, dann gibt's feines Fresschen!«
Doch Hicks dachte gar nicht daran, zu Gregor zu kommen. Der kannte das Spielchen zur Genüge. Er war mit Katzen großgeworden. Und wenn er eines gelernt hatte, dann dass die Biester ihren eigenen Kopf hatten.
Trotzdem ging ihm Hicks' Verhalten auf die Nerven. Er hatte Besseres zu tun, als dem Schiffskater hinterherzulaufen. Doch das Vieh war schließlich nicht umsonst an Bord der Golden Hinde. Und wie alle anderen, so musste auch Hicks sich sein täglich Brot verdienen. Vorzugsweise, indem er in den Vorratskammern Ratten und Mäuse jagte.
Der Smutje hatte angeblich welche gesehen. Gregor hätte eine Wochenration Rum darauf verwettet, dass der Koch besoffen gewesen war. Aber lieber auf Nummer sicher gehen, als hinterher Mäuseköttel aus dem Hafer zu picken.
Wenn der dreimal verfluchte Kater nur nicht so faul gewesen wäre!
Aber es gab eine einfache Methode, um ihn aus dem Versteck zu locken. Gregor holte ein Stückchen Speck aus der Tasche seines fleckigen Hemdes und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Komm, Kitty, Kitty, Kitty!«
Gregor ging leicht in die Hocke und schwenkte den ausgestreckten Arm von einer Seite zur anderen. Der Matrose hielt den Atem an und lauschte. Doch außer dem Knarren der Bohlen, den Schritten an Deck und den gedämpften Rufen der Mannschaft war nichts zu hören.
»Hicks, verdammt und zugenäht! Komm raus, oder ich werde richtig böse!«
Gregor hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als zuzugeben, dass er sich Sorgen um den Kater machte. Normalerweise wäre das verwöhnte Vieh längst herausgekommen, um sich den Leckerbissen zu angeln. Dem Matrosen wäre es egal gewesen, schließlich sollte Hicks die Ratten und Mäuse bloß töten, ob er sie fraß, spielte keine Rolle.
»Hicks!«, zischte Gregor zum wiederholten Male. »Jetzt ...«
Der Matrose verschluckte den Rest des Satzes. Die Dunkelheit vor ihm geriet in Bewegung. Ein Schaben erklang. Etwas ... nein, jemand richtete sich vor ihm auf, drehte sich um.
Gregor schlug das Herz bis zum Hals.
Er hatte gedacht, er wäre allein hier unten!
Hastig richtete sich der Matrose auf – und knallte mit dem Kopf gegen einen Balken.
Mit einem Mal schwankte das Deck noch heftiger. Gregor wäre gestürzt, hätten ihn nicht zwei kräftige Hände aufgefangen.
Ein beißender Geruch kribbelte in seiner Nase.
»Hoppla!«, vernahm er eine tiefe Stimme. »Sie sollten ein wenig vorsichtiger sein, Mr Brewster.«
Der Matrose schüttelte den Kopf und die Benommenheit ab. Dann sah er vor sich ein Gesicht. Gebräunte Haut, dichtes schwarzes Haar, das lang und wellig auf die breiten, muskulösen Schultern fiel. Ein üppiger Vollbart und Augen, deren stechender Blick Gregor erschauern ließ.
Er hatte das Gefühl, von einem Raubtier angestarrt zu werden.
Vor gut einer Woche hatten sie den Fremden in Chile an Bord genommen. Genau genommen in Arica, der Stadt des ewigen Frühlings, wo sie am siebten Februar vor Anker gegangen waren.
Der Kerl hatte sich am Hafen herumgetrieben. Angeblich hatte er jahrelang im Dschungel unter Wilden gehaust, von denen es hieß, sie seien Menschenfresser.
Allein die Vorstellung war für Gregor so abwegig, dass er nicht mal daran denken wollte. Doch jedes Mal, wenn sein Blick dem des Arkadiers, wie ihn alle an Bord nannten, begegnete, konnte er nicht anders, als an die Gerüchte von den Kannibalen zu denken.
So wie jetzt.
Gregors Herz hämmerte, der kalte Schweiß brach ihm aus allen Poren, ein eisiger Ring legte sich um seine Brust, die Kehle schnürte sich zu. Mit einer heftigen Bewegung riss er sich los, taumelte zurück und musste sich an einem der Balken festhalten, um das Schwanken des Schiffes auszugleichen.
Der Arkadier lächelte nachsichtig.
»Warum so ängstlich, Mr Brewster? Ich beiße nicht!«
Gregor würgte seine Furcht hinunter. Wie Öl sickerte sie in seinen Bauch, wo sie einen Funken Wut fand, der daraufhin grell aufloderte.
»Was haben Sie hier unten verloren? Warum sind Sie nicht an Deck?«
Es fühlte sich gut an, dem Arkadier das Feuer des Zorns ins Gesicht zu speien. Auch wenn der Fremde sich davon gänzlich unbeeindruckt zeigte.
»Dasselbe könnte ich Sie fragen, Mr Brewster.«
»Ich ... suche Hicks.«
»Hicks?«
»Unseren Schiffskater, verdammt. Haben Sie ... haben Sie ihn gesehen?«
»Tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss, Mr Brewster. Hier unten sind nur wir zwei. Aber seien Sie unbesorgt. Katzen sind wie Sorgen, sie kommen stets zurück!«
Gregor schüttelte den Kopf. Was faselte der Kerl da für einen Unsinn?
Der Matrose wollte ihn anschnauzen, doch ein Blick in diese stechenden Raubtieraugen ließ das Feuer seiner Wut erlöschen.
Auf dem Absatz machte er kehrt und verließ die Mannschaftskoje.
Oben an Deck schlug er das Kreuz und dankte der Heiligen Jungfrau Maria, als wäre er soeben einer tödlichen Gefahr entronnen.
Stevenson, der erste Maat, tauchte auf und scheuchte ihn zurück an die Arbeit.
Gregor gehorchte wortlos. An Hicks verschwendete er keinen weiteren Gedanken. Diese beschäftigten sich nur noch mit dem Arkadier.
Dieser Kerl war ihm unheimlich ...
Gegenwart
»Einst wanderte der Große Geist über die Erde. Doch sie gefiel ihm nicht, denn sie war trostlos und leer. Da hob er einige trockene Blätter auf und warf sie in die Luft. Durch seinen Gesang verwandelten sie sich in viele bunte Vögel, die davonflatterten. Danach zerbrach der Große Geist seinen Wanderstock in viele kleine und größere Stücke. Die winzigen Splitter vom unteren Ende streute er in den Fluss, wo sie zu Fischen wurden. Die größeren Stücke aus der Mitte seines Stabes wurden zu den Tieren, die Wälder, Berge, Steppen und Wüsten bevölkerten. Und mit dem oberen Ende des Stockes, das sehr hart und dick war, gab sich der Große Geist besonders viel Mühe. Daraus schnitzte er nämlich die Krönung seiner Schöpfung: den Bären!«
Der alte Mann musterte die Gruppe, die an der Führung teilnahm. Das lange dunkelgraue Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf gebunden, die Haut sah aus wie gegerbtes Leder. Die zahllosen Falten und der kupferne Teint ließen darauf schließen, dass der Alte mehr Zeit im Freien verbrachte als im Inneren eines Hauses.
Jarvis Porter vermochte nicht zu sagen, wie alt dieser Mann war. Sicherlich weit über siebzig, aber es hätte Jarvis auch nicht gewundert, hätte der Indianer bereits einhundert Jahren auf dem Buckel gehabt.
Außer seinem grauen Haar und der faltigen Haut wies jedoch nichts auf sein hohes Alter hin. Der Mann stützte sich zwar auf einen Stock, dessen knotiges Ende von einer Hand umklammerte wurde, die Jarvis an die Klaue eines Greifvogels erinnerte, doch der Vierunddreißigjährige bezweifelte, dass der Alte ihn wirklich als Stütze benötigte.
Cunning Bear, so nannte sich der Alte, war einer der letzten Ureinwohner dieses Landstrichs im Norden Kaliforniens, der Shasta. Sie waren nach dem Berg benannt, den Jarvis Porter und seine Freundin Heather Williams heute besuchen wollten. Zusammen mit neun weiteren Touristen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.
Da war die typisch amerikanische Vorzeigefamilie. Vater, Mutter und zwei Kinder. Das Mädchen schüchtern und unscheinbar wie ihre Mutter, der Junge das exakte Abziehbild seines beleibten Vaters, nur mit deutlich mehr Haaren, weniger Bauch, aber demselben schlechten Benehmen.
Mit ihnen waren noch zwei sportliche ältere Damen mit am Start. Vermutlich Schwestern, die sich mehr für die Landschaft als für irgendwelche Sagen und Legenden der Ureinwohner interessierten.
Und da waren auch noch die beiden Halbstarken, die sich der Gruppe vermutlich nur deshalb angeschlossen hatten, um in der Nähe der blonden jungen Frau zu sein, die neben Heather und Jarvis wohl die Einzige war, die sich wirklich für das interessierte, was Cunning Bear zu sagen hatte.
Was reichlich seltsam war, denn auf Jarvis machte die vielleicht Neunzehnjährige nicht unbedingt den Eindruck, als würde sie ihre freie Zeit mit anthropologischen Studien verbringen. Das lange hellblonde Haar leuchtete im Schein der Sonne wie reifer Weizen.
Sie trug eine schwarze Lederjacke und knappe Jeans, deren Beine so kurz abgeschnitten waren, dass die Hosentaschen unter dem Saum hervorragten. Die Arme hatte sie vor der schmalen Brust verschränkt und kaute scheinbar gelangweilt auf einem Kaugummi herum. Sie hatte zudem einen Rucksack geschultert.
Jarvis war sich sicher, dass das nur Show war. Die Kleine hatte es faustdick hinter den Ohren.
Er bekam einen Stoß in die Rippen und zuckte zusammen, wandte den Kopf. Heather funkelte ihn wütend an. Mit dem Kinn deutete sie auf Cunning Bear, der mit seinem Vortrag fortfuhr.
»Die Bären waren so groß und mächtig, dass selbst der Große Geist sie zu fürchten begann. Die Goldpelze gingen wie wir Menschen auf zwei Beinen. Sie konnten sprechen und waren mit den Händen so geschickt, dass sie in der Lage waren, Werkzeuge und Waffen zu benutzen. Sie schlossen sich zu Sippen zusammen und lebten fortan von der Jagd. Der Große Geist überließ den Bären die Erde und zog sich zurück ins Innere des Mount Shasta.«
Cunning Bear drehte sich halb herum und deutete mit seinem knotigen Stock auf den schneebedeckten grauen Berg, der hinter den Wipfeln der Nadelbäume emporragte.
»Inmitten dieses Berges liegt ein sonnenhelles Land, in dem die Götter und Geister zu Hause sind. Dort lebte der Große Geist fortan mit seiner kleinen Tochter. Eines Tages fegte ein gewaltiger Orkan über das Land, sodass selbst der Mount Shasta erzitterte. Der Große Geist trug seiner Tochter auf, nach draußen zu gehen und dem Wind Einhalt zu gebieten. Das kleine Mädchen jedoch wurde vom Sturm gepackt und an den Fuß des Berges getragen. Das Kind war so fasziniert von der Schöpfung ihres Vaters, dass es staunend in die Welt hinauslief, bis es vor Erschöpfung niedersank und einschlief. Ein Bär, der gerade von der Jagd kam, nahm das Mädchen mit in seine Hütte. Die Bärenfrau hatte Mitleid mit dem armen Geschöpf und gab ihr von ihrer Milch zu trinken, damit es wieder zu Kräften kam. Das Mädchen blieb bei den Bären, die es wie ihr eigenes Kind aufzogen. Jahre vergingen, in denen es zu einer wunderschönen jungen Frau heranwuchs.«
Täuschte sich Jarvis, oder schaute Cunning Bear bei diesen Worten Heather an? Doch gleich darauf huschte sein Blick zu der blonden jungen Frau und weiter zu dem Mädchen, dessen Bruder feixte.
»Der Sohn des Bären«, fuhr Cunning Bear fort, »verliebte sich in die Menschenfrau und heiratete sie. Sie schenkte ihm viele Kinder, die von außerordentlicher Schönheit waren. Sie hatten glatte, rötliche Haut und einen scharfen Verstand, immerhin waren sie die Nachkommen des Großen Geistes. Gleichzeitig hatten diese Kinder jedoch auch den Mut und die Stärke der Bären. Voller Stolz entsandte das Bärenvolk einen Boten, der dem Großen Geist berichten sollte, was für eine schöne Frau und Mutter seine Tochter geworden war.«
Der dickliche Junge lachte. Da schlug der alte Shasta mit dem Stock so hart auf einen Stein im Boden, dass der Bursche erschrocken zusammenzuckte. Jarvis konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.
»Als der Große Geist dies hörte, war er jedoch alles andere als erfreut, denn niemand hatte ihn um seinen Segen gebeten. Und so kam sein Zorn über die Bären. Die alte Bärenmutter starb vor Schreck, die anderen Bären aber heulten und flehten so jämmerlich um Gnade, dass der Große Geist nur noch wütender wurde. ›Schweigt!‹, donnerte er.« Cunning Bear hob die Stimme. »›Schweigt für immer! Auf allen vieren sollt ihr gehen, wie gewöhnliche Tiere! Statt mit Keulen und Bogen sollt ihr nur noch mit Zähnen und Klauen jagen und kämpfen!‹« Der Shasta senkte Haupt und Tonlage. »Die Kinder seiner Tochter, die halb Bär, halb Gott waren, trieb der Große Geist von den Bären fort. Von nun an sollten sie getrennt leben. Er aber nahm seine Tochter und zog sich mit ihr wieder in den Mount Shasta zurück. Die halbgöttlichen Tiere jedoch, die ersten Menschen, blieben allein auf Erden.«
Cunning Bear verstummte, und sekundenlang herrschte Stille, nur unterbrochen vom Zwitschern der Vögel und dem fernen Rauschen des Verkehrs unten im Tal.
Wortlos drehte sich der alte Shasta um und stapfte davon in Richtung Pfad, der sich zwischen den dichtstehenden Bäumen verlor. Die Touristen schauten sich verständnislos an und warteten darauf, dass Cunning Bear sie aufforderte, ihm zu folgen.
Schließlich gab sich die Blonde einen Ruck, und wie nicht anders zu erwarten, eilten ihr die beiden Halbstarken sofort hinterher. Auch Heather und Jarvis setzten sich in Bewegung, zusammen mit den beiden älteren Damen. Die vierköpfige Familie bildete den Schluss.
Sie mussten sich beeilen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Trotz seines Alters legte Cunning Bear ein beachtliches Tempo vor ...
14. Februar 1579
Das Geschrei der Möwen war unerträglich.
Gut ein Dutzend von ihnen kreisten über dem Schiff, was selbst so dicht an der Küste eher selten vorkam. Es sei denn, es gab etwas zu holen. Zum Beispiel frischen Fisch oder Küchenabfälle, die ins Meer geworfen wurden.
Gregor war einer der ersten an Deck.
Missmutig warf er einen Blick hinauf zum Vordermast, um den sich besonders viele Vögel tummelten. Der Matrose wollte schon den Kopf senken und weitergehen, als er etwas im Wind flattern sah, für das sich die Möwen ganz besonders zu interessieren schienen.
Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Stück Stoff, den einer der Vögel jetzt zu packen bekam und daran zerrte. Doch der Lumpen hing zu fest, sodass die Möwe aufgeben musste. Zwei weitere versuchten ihr Glück. Eine schaffte es, ein Stück aus dem Lappen herauszureißen. Verfolgt von zwei, drei Artgenossen suchte das Tier das Weite.
Längst waren auch die anderen Matrosen und Offiziere auf den zerfetzten Lumpen aufmerksam geworden. Darunter auch der Kapitän. Er befahl einem der Matrosen, Albert, auf den Mast zu klettern und den Lumpen abzuschneiden.
Albert war einer der besten Kletterer. Furchtlos und behände wie ein Affe kraxelte der drahtige Matrose die Taue empor, zwischen den Zähnen ein Messer, mit dem er den Lumpen abschneiden wollte, den er nach wenigen Sekunden erreichte.
Jeder an Deck vernahm den Ruf des Matrosen, der jedoch im Kreischen der Möwen unterging, die ihn wütend umkreisten. Kaum hielt Albert den Lappen in Händen, wagte ein besonders vorwitziges Tier den Vorstoß, riss den Fetzen an sich und wollte damit davonfliegen. Doch der Lumpen wurde ihr von einer Artgenossin aus dem Schnabel gerissen. Er flatterte im Wind wie eine Fledermaus.
Fasziniert beobachteten die Matrosen den Flug, der zu Füßen von Gregor Brewster endete. Mit einem laut vernehmlichen Klatschen schlug der Fetzen aufs Deck.
Der Matrose schlug sich die Hand vor den Mund und würgte.
Er hatte längst erkannt, um was es sich bei dem blutigen Bündel handelte. Es war ein Fell. Ein Fell, das er noch vor zwei Tagen gestreichelt hatte.
Bevor es jemand Hicks vom Körper gezogen hatte!
Gegenwart
Jarvis Porter warf einen Blick auf den Kontrollmonitor seiner Headsetkamera. Zufrieden registrierte er, dass sie den Wechsel zwischen Licht und Schatten problemlos kompensierte.
Er bemerkte den fragenden Blick seiner Freundin und hob den Daumen.
Heather nickte, ohne zu lächeln.
Jarvis seufzte innerlich. Er hoffte bloß, dass er sich heute Abend nicht wieder einen Vortrag anhören musste, weil er die Blonde einen Moment zu lange angestarrt hatte.
Heather konnte verdammt eifersüchtig sein. Dabei hatte sie dafür absolut keinen Grund. Sicher, sie war vielleicht nicht so gertenschlank wie die blonde junge Frau, aber genau das mochte er ja an ihr. Doch egal, wie oft er ihr das sagte, sie blieb der Meinung, sie wäre zu dick und müsse mehr Sport treiben. Außerdem sei sie mit ihren neununddreißig Jahren sowieso viel zu alt für ihn.
Als ob heutzutage irgendein Hahn danach krähte, dass eine Frau fünf Jahre älter war als ihr Partner. Viel wichtiger war doch, dass man sich verstand und über dieselben Sachen lachen konnte.
Und wenn man dann auch noch die gleichen Interessen teilte, stand einer gemeinsamen Zukunft nichts im Wege. Jarvis war sich absolut sicher, dass das bei ihnen der Fall war.
Sie liebten beide das Reisen, unheimliche Geschichten und düstere Legenden.
Er wusste nicht mehr, wer von ihnen die Idee gehabt hatte, beides miteinander zu verbinden und ihre Erlebnisse in einem Blog sowie auf einem eigenen Youtube-Kanal zu veröffentlichen, gewissermaßen als eine Art digitaler Reiseführer für Leute, die sich für geheimnisvolle, legendenbehaftete Orte interessierten. Dazu zählten Lost Places genauso wie Landmarken von mythologischer Bedeutung, wie eben der sagenumwobene Mount Shasta.
Vor dem lebensgroßen Standbild eines Bären, das ein Meister seines Fachs aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt hatte, blieb Cunning Bear schließlich stehen.