John Sinclair 2403 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2403 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Die Schlacht um das Reich des Spuks war geschlagen - und wir hatten schmerzhafte Verluste erlitten!
Während wir noch voller Trauer waren und um die Zukunft fürchten mussten, erwachte mein Freund Bill Conolly in London aus tiefer Besinnungslosigkeit und fand sich zwischen zerfetzten Leichen wieder. Die Polizei nahm ihn als Mörder fest! Und mich erreichte eine schockierende Nachricht: Alles deutete darauf hin, dass Bill zum Werwolf geworden war!

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Seitenzahl: 139

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Inhalt

Cover

Der Geist der Bestie

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Der Geistder Bestie

von Ian Rolf Hill

Der Gestank nach Blut und rohem Fleisch war nicht nur atemberaubend, er war ekelerregend.

Bill Conolly wähnte sich in einem Schlachthaus. Er versuchte, Ordnung in das Chaos seiner Gedanken zu bringen. Sein Schädel dröhnte. Was war passiert? Wo befand er sich? Er konnte sich nicht erinnern. Vergebens versuchte er sich in der Finsternis zu orientieren.

Ein leises Stöhnen floss über seine Lippen. Ächzend richtete sich der Reporter auf, stützte sich mit den Händen ab und griff in etwas Warmes, Feuchtes, Glitschiges.

Bill drehte sich der Magen um. Seine Hand zitterte, als er nach dem Smartphone griff und die Taschenlampenfunktion aktivierte. Was er im Licht der kleinen, aber leistungsstarken Lichtquelle erblickte, ließ ihm das Mark in den Knochen gefrieren.

Nein, das war kein Schlachthaus. Trotzdem fand er sich inmitten eines Gemetzels wieder. Bill Conolly lag zwischen den Überresten mehrerer Leichen, die buchstäblich zerrissen worden waren.

Und in der Ferne erklang das Heulen sich nähernder Sirenen ...

Es war grauenhaft!

Ein anderer Ausdruck wollte mir nicht einfallen. Noch jetzt, knapp einen Tag nach den unfassbaren Ereignissen, die uns in das Reich des Spuks geführt hatten, standen wir unter Schock.

Doch der hatte nichts mit dem zu tun, was wir während des Infernos in der Dämonenhölle erlebt hatten, obwohl das sicherlich ebenfalls für einen derartigen Zustand ausgereicht hätte. Nein, was uns vor Entsetzen sprachlos machte und lähmte, war das, was unmittelbar danach passiert war.

Sedonia, die Prinzessin von Atlantis, war getötet worden!

Ermordet!

Allerdings nicht von einem unserer zahlreichen Feinde. Sie war weder den Echsenmenschen noch Pandora oder einem der vier Engel der Unzucht und Hurerei zum Opfer gefallen. Nein, der wahre Mörder war ausgerechnet der Mann, den sie über alles geliebt hatte.

Der Eiserne Engel!

Wie hatte das geschehen können? Der Eiserne hätte sein Leben für seine Gefährten gegeben.

Und dennoch war er kurz nach unserer Rückkehr aus dem Reich des Spuks im wahrsten Sinn des Wortes durchgedreht. Er hatte sein Schwert gezückt und war auf uns losgegangen, als wären wir selbst Dämonen, die ihm ans Leder wollten.

Sedonia hatte ihren Gefährten besänftigen wollen, und das war ihr zum Verhängnis geworden.

Der Eiserne Engel hatte die Prinzessin von Atlantis vor unseren Augen geköpft!

Keiner von uns hatte es verhindern können. Weder Myxin mit seinen telekinetischen Kräften, noch Kara, die Schöne aus dem Totenreich. Auch Suko und ich waren machtlos gewesen.

Myxin war von den Strapazen in der Dämonenhölle noch geschwächt gewesen. Es glich einem Wunder, dass es ihm gelungen war, den Eisernen Engel mithilfe des Würfels des Heils und der Magie der Flammenden Steine verschwinden zu lassen.

Wohin, das wusste selbst der kleine Magier aus Atlantis nicht zu sagen. Vielleicht in die Schlucht der Stummen Götter, möglicherweise aber auch ganz woanders hin.

Nur wie hatte es überhaupt soweit kommen können?

Die Antwort war einfach und doch kompliziert. Sie hing mit dem Abenteuer zusammen, das hinter uns lag und dessen Tragweite wir selbst noch gar nicht zur Gänze erfasst hatten.

Es hatte mit einem Großangriff der Schattenkinder begonnen. Jenen Kreaturen, die Lilith einst mit dem Spuk gezeugt hatte, als dieser sich noch nicht den Großen Alten angeschlossen hatte.

Bei diesen Wesen handelte es sich um wandelnde Dimensionstore, die jeden, den sie verschlangen, in das Reich der Schatten holten. Dämonen, die von ihnen berührt wurden, vergingen, sodass nur deren Seelen in das Reich des Spuks eingingen und seine Macht mehrten. Je mächtiger der Dämon, desto länger dauerte dieser Prozess.

Lilith, die Große Mutter, und Asmodis, der Teufel, hatten mich vor den Schattenkindern gewarnt. Und vor dem Spuk, der angeblich zum großen Schlag ausholte.

Tatsächlich hatten die Schattenkinder nicht nur die Kolonie der Berserker und Werwölfe in Alaska angegriffen, sondern auch das Refugium der Atlanter, die Flammenden Steine, wo wir uns auch momentan aufhielten, sowie das Kloster der Templer in Alet-les-Bains.

Neben Kara, Myxin und Sedonia hatten die Schattenkinder auch Lykke, die Schamanin der Berserker, und Denise Curtis verschlungen. Außerdem Godwin de Salier und seine Templer-Brüder.

Wie sich später herausgestellt hatte, war Pandora für den Angriff verantwortlich gewesen.

Die Unheilsbringerin hatte ihre Gefangenen in die Kristallwelt schaffen lassen, die vom Spuk annektiert worden war. Was dieser zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst hatte: Pandora hatte ihn verraten!

Sie wusste, dass der Spuk kein Interesse daran hatte, sie anstelle von Lilith neben Luzifer an der Spitze der höllischen Hierarchie zu platzieren. Er hatte das absolut Böse selbst assimilieren wollen. Und so war uns gar nichts anderes übrig geblieben, als gemeinsam mit Pandora gegen den Spuk vorzugehen.

Es war ein im wahrsten Sinn des Wortes höllischer Kampf geworden, in den auch Lilith und Luzifer eingegriffen hatten.

Das Ziel war der Sturz des Spuks gewesen, nicht seine Vernichtung!

Hätten wir den Letzten der Großen Alten getötet, wären die Stummen Götter, die großen Widersacher der atlantischen Superdämonen, wieder aus ihrer Verbannung zurückgekehrt, und das war natürlich nicht im Sinne der Hölle.

Und auch nicht im Sinne von Pandora, der es tatsächlich gelungen war, mithilfe des Würfels des Unheils, den Schatten des Sternenvampirs Acron zu übernehmen.

Pandora war somit die neue Herrscherin des Schattenreichs und hatte die Stelle des Spuks übernommen. Der Letzte der Großen Alten hatte sich erbittert gewehrt, war jedoch gescheitert. Zu verdanken hatten wir dies letztendlich Lilith und den vier Engeln der Unzucht und Hurerei.

Nachdem diese ihre alte Macht zurückerlangt hatten, waren auf der Rückseite meines Kreuzes ihre Insignien erschienen. Und da der Spuk von den Sternen stammte und daher mit der christlich-jüdischen Mythologie nichts am Hut hatte, war mir letztendlich nichts anderes übrig geblieben, als Liliths Engel anzurufen, denn auf mein Kreuz hatte er mittlerweile gar nicht mehr reagiert.

Denen war es tatsächlich gelungen, den Körper des Spuks, ein gigantisches Echsenmonstrum, zu besiegen und in die Hölle zu zerren, damit seine Seele nicht in sein eigenes Reich zurückkehrte und dort für Chaos sorgte.

Der Eiserne Engel, der mit uns in das Zentrum des Reichs des Spuks vorgestoßen war, hatte die einmalige Chance ergreifen und den Letzten der Großen endgültig vernichten wollen, um seine Väter, die Stummen Götter, zu befreien. Doch Naema, Liliths kindlicher Engel der Unzucht und Hurerei, hatte ihn mit Satans Marotte niedergeschlagen, einem Narrenzepter, in dem der Geist eines wahnsinnigen Dämons hauste, der vor Äonen selbst der Hölle gefährlich geworden war und deshalb von den Horror-Reitern und dem Spuk in diese Marotte gebannt worden war. Mit dem Ergebnis, dass jeder, der das Zepter berührte oder davon berührt wurde, egal, ob Mensch oder Dämon, unweigerlich dem Wahnsinn anheimfiel.

Naema war die Einzige, die imstande war, das Zepter zu berühren. Sie war schon immer ein wenig zurückgeblieben gewesen, doch nach dem Kontakt mit dem Geist der wahnsinnigen Vampirin Amanda Parker war sie vollends dem Irrsinn verfallen.

Ebenso wie jetzt der Eiserne Engel!

Und das Ergebnis dieses Irrsinns lag nun vor uns in einem kleinen Grab, das sich unweit der Lichtung, am Rand des Waldes, erhob. Jenseits der Trümmer, die von den beiden Blockhütten übrig geblieben waren. Die Schattenkinder hatten die Behausungen der Atlanter vollständig zerstört.

Zu viert standen wir um den länglichen Erdhügel. Auf ein Kreuz hatten wir verzichtet. Sedonia war keine Christin gewesen, sondern die Prinzessin von Atlantis und zugleich eine Frau, die mit Vögeln kommuniziert hatte.

Keiner von uns hatte ein Wort gesagt, während wir das Grab ausgehoben hatten.

Ich hatte zuvor in London angerufen und Sir James einen knappen Bericht erstattet. Es sprach für den Superintendenten, dass er trotz der enormen Umwälzungen, die aus der Niederlage des Spuks resultierten, auf weitere Nachfragen verzichtet hatte.

Suko hatte mit Shao telefoniert. Unsere anderen Freunde wollten wir informieren, sobald wir wieder in London waren. Dazu zählten auch Abe Douglas und Stephanie Kruger, die Sedonia ebenfalls viel zu verdanken hatten.

Obwohl ich Sedonia nicht so gut gekannt hatte wie Kara oder Myxin, wollte ich ein paar Worte sagen. Vielleicht wäre es die Aufgabe meiner atlantischen Freunde gewesen, doch Myxin war nun mal ein ehemaliger Dämon, und Kara stand noch viel zu sehr unter dem Eindruck des Erlebten.

Daher trat ich vor, mit gesenktem Haupt.

Verdammt, eben hatte ich noch ganz genau gewusst, was ich sagen wollte, doch jetzt fiel mir kein einziges der vielen Worte, die ich mir zurechtgelegt hatte, mehr ein. Zudem schnürte sich mir die Kehle zu, während der Druck hinter meinen Augen von Sekunde zu Sekunde stärker wurde.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Es war die von Suko.

Er wollte mir Mut machen. Ich versuchte zu lächeln, doch es wurde bloß eine verkrampfte Grimasse daraus. Mühsam schluckte ich den Kloß in meinem Hals herunter, räusperte mich und fing endlich an zu sprechen.

»Wir haben uns nicht oft getroffen, Sedonia. Doch jedes Mal, wenn wir uns gesehen haben, warst du so voller Optimismus und Lebensfreude, wie ich sie nur selten erlebt habe. Als du zu uns gestoßen bist, war ich nicht dabei, wir haben uns erst später kennengelernt. Und obwohl dich die Diener des Schwarzen Tods geblendet hatten, waren dein Le‍bensmut und deine Willensstärke un‍gebrochen. Schließlich ist es dir sogar ge‍lungen, dein Augenlicht zurückzuerlangen. Ein Adler schenkte dir seine Augen und machte dich wieder sehend. Du hast dich weder von dem Monstervogel einschüchtern lassen noch von den Drengars. Selbst Lilith bist du furchtlos gegenübergetreten. Du hast dich dem Leben in der Gegenwart auf eine einzigartige Weise angepasst, und ich hätte mir gewünscht, dich noch besser kennenlernen zu dürfen. Dafür ist es nun zu spät, doch ich werde dich niemals vergessen, Prinzessin von Atlantis. Deine Freundlichkeit, deine Warmherzigkeit und dein Lächeln werden stets ein Teil meiner Erinnerung bleiben und mich daran erinnern, wofür ich tagtäglich kämpfe. Und dafür möchte ich dir danken, Sedonia. Ruhe in Frieden!«

Während der letzten Worte spürte ich ein Brennen in den Augen, und dann liefen mir die Tränen über die Wangen.

Kara stieß ein leises Schluchzen aus, die Mienen von Myxin und Suko schienen wie aus Stein gemeißelt.

Ich wandte mich ab. Kara kam zu mir und nahm mich in die Arme. Dann brachen bei ihr alle Dämme.

Ich warf Myxin einen Blick zu, doch der Magier reagierte überhaupt nicht auf den Kummer seiner Gefährtin. Sein Augenmerk galt dem Grab.

Wie aus dem Nichts fegte ein Vogel dicht über meinen Kopf hinweg. Ich zuckte zusammen, schob Kara sanft beiseite. Die Schöne aus dem Totenreich schaute mich verdutzt an.

Ich beachtete die Freundin nicht, denn auch meine Aufmerksamkeit wurde von dem frischen Grab in Anspruch genommen. Mit einem Mal wusste ich, was Myxin daran so interessant gefunden hatte. Nicht nur, dass darin eine unserer besten Freundinnen ruhte.

Auf dem frisch aufgeschütteten Erdhügel saßen Vögel!

Mindestens ein Dutzend waren es, und es wurden von Sekunde zu Sekunde mehr. Jeder von ihnen hielt eine Blume im Schnabel. Schon flogen die nächsten herbei, ein Amselpärchen. Friedlich gesellten sie sich zu den Meisen, Finken und Sperlingen. Sogar einen Stieglitz und einen Specht bemerkte ich. Selbst Krähen, Raben und Elstern fanden sich an Sedonias Grab ein.

Spätestens mit Ankunft der Elstern hätte die Situation unter den Vögeln eskalieren müssen, doch das passierte nicht. Die Tiere waren nicht gekommen, um Futter zu suchen, sondern um sich von einer Freundin zu verabschieden. Es war wie im Märchen.

Andererseits hatten wir schon so viel Sonderbares erlebt, dass eine trauernde Vogelschar mich nicht hätte überraschen dürfen.

Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Auch Kara konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. Selbst im Tod hatte Sedonia nichts von ihren Fähigkeiten verloren.

Ich legte den Arm um Karas Schulter und warf Suko einen Blick zu. Mein Partner zwinkerte mir zu. Doch noch im selben Atemzug entgleisten ihm die Gesichtszüge.

Ich spürte es im selben Moment.

Ein kalter Luftzug fuhr über die Lichtung mit den Flammenden Steinen und spielte mit meinem Haar. Die Vögel stoben kreischend empor, die Wolken schoben sich vor die Sonne und den postkartenblauen Himmel.

Myxin stieß einen Schrei aus, der Kara, Suko und mich alarmierte. Synchron wirbelten wir herum.

Mir sträubten sich die Nackenhaare.

Das waren keine Wolken, die sich vor den Himmel schoben, es waren Schatten. Schatten, die sich bewegten und einen Wirbel bildeten, der schließlich einen Trichter formte. Aus dessen Öffnung erhob sich der Oberkörper einer Frau von gottgleicher Schönheit. Ihre Haut war dunkelgrau, ihr Gewand und ihr Haar dagegen waren so schwarz wie das All.

Nein, noch schwärzer. Es war die absolute Lichtlosigkeit, wie ich sie bisher nur bei einem Dämon erlebt hatte, dem Spuk.

Pandora war erschienen!

Der Anruf erreichte Marisa Douglas beim Zubereiten des Frühstücks.

Sie hatte die Armprothese noch nicht angelegt und behalf sich mit einem speziellen Schneidebrett, aus dem mehrere Nägel ragten. Auf die steckte sie die Lebensmittel, um sie einhändig zerschneiden zu können, ohne eine weitere Hand zum Festhalten zu benötigen.

In diesem Fall war es ein Toast, den sie butterte.

Emma lehnte sich zurück und angelte das Smartphone vom Küchentresen. Sie wollte ihrer Gattin den Apparat über den Tisch reichen, doch Marisa schüttelte den Kopf.

»Hab gerade keine Hand frei. Geh ran und sag dem Störenfried, dass ich keine Zeit habe und den Tag mit meiner wunderschönen Frau verbringen will.«

Emma schmunzelte. »Deine wunderschöne Frau muss aber gleich zur Uni.« Sie riss mit gespieltem Entsetzen die Augen auf. »Warte, hast du etwa noch eine andere?«

»Klar, jede Menge. An jedem Finger eine. Was immerhin fünf macht.«

»Wir sollten dringend an deinem Humor arbeiten«, murmelte Emma, und nahm das Gespräch entgegen. »Apparat von Marisa Douglas, der weltbesten Psychologin. Sie sprechen mit ihrer Sekretärin Emma Graham, was kann ich für Sie tun?«

Marisa rollte mit den Augen. Bis zu dem Moment, an dem Emma die Stirn in Falten legte und Marisa über den gedeckten Frühstückstisch hinweg musterte.

»Ja, sie ist hier. Ich geb Sie Ihnen, Sir.«

Emma wedelte mit der freien Hand und zog die Lippen von den Zähnen, durch die sie zischend einatmete. »Sir James«, wisperte sie.

Marisa schmunzelte. »Das kommt davon, wenn man nicht aufs Display guckt.« Sie nahm das Gespräch entge‍gen. »Marisa hier, was kann ich für Sie tun, Sir?«

»Wir könnten Ihre Hilfe in einem speziellen Fall gebrauchen.«

Das Herz der jungen Psychologin schlug schneller. Es war nicht das erste Mal, dass Scotland Yard ihre Dienste in Anspruch nahm. Seit einem halben Jahr arbeitete sie nun als freie Mitarbeiterin für die Metropolitan Police, bislang allerdings nur in normalen Fällen. Die Spezialabteilung von Sir James Powell, zu der auch John Sinclair und Suko gehörten, hatte bisher noch keinen Bedarf angemeldet.

Marisa hatte diesen Moment ebenso herbeigesehnt wie gefürchtet.

Es lag jetzt über ein Jahr zurück, seit sie von einem wahnsinnigen Wissenschaftler verstümmelt worden war. Der Mann hatte ihr den linken Arm und das rechte Bein amputiert, um sie durch kybernetische Äquivalente zu ersetzen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, hatte die Erzdämonin Eurynome ihre Schwäche ausnutzen und Marisa zu ihrer Dienerin machen wollen.

Dass es dazu nicht gekommen war, hatte sie John Sinclair, Suko, Emma und nicht zuletzt ihrer eigenen Stärke zu verdanken. Leider war die Stiftung zur Unterstützung der Opfer schwarzmagischer Angriffe zerstört und Melody Swan, eine gute Freundin und Sozialarbeiterin, getötet worden.

Trotzdem hatte sich Marisa nicht unterkriegen lassen, und kurz darauf hatte sie endlich ihre Freundin Emma geheiratet. Noch auf der Hochzeitsfeier hatte Sir James ihr den Job als freie Mitarbeiterin im sozialpsychiatrischen Dienst angeboten. Sie würde der Metropolitan Police im Allgemeinen und speziell der Sonderabteilung beratend und bei der Opferbetreuung zur Seite stehen.

Bislang hatte sie vergeblich auf ei‍nen Auftrag gewartet.

Vergessen hatte man sie bestimmt nicht, das war Marisa klar, doch was ihr zugestoßen war, hatte nun einmal tiefe Narben in ihrer Psyche hinterlassen. Marisa machte sich keine Illusionen, dafür war sie professionell genug. Sie litt noch immer unter posttraumatischer Belastungsstörung, und die Gefahr, durch einen Auftrag der Spezialabteilung retraumatisiert zu werden, war hoch.

Marisa war klar, dass sie nicht ewig den Kopf in den Sand stecken konnte und sich irgendwann ihren Ängsten stellen musste. Das war auch gar nicht das Problem. Im Gegenteil, Marisa neigte eher dazu, zu schnell zu viel von sich zu erwarten. Nein, sie befürchtete, dass vor allem John und Suko sich scheuten, sie zu ihren Fällen hinzuzuziehen.

Umso erleichterter war sie jetzt, dass Sir James sie angerufen hatte.

Erleichtert, ein wenig gerührt, aber auch ein Stück weit eingeschüchtert.

»Sind Sie noch dran, Mrs Douglas?«

Sie schreckte auf. »Ja, Sir. Natürlich, Sir. Wie speziell ist der Fall denn? Ähm, speziell speziell oder ...«

Himmel, was redete sie da für einen Unsinn? Sie war doch sonst nicht so unsicher.

»Sehr speziell, Mrs Douglas. Ich würde Sie normalerweise nicht damit belästigen. Nicht weil Sie nicht qualifiziert wären, sondern weil wir generell darauf achten, dass die Ermittler nicht persönlich involviert sind. In diesem Fall aber könnte gerade das von Vorteil sein.«