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Suko und Shao standen vor einem Rätsel: John Sinclair war spurlos verschwunden!
Dann tauchte der Eiserne Engel bei ihnen auf und berichtete davon, dass die Flammenden Steine überfallen und seine Gefährtin Sedonia, die Prinzessin von Atlantis, der Magier Myxin und Kara, die Schöne aus dem Totenreich, von unbekannten Mächten entführt worden waren!
Währenddessen fand sich John Sinclair in einer anderen Dimension wieder. Und hier traf er auf seinen Erzfeind Asmodis, der ihm einen teuflischen Pakt unterbreitete ...
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Seitenzahl: 144
Cover
Großangriff der Schattenkinder
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Großangriff der Schattenkinder
(Teil 1 von 3)
von Ian Rolf Hill
Von einer Sekunde auf die andere wurde es dunkel.
Es war die vollkommene Finsternis, die absolut lichtlose Schwärze, wie es sie nirgendwo anders gab. Weder auf der Erde noch in den Dimensionen des Schreckens oder der endlosen Weite des Weltalls. Obwohl sie ursprünglich von dort stammte, denn es handelte sich um den Schatten des Sternenvampirs Acron.
Jetzt gehörte dieser Schatten jedoch einem anderen Dämon. Einem der mächtigsten überhaupt, der seine Kraft aus den Seelen getöteter Dämonen bezog und dessen Reich endlos war.
Sein Name war unaussprechlich, daher hatte er sich einen neuen zugelegt. Im Reich der Dämonen war er gefürchtet wie kaum ein Zweiter.
Es war ... der Spuk!
Er war der Letzte der Großen Alten.
Derjenige, der von den Sternen gekommen war. Sein Volk hatte ihn verstoßen, woraufhin er sich Acron angeschlossen hatte. Doch er hatte seinen Mentor verraten und ihm seinen Schatten gestohlen, hatte den Herrscher der Echsenwelt besiegt und seinen Körper übernommen.
Doch keiner hatte ihn bislang zu Gesicht bekommen, weder Menschen noch Dämonen.
Zumindest nicht seine wahre Gestalt ...
Auch die Frau mit dem langen goldenen Haar und in dem eng anliegenden blauen Gewand, das ihre üppigen Formen umschmeichelte wie Wasser, hatte den Leib ihres Gönners noch nie in voller Pracht gesehen. Wenn er mit ihr in Kontakt trat, dann in Form dieses Schattens, der sämtliches Licht absorbierte und dem auch die Kristallfäden nichts anhaben konnten, die durch diese Welt mäanderten.
Der Spuk hatte die Kristallwelt annektiert, nachdem er die Frau von dem Bann, der ihr von Lilith auferlegt worden war, befreit hatte, damit sie ihm im Kampf gegen die Hölle zur Seite stand. Sobald sie Liliths Stelle an Luzifers Seite eingenommen hatte, würde die große Stunde des Spuks schlagen.
So lautete jedenfalls sein Plan, bei dem ihn die Frau unterstützen sollte – und bei der es sich um keine Geringere als Pandora handelte, die Unheilsbringerin.
Ihr Exil hatte nur wenige Menschenjahre gedauert. Eine geradezu lächerliche Zeitspanne für ihresgleichen. Trotzdem war sie verblüfft gewesen, was alles in dieser Zeit geschehen war.
Der Ninja-Dämon Shimada war vernichtet worden!
Doch das war nicht einmal die größte Überraschung gewesen. Wie alle Dämonen hatte auch Shimada zur Selbstüberschätzung geneigt und letztendlich die Quittung erhalten, denn ohne seine Schutzpatronin Pandora hatte er seinen Feinden Yakup Yalcinkaya, John Sinclair und Suko nicht viel entgegenzusetzen gehabt.
Jetzt war Shimada eine von Milliarden Dämonenseelen, deren Wimmern und Wehklagen das Reich des Spuks mit ihren schaurigen Klängen erfüllten.
Vielleicht aber war der Herrscher über das Schattenreich seinem Winseln auch längst überdrüssig geworden und hatte seine Seele in die Schlucht der jammernden Steine verbannt. Obwohl ... Pandora bezweifelte das. Shimada war nicht der Typ gewesen, der sein Schicksal beklagte, daran würde auch sein Tod nicht viel geändert haben.
Aber die Vernichtung ihres Schützlings war nicht die einzige Veränderung gewesen.
Phorkys, der Vater der Ungeheuer, war ebenfalls getötet worden. Dafür war ihre gemeinsame Tochter Carnegra wieder aufgetaucht. Die Gestaltwandlerin hatte sich nach Rasputins endgültiger Vernichtung der kugelfesten Chandra angeschlossen, eine Nachkommin des russischen Magiers, dessen Leben bereits vor über einhundert Jahren von Pandora in einem nicht unerheblichen Maße beeinflusst worden war.
Doch mittlerweile war auch Carnegra Geschichte. Getötet worden war sie von Denise Curtis, Lykaons Tochter, nachdem die Dämonin sie in Gestalt des Berserkerjungen Berold geschwängert hatte. Leider hatte Pandora das Kind nicht in ihre Gewalt bringen können, und auch Denise hatte sich ihrem Zugriff entzogen und war untergetaucht.
Das waren nur einige aus einer ganzen Reihe von Niederlagen, die Pandora seit ihrer Wiederkehr hatte einstecken müssen. Und sie ahnte, dass der Spuk deshalb erschienen war.
Seine Geduld war am Ende.
»Du hast versagt!«
Seine Stimme war nur ein Wispern, dennoch hallte es ohrenbetäubend laut durch die Finsternis.
Pandora spürte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor. Eine unsichtbare Kraft riss sie in die Höhe. Sie verspürte den Drang, ihr Füllhorn zu beschwören oder den Würfel des Unheils zu aktivieren, den ihr der Spuk überlassen hatte, damit sie ihn in seinem Sinne einsetzte. Doch sie tat es nicht, riss sich zusammen. Sie durfte den Spuk nicht provozieren. Gegen ihn kam sie selbst mit dem Würfel nicht an.
Eine gnadenlose, unirdische Kälte ergriff Pandora. Ihre Haare knisterten, als würden sie gefrieren, das Gefühl wich aus ihren Gliedern, und der Druck auf ihren Körper wurde sekündlich stärker.
»Das stimmt nicht!«, presste sie hervor. »Ich ...«
»Du fährst eine Niederlage nach der anderen ein! Lilith hat nicht nur ihre verfluchten Engel der Unzucht und Hurerei erweckt, die inzwischen komplett erstarkt sind. Sie besitzt auch den Engelstöter. Das Schwert, mit dem der Erzengel Michael Luzifer in die Verdammnis stieß. Sie und die Hölle haben selbst John Sinclair an den Rand der Verzweiflung gebracht. Und jetzt befindet sich auch das Mädchen in ihrer Hand.«
»Denise?«, krächzte Pandora in die Finsternis. »Denise Curtis befindet sich in Liliths Gewalt?«
»Nicht in ihrer Gewalt.« Der Spuk hob die Stimme. »Sie hat sich der verfluchten Machalath angeschlossen, um Morgana Layton und John Sinclair zu retten.«*
Pandora hinterfragte nicht, woher der Spuk davon wusste. Er hatte seine Augen und Ohren überall. Es gab kaum etwas, das ihm entging.
»Und was hast du vorzuweisen, Unheilsbringerin?«
»Ich habe eine Armee auf die Beine gestellt und die Ghouls unter mir vereint.«
Die Antwort bestand aus höhnischem Gelächter. »Menschen, die sich nach ihrem Tod in knöcherne Monstrositäten verwandeln, und stinkende Leichenfresser. Wie jämmerlich!«
»Ich habe die Schattenkinder gefunden und befreit.«
»Und was haben sie bislang erreicht? Nichts!«
»Ich wiege meine Feinde in Sicherheit«, verteidigte sich Pandora.
»Du verschenkst eine Gelegenheit nach der anderen«, konterte der Spuk und verstärkte noch einmal den Druck auf den Körper der Unheilsbringerin. Wenn er so weitermachte, würde er sie zerquetschen. »Du hättest die Engel der Unzucht und Hurerei angreifen sollen, als sie noch geschwächt waren. Die Schattenkinder sind nicht unbezwingbar.«
»Die Engel der Unzucht und Hurerei ... Vor ihrer ... Trans...formation waren es ... gewöhnliche Dämoninnen ... Jetzt sind sie ... schwarze Engel ... Ihre Kraft wird deine Macht um ... ein Vielfaches vermehren ... Und die Schatten...kinder werden dafür sorgen, dass ... dass sie direkt in dein Reich ... gelangen.«
Bislang hatte der Spuk prompt auf ihre Worte reagiert, jetzt ließ er sich Zeit. Die Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten. Wäre die Schwärze nicht gewesen, hätte Pandora womöglich gedacht, der Spuk hätte sich zurückgezogen.
Wenigstens verstärkte sich der Druck auf ihren Körper nicht länger. Der unsichtbare Griff um ihren Leib lockerte sich sogar ein wenig. Dennoch wagte es Pandora noch nicht aufzuatmen.
Die Finsternis begann sich zu verändern. Sie blieb nicht länger lichtlos. Zwei rote Punkte erschienen in der Schwärze, formten zwei waagerechte Ovale, die an den Enden spitz ausliefen. Das Rot leuchtete so intensiv, dass die Gestalt der Unheilsbringerin förmlich darin badete. Hatte sie eben noch das Gefühl gehabt, bei lebendigem Leibe zu gefrieren, so glaubte sie nun, bei vollem Bewusstsein zu verglühen.
Endlich ergriff der Spuk wieder das Wort. »Wann?«
»Schon bald! Sinclair und seine Verbündeten rechnen momentan nicht mit einem Angriff aus unserer Richtung. Sie konzentrieren sich voll und ganz auf die Hölle. Ich habe mich aus rein taktischen Gründen zurückgezogen.«
»Dann hoffe ich für dich, dass du nicht die falsche Taktik gewählt hast. Meine Geduld ist am Ende. Ich erwarte Ergebnisse – und zwar bald!«
»Die bekommst du«, versicherte Pandora. »Der Großangriff der Schattenkinder steht unmittelbar bevor. Ich brauchte bloß Zeit, um sie besser kontrollieren zu können und die entsprechenden Ziele auszuwählen.«
»Sorge besser persönlich dafür, dass der Angriff erfolgreich verläuft. Du haftest mir mit deinem Leben dafür. Sollten die Schattenkinder versagen, rate ich dir, lieber mit ihnen unterzugehen – es sei denn, auch du willst Teil meines Reichs werden!«
Deutlicher hätte die Drohung nicht ausfallen können.
Jedes Wort traf Pandora wie ein Schlag. Das war also der Dank für ihre Bemühungen!
Aber hätte sie anstelle des Spuks anders reagiert? Wohl kaum. Es war immer ein Risiko, sich mit den Mächtigen zu verbünden.
»Und damit du gar nicht erst auf die Idee kommst, ich könnte es nicht ernst meinen, werde ich dir den Würfel des Unheils nehmen.«
»Nein!«, schrie Pandora.
Trotz der Hitze fuhr ihr ein eisiger Schrecken durch die Glieder. Sie spürte den unsichtbaren Sog, der an ihr zerrte.
Die Augen des Spuks erloschen. Dafür entstand ein Wirbel aus blauem Licht in der Finsternis, bildete einen Trichter, der sich immer mehr in die Länge zog, bis sich sein Ende innerhalb der Schwärze verlor.
Es war ihr Füllhorn.
Die Büchse der Pandora!
Dass der Spuk sie öffnen konnte, war ein Beweis seiner Macht. Eben noch hatte sie selbst daran gedacht, das Füllhorn zu beschwören, jetzt war sie froh, es nicht getan zu haben. Der Spuk hätte sie womöglich auf der Stelle vernichtet.
Ein vielstimmiges Heulen und Wehklagen erklang. Gestalten wirbelten aus dem Füllhorn. Geister und Dämonen, Ghouls und Zombies, die von der Schwärze geschluckt wurden. Und zwischen ihnen trudelte ein bestimmter Gegenstand. Ein Quader von blauvioletter Farbe. Seine Oberfläche war transparent, sodass die Schlieren in seinem Inneren deutlich erkennbar waren.
Es war der Würfel des Unheils, das Orakel von Atlantis. Erschaffen von den Großen Alten.
Wie hatte sie nur so töricht sein können, zu glauben, der Spuk könne ihn ihr nicht jederzeit wieder nehmen? Immerhin gehörte er selbst zu diesen archaischen Dämonengöttern.
»Nein!«, flehte sie. »Bitte nicht den Würfel!«
»Weshalb nicht?«, hallte es von allen Seiten durch die Finsternis. »Er gehört mir allein. Und ich tue mit ihm, was immer ich will.«
»Aber ich brauche ihn. Nur mit ihm kann ich die Schattenkinder lenken.«
Sekundenlang schwebte der Würfel über ihr, drehte sich dabei langsam um die eigene Achse. Plötzlich aber fiel er wie ein Stein in die Tiefe, direkt in Pandoras auffangbereite Hände. Ihr Füllhorn hingegen verging.
»Enttäusche mich nicht!«
Es waren die letzten Worte des Spuks.
Bevor Pandora eine Antwort geben konnte, verschwand die Schwärze und gewährte ihr freien Blick auf die Kristallwelt. Eine endlose Ödnis aus bläulich grünen Kristallen unterschiedlichster Form und Größe, über denen sich ein grauer Himmel spannte. Einige bildeten mannshohe Kegel, andere besaßen die Ausmaße turmhoher Stelen. Manche von ihnen bildeten sogar kleine Höhlen.
Der Boden bestand aus zahllosen Stalagmiten, und die Luft flimmerte und flirrte. Erst bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, dass dieses Phänomen von Abermilliarden winziger Fäden hervorgerufen wurde, die die Grundlage der Kristallwelt bildeten. Verirrte sich ein Lebewesen hierher, egal, ob Mensch, Tier oder Dämon, wurden die Fäden von ihm angezogen wie Eisenspäne von einem Magneten. Dann wurde das Opfer von den Fäden vollständig eingesponnen und kristallisiert.
Pandora hatte keinen Blick für die Kristallgebilde, ihr Interesse galt allein dem Würfel des Unheils.
»Ich werde dich bestimmt nicht enttäuschen«, zischte sie. »O nein, aber auch du wirst dich noch wundern. Und zwar schon sehr bald.«
Im Hochland von Brasilien, an der Grenze zu Venezuela
Denise Curtis legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick über die Steilwand schweifen. Der Rand der Klippe lag noch mindestens achtzig Yards über ihr, was bedeutete, dass sie erst knapp die Hälfte zurückgelegt hatte.
Erschöpft war sie deshalb noch lange nicht, nur das leichte Zittern in Armen und Beinen kündete von der enormen Anstrengung, die es kostete, mit bloßen Händen und Füßen die Felswand zu erklimmen. Denise wusste nicht, wie oft sie es bereits probiert hatte, seit sie bei den Lobosh zu Gast war, jenem Stamm Eingeborener, der vor Jahrhunderten ihren Vater Lykaon angebetet hatte.
Ihm hatten sie auch den Werwolfskeim zu verdanken, der im Laufe der Dekaden allerdings so weit degeneriert war, dass er nur dann zum Ausbruch kam, wenn die Angehörigen des Stammes Menschenfleisch zu sich nahmen.
Es war nicht bloß eine Folge der Isolation, in der der Stamm dahinvegetierte, seit er von Lykaon im Stich gelassen worden war. Auch Denise Curtis hatte dieses Phänomen zu spüren bekommen, das sie lange Zeit für eine psychische Blockade gehalten hatte. Das legte den Schluss nahe, dass alle Nachkommen Lykaons, egal, an welcher Stelle der Blutlinie sie standen, auf den regelmäßigen Verzehr von Menschenfleisch angewiesen waren.
Im Gegensatz zu den klassischen Werwölfen des Götterwolfs Fenris zeichneten sich Denises Artgenossen dadurch aus, dass sie sich zu jeder Tages- und Nachtzeit verwandeln konnten. Und zwar innerhalb eines Wimpernschlags. Eben noch Mensch, einen Atemzug später schon Bestie. Ein enormer Vorteil, wenn es hart auf hart kam.
Auch Denise hatte dieses Privileg lange genossen.
Eigentlich schon zu lange. Aber auch sie hatte getötet. Damals war sie sogar stolz darauf gewesen, Lykaons Tochter zu sein. Da hatte sie jedoch noch nicht gewusst, was für ein Monster er gewesen war. Zum Glück lagen diese Zeiten lange zurück. Obwohl sie sich in den letzten Tagen und Wochen immer häufiger gefragt hatte, ob sie nicht vom Regen in die Traufe geraten war.
Sicher, sie hatte sich freiwillig dazu entschlossen, bei den Lobosh zu bleiben, immerhin konnte sie sich seit Kurzem wieder verwandeln. Seit sie die Leber ihres Halbbruders Hank Solomon verspeist hatte, der Denise eigentlich Machalath, einem von Liliths Engeln der Unzucht und Hurerei, zum Fraß hatte vorwerfen wollen.*
Ursprünglich waren die Lobosh nämlich Machalath hörig gewesen. Bis Lykaon gekommen war. Auch er hatte sich mit dem Engel der Unzucht und Hurerei gepaart, doch die Nachkommen waren so abscheulich entstellt gewesen, dass Machalath sie bereits kurz nach der Niederkunft verspeist hatte. Daraufhin hatte Lykaon seine Braut verstoßen, die schließlich bei den Sumerern und später den Babyloniern eine neue Heimat gefunden hatte.
Hank Solomon hatte gehofft, sich mit Machalath versöhnen zu können und die Macht seines Vaters, die fast ausschließlich auf Denise Curtis übergegangen war, an sich zu reißen, indem er seine Halbschwester tötete.
Nun, Machalath hatte den Spieß umgedreht und Solomon vernichtet. Sie hatte sein Herz verspeist, woraufhin sie zu einem schwarzen Engel transformiert war. Einem Anti-Erzengel gewissermaßen, denn noch während der Transformation war ihre Insignie auf der Rückseite des silbernen Kreuzes des Geisterjägers John Sinclair erschienen, der ebenso Zeuge des Geschehens gewesen war wie Denise und Morgana Layton, die Königin der Werwölfe.
Damit Machalath den Geisterjäger und Morgana gehen ließ, hatte Denise angeboten, bei den Lobosh zu bleiben. Obwohl ihr klar war, dass sie damit genau das tat, was Lilith, die Große Mutter, von Anfang an geplant hatte.
Dabei war Denise selbst nicht klar, was Lilith eigentlich von ihr wollte. Laut Pandora ging es um den göttlichen Funken, der Denise innewohnte. Doch was genau er bewirkte oder welche Funktion er erfüllte, war ihr noch immer schleierhaft.
»Also dann mal weiter«, murmelte Denise und setzte ihre Kletterpartie fort.
Stein um Stein. Ihr sehniger Körper war in Schweiß gebadet, ihr Herz hämmerte im Stakkato, das Blut rauschte ihr durch die Adern. Denise genoss das Gefühl, denn es bewies ihr, dass sie trotz ihres dämonischen Erbes immer noch Mensch war.
Zuerst mit den Händen einen sicheren Halt suchen, anschließend mit den Füßen.
Denise streckte den rechten Arm aus und befühlte den Felsen. Als sie einen kleinen Vorsprung ertastete, löste sie die linke Hand. Schräg über ihr ragte eine kleine Felsnase aus dem Tafelberg.
Für die Füße fand sie einen schmalen Spalt, gerade breit genug für die Zehen, aber das meiste ihres Gewichts hing an den Armen.
Hier oben, gut achtzig Yards über dem Boden, blies der Wind recht kräftig. In Böen fuhr er hinab ins Tal und zerrte an Denises Körper.
Ihre blonden Haare flatterten wie eine Fahne im Wind. Manchmal wehten ihr auch einige Strähnen ins Gesicht und erschwerten die Sicht. Aber beim Klettern kam es ohnehin mehr auf das Tasten und Fühlen an.
Und dann passierte es!
Die Felsnase brach ab!
Denises Zehen rutschten aus der Felsspalte. Sie fluchte. Mit einem Mal hing ihr Gewicht nur noch an einer Hand. Ihr Blick glitt in die Tiefe, in der das Bruchstück schon bald aus ihrem Sichtfeld verschwand. Denise verzog das Gesicht.
Unter ihr befand sich ein Felsplateau, dahinter breitete sich der Dschungel aus, und von dort waren es noch ungefähr zwanzig Minuten Fußmarsch bis ins Dorf der Lobosh.
»Zum Glück bin ich schwindelfrei!«, flüsterte Denise im Selbstgespräch, dann gab sie sich selbst Schwung. Ein Teil der Felsnase war noch vorhanden, und diesmal hatte sie Glück. Das Gestein hielt ihr Gewicht.
Allzu lange wollte sie trotzdem nicht verweilen und kletterte weiter. Eine Armlänge über ihr ragte Gestrüpp aus der Felswand. Denise beging nicht den Fehler, sich daran festhalten zu wollen.
Zweimal hatte sie das versucht, und jedes Mal war sie deswegen abgestürzt. Entweder weil das Gestrüpp zu trocken und brüchig gewesen war oder die Wurzeln nicht genug Halt gehabt hatten für das zusätzliche Gewicht.
Hinter dem Strauch bemerkte Denise einen Schatten, der zu einer Nische oder Höhle gehörte. Hätte ihr Herz nicht ohnehin schon wie verrückt geschlagen, in diesem Augenblick hätte sich ihr Puls mit Sicherheit beschleunigt.
Es gab zahlreiche solcher Höhlen und Einschlüsse innerhalb des Tafelbergs. Und sie waren keineswegs unbewohnt. In ihnen hauste Machalaths Brut, die sie mit den männlichen Lobosh gezeugt hatte. Und einer dieser Nachkommen zeigte sich jetzt.
Wie aus dem Nichts tauchte der Kopf einer dieser Kreaturen über ihr auf. Wächserne graue Haut, die sich über den Schädelknochen spannte. Die Augen lagen tief in den Höhlen und schimmerten wie Öl, strähnige schwarze Haare umflatterten die hohlwangige Fratze mit den strichdünnen Lippen, die sich jetzt teilten und zwei Reihen spitzer Zähne bleckten.
Der Schädel saß auf einem überlangen Hals, der aus einem schmutzig weißen Federwulst hervorstach. Die nackten knochigen Arme waren mit gewaltigen schwarz gefiederten Schwingen verwachsen.
Was dort über ihr aus der Höhle kroch, war eine widerliche Mischung aus Mensch und Geier ...