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Suko und seine Lebensgefährtin Shao befanden sich in Japan, um die Gunst der Sonnengöttin Amaterasu zu erbitten, damit sie das Schwert Kusanagi-no-tsurugi wieder herstellte, die einzig wirksame Waffe gegen Xorron!
Dabei gelangten sie auf die japanische Insel Koshi - und hier weckten sie den Zorn von Susanoo, dem dunklen Bruder der Amaterasu!
Und auch ich, der Geisterjäger John Sinclair, wurde in dieses haarsträubende Abenteuer verstrickt, als ich in London unerwarteten und schaurigen Besuch erhielt ...
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Susanoos Zorn (Teil 1 von 2)
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Susanoos Zorn(Teil 1 von 2)
von Ian Rolf Hill
Meterhoch türmten sich die Wellen vor der schroffen Küste auf und rollten gegen das winzige Eiland, als wollten sie es samt den Einwohnern in die Tiefe des Meeres reißen.
Der sonst so friedvolle Ozean hatte sich innerhalb weniger Stunden in ein gefräßiges, nimmersattes Monstrum verwandelt, das ein Opfer verlangte. Erst dann würde es Ruhe geben und die Insel verschonen.
Yoni war bereit, dieses Opfer zu bringen. Zum Wohle der Gemeinschaft und zum Wohle Japans. Denn tat sie es nicht, so wusste sie, würde Susanoos Zorn die Söhne und Töchter Nippons verschlingen.
Seit sie ein kleines Mädchen war, war Yoni auf diese Aufgabe vorbereitet worden.
Ihre Großmutter hatte sie in die geheimen Riten im Shinto-Schrein der Sonnengöttin Amaterasu die alten Gesänge gelehrt, mit denen sie den Boten des Sturm- und Meeresgottes Susanoo herbeirufen konnte. Susanoo war der dunkle Bruder der Amaterasu. Wegen ihm hatte sie sich in die Felsenhöhle Ama-no-iwato zurückgezogen, weil er ihre Reisfelder verwüstet und den Himmel verdunkelt hatte.
Einige Quellen behaupteten dagegen, dass Susanoo die Sonnengöttin im Auftrag von Emma-Hoo, dem Herrscher der Unterwelt, in die ewige Dunkelheit verbannt hatte. Gemeinsam mit einem schrecklichen Dämon namens Shimada, der lebenden Legende. Er hauste angeblich in einer blauen Festung, mit der er durch Zeit und Raum reisen konnte.
Welche Version der Wahrheit entsprach, wagte Yoni nicht zu beurteilen. Selbst ihre Großmutter wusste es nicht. Für die vor Yoni liegende Aufgabe war es auch nicht von Bedeutung. Susanoo verlangte ein Opfer, das war das Einzige, was zählte.
Bevor das Jahr zur Neige ging, musste sich dem dunklen Bruder der Amaterasu ein Mädchen hingeben. Eine Jungfrau, die den Zorn des Sturm- und Meeresgottes besänftigte.
An die ersten Jahre ihres Lebens hatte Yoni natürlich keine Erinnerungen, die setzten erst ein, als sie vier oder fünf gewesen war. Damals hatte man ihr gesagt, die anderen Mädchen seien der Sonnengöttin in die Dunkelheit gefolgt und würden gemeinsam mit ihr auch wieder heraus ins Licht treten, sobald Ama-no-uzume, die Göttin des Himmels und der Freude, ihren Tanz beendet hatte.
Bis es so weit war, würde der Kreislauf weitergehen. So wie der Tag der Nacht wich und der Sommer dem Winter, so mussten eben auch die Menschen den Göttern ihren Tribut zollen.
Yoni begann zu singen.
Begleitet von den Klängen der Shamisen, der traditionellen Langhalslaute, rief Yoni den Boten des Susanoo, damit er dem Ozean entstieg und sie in das Reich des Sturm- und Meeresgottes entführte.
Die Sonne stand tief im Westen über dem Meeresspiegel. Nur noch wenige Minuten, dann brach die Dämmerung herein, gefolgt von der Finsternis. In ihrem Schutz würde der Bote erscheinen, sofern Susanoo das Mädchen als würdig erachtete.
Bis dahin musste es Yoni gelungen sein, das Meer so weit zu beruhigen, dass ihr Gesang in die feuchte Tiefe hinabdringen konnte, um den Boten zu erreichen. Unwillkürlich steigerte Yoni ihre Bemühungen, sang noch lauter und spielte das Instrument wie eine Besessene.
Das Rauschen der Brandung vermengte sich mit dem des Blutes in ihren Ohren. Das Herz trommelte wie eine Taiko* in ihrer Brust.
Wieder bäumte sich das Meer vor ihr auf. Die Welle rollte auf die Felsen vor der Küste zu, die wie die Höcker eines vorsintflutlichen Ungeheuers aus dem Wasser ragten. Die Woge explodierte förmlich an dem schroffen Felsgestein. Gischt regnete auf Yoni herab, tränkte ihren Kimono, der sich wie eine zweite Haut auf ihren zierlichen Körper legte. Das Wasser rann aus ihrem langen schwarzen Haar übers Gesicht.
Dennoch hielt Yoni nicht eine Sekunde inne. Unbeirrt sang und spielte sie weiter, alldieweil die Dunkelheit über das Eiland kroch. Nachtschwarze Wolken fegten von Osten über das Firmament gen Westen auf die sinkende Sonne zu.
Der Schatten des Koshi, jenes Vulkans, dem die Insel ihren Namen verdankte, legte sich über den Schrein der Sonnengöttin und floss weiter über die Felsen, bis zu jener Stelle, an der Yoni auf dem harten Gestein kniete und Susanoos Boten rief.
Schweiß trat der jungen Frau auf die Stirn, vermischte sich mit dem salzigen Wasser, das aus ihrem Haar sickerte. Vor ihrem Opfergang hatte Yoni vierundzwanzig Stunden lang fasten müssen, das bekam sie nun zu spüren. Ihr war, als würden ihr Wind und Meer die Kraft entziehen.
Der Schatten legte sich über die junge Frau. Und mit der Dämmerung kam die Kälte. Yoni begann zu frieren. Der Kimono hing schwer wie Blei an ihrem Leib, drohte sie hinab auf die Felsen zu ziehen, doch Yoni blieb standhaft und machte weiter.
Die Furcht, zu versagen, ihre Familie zu enttäuschen, verlieh ihr ungeahnte Kräfte.
Für Sekunden verdunkelte sich die Sonne. In Yonis Brust bildete sich ein Knoten, der hinauf in ihren Hals wanderte und ihre Stimme zu ersticken drohte.
Und dann geschah das, womit sie schon nicht mehr gerechnet hatte.
Die Wolken rissen auf, und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne leuchteten hinter dem Berg Koshi auf. Yoni konnte es nicht sehen, da sie mit dem Rücken zum Vulkan auf den Felsen kauerte, doch sie bemerkte das Funkeln und Glitzern innerhalb der Wellen und glaubte sogar, eine wohltuende Wärme zu spüren.
Letzteres war wohl nur Einbildung, trotzdem huschte ein erleichtertes Lächeln über Yonis Lippen. Obwohl der Erfolg des Rituals ihren Tod bedeutete, frohlockte sie innerlich. Mit der Schande des Versagens zu leben, hätte sie niemals vermocht.
Wie hätte sie ihrer Familie, insbesondere ihrer Obasan,* je wieder unter die Augen treten können? In dem Wissen, sie einer tödlichen Gefahr ausgesetzt zu haben.
Von einer Sekunde auf die andere fielen all die Sorgen und Bedenken von Yoni ab. Gleich dem Salzwasser des Meeres, das von ihrem zitternden Körper perlte.
Die Sturmböen wurden schwächer, verwandelten sich in einen angenehm warmen Windhauch, der Haut und Haar trocknete.
Das aufgewühlte Meer beruhigte sich. Vor ihr, im Osten, ballte sich bereits die Finsternis der Nacht.
Yoni war bewusst, dass sie nie wieder den Sonnenaufgang sehen würde, doch sie empfand darüber keine Trauer, nur eine tiefe Melancholie.
Eine Träne lief ihr über die Wange. Wie diese Träne, wie all die Myriaden von Tränen, die Millionen von Menschen in Tausenden von Jahren vergossen hatten, würde auch Yoni bald eins werden mit dem Meer.
Ein Plätschern erregte ihre Aufmerksamkeit.
Es war dicht vor ihr erklungen. Zwischen den Steinen unterhalb des Felsens, auf dem die junge Frau saß.
Dem Plätschern folgte ein feuchtes Klatschen, dann kehrte Stille ein. Doch nur ein Fisch, der in der Abenddämmerung aus dem Wasser gesprungen war?
Yonis Herz klopfte schneller.
Sie kämpfte gegen den Drang an, lauter zu singen und schneller zu spielen. Jetzt galt es, genau das Gegenteil zu tun. Susanoo war besänftigt, und so wie man ein Kind in den Schlaf singt, so musste Yoni nun auch den dunklen Bruder einlullen.
Abermals erklang das Plätschern.
Eine Bewegung hinter einem buckligen Felsen, in der Dämmerung nur unscharf zu erkennen. Der Wind brachte den salzigen, leicht fauligen Geruch von Algen und Tang mit sich.
Yonis Augen wurden groß.
Etwas Schwarzes, feucht Glänzendes schob sich hinter dem Felsbrocken hervor, glitt um ihn herum zwischen die Steine und richtete sich vor der jungen Frau auf. Es war weder Mensch noch Fisch, weder Krake noch Krabbe, sondern von allem etwas.
Da wusste Yoni, dass sie Erfolg gehabt hatte.
Susanoo hatte das Opfer angenommen und seinen Boten geschickt, damit er es für ihn holte.
So widernatürlich, so abstoßend die Kreatur auch aussehen mochte, Yoni hätte am liebsten vor Freude geschrien. Sie tat es nicht, schon allein aus Furcht, den Boten zu vertreiben.
Von Kindesbeinen an hatte man ihr beigebracht, sich in Zurückhaltung und Demut zu üben. Yoni war sich der Bedeutsamkeit dieses Augenblicks voll bewusst.
Vor ihr stand, umspült von der Meeresbrandung, der Diener eines Kami, eines Gottes.
Es war ein Yokai, ein übernatürliches Wesen, von denen es in der japanischen Mythologie nur so wimmelte. Da viele Yokai Gestaltwandler waren, wussten vermutlich nur wenige Menschen, dass sie bereits einem solchen begegnet waren. In ihrer wahren Gestalt zeigten sie sich ihnen dagegen nur selten. Und diejenigen, denen dies widerfuhr, waren meistens nicht mehr in der Lage, davon zu berichten.
Wer jetzt noch im Dorf, jenseits des Koshi, am Westufer der Insel lebte, hatte jedenfalls noch nie ein solches Geschöpf zu Gesicht bekommen, dessen war sich Yoni sicher.
Die junge Frau verstummte. Behutsam legte sie die Shamisen neben sich auf den Felsen und erhob sich. Der schwierigste Teil des Rituals lag hinter ihr, jetzt übernahm der Bote. Sie brauchte nur noch eines zu tun, sich zu entblößen.
Es kostete Yoni erhebliche Überwindung, den Kimono abzustreifen und sich dieser Kreatur vollkommen nackt und wehrlos auszuliefern. Ein Teil von ihr wollte vor dem Geschöpf fliehen, doch in ihrer jahrelangen Ausbildung hatte man ihr auch beigebracht, den Fluchtinstinkt zu ignorieren und sich im Angesicht des feuchten Todes zu beherrschen.
Dennoch konnte Yoni nicht verhindern, dass ihre Finger zitterten, als sie den Gürtel löste. Sie redete sich ein, dass es die Kälte des Meeres und der hereinbrechenden Nacht waren, aber tief in ihrem Innern wusste sie, dass es die Angst vor dem drohenden Tod war, die sie schlottern ließ.
Beziehungsweise vor dem, was ihr das Geschöpf zuvor antun könnte.
Nein, das Wesen würde ihr nichts tun. Sie war Susanoo versprochen.
Yoni schloss die Augen und ließ den Gürtel fallen. Dabei lauschte sie dem sich nähernden Plätschern des Wassers, dem Klatschen von Flossenfüßen. Etwas Hartes kratzte über den Felsen. Die Schere eines Krebses?
Die junge Frau hielt den Atem an.
Eine Berührung an ihrem rechten Fuß. Etwas Kaltes, Glitschiges schlang sich um ihren Knöchel. Yoni schnappte nach Luft und kniff die Augen zu. Sie wagte es nicht, dem Boten in die Augen zu schauen. Der faulige Geruch wurde stärker.
Trotz ihrer Furcht war sich Yoni ihrer Pflichten weiterhin bewusst. Mit letzter Kraft streifte sie den Kimono ab, der zu ihren Füßen zusammensank.
Unwillkürlich schlang sie einen Arm um den Busen und bedeckte ihre Scham.
Das Wesen vor ihr stieß ein Schnattern und Keckern aus. Zugleich schmatzte und blubberte es in freudiger Erwartung.
Yonis Eingeweide verkrampften sich. Obwohl sie die Augen weiterhin geschlossen hielt, konnte sie förmlich spüren, wie das Wesen den Arm, die Klaue, die Schere – was auch immer – nach ihr ausstreckte und ...
Plötzlich stieß es ein infernalisches Brüllen aus. Schrill und gleichzeitig dumpf und dröhnend drang es aus dem Schlund des Yokai.
Die Achtzehnjährige hielt es keine Sekunde länger aus. Sie riss die Augen auf und starrte dem Geschöpf direkt in die schwarzglänzende Fratze, die aussah, als wäre dieses Wesen eine Mischung aus Mensch und Fisch.
Yoni glaubte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen.
Das Wesen taumelte von ihr weg, fuchtelte unkontrolliert mit den Armen, unter deren Achseln sich die schleimigen Fangarme eines Kraken aus dem wulstigen Körper geschoben hatten. Wild peitschten die Tentakel das Wasser und klatschten auf die Felsen.
Der Grund für dieses Verhalten steckte in der linken Augenhöhle der Kreatur.
Es war der Schaft eines Pfeils!
Bei diesem Anblick konnte Yoni einen Schrei nicht länger unterdrücken.
Als würde sich einer der glitschigen Tentakel des Yokai um ihren nackten Oberkörper winden, schnürte ihr die Angst die Luft ab, sodass ihr Schrei in einem abgehackten Schluchzen endete.
Aus schockgeweiteten Augen beobachtete sie die Kreatur, die ihre Qualen in die Dämmerung hinausschrie. Der Wind frischte auf, die Wellen kräuselten sich. Im selben Maß erstrahlte das Licht hinter dem Berg Koshi heller.
Und auch in der Augenhöhle des Geschöpfes, genau dort, wo der Schaft des Pfeils aus der Höhle ragte, flammte es grell auf. So als würde dort ein Feuer flackern.
Das Wesen warf seinen mit Stacheln bewehrten Schädel von einer Seite zur anderen. Zwischen den Stacheln spannte sich eine dünne Haut. Weiterhin mit den Armen fuchtelnd, versuchte es den Pfeil aus dem Schädel zu ziehen.
Endlich gelang es ihm, den Schaft mit der Hummerschere zu packen. Begleitet von einem furchtbar schrillen Gebrüll zerrte die Kreatur den Pfeil heraus und ließ ihn fallen.
Das ölig schimmernde Auge war verschwunden, stattdessen breitete sich in der Höhe ein grelles Licht aus, das sich wie die Glut eines Feuers durch den Schädel fraß.
Der Yokai warf den Kopf in den Nacken und kreischte.
Einen Atemzug später erstickte der Schrei in einem feuchten Gurgeln. Ein zweiter Pfeil hatte sich in die Kehle des Yokai gebohrt. Yoni stand vor Entsetzen wie gelähmt auf dem Fleck, unfähig, sich zu rühren.
Bevor das Wesen dazu kam, den zweiten Pfeil aus seinem Hals zu ziehen, sauste schon der dritte heran. Mit einem feuchten Knirschen bohrte er sich in die Stirn der Kreatur.
Das war ihr Ende.
Innerhalb von Sekunden fraß sich die Glut durch den Schädel und weiter hinab in den gedrungenen, glitschigen Leib, der anfing zu pulsieren. Die Haut schlug Blasen, die aufplatzten. Dampf strömte heraus, so als würde das Blut des Geschöpfes regelrecht verkochen.
Ein widerwärtiger Gestank nach verbrühten Fischinnereien verschlug Yoni den Atem, und ihr wurde speiübel. Während Susanoos Diener vor ihr in sich zusammenfiel und sich in dampfende Schlacke verwandelte, die von der Brandung zurück ins Meer gerissen wurde, brach Yoni auf dem Felsen zusammen. Sie hustete und würgte, doch mehr als bitter schmeckenden Schleim hatte ihr leerer Magen nicht herzugeben.
Ein Geräusch hinter ihr ließ Yoni vor Angst erstarren. Derjenige, der die Pfeile abgeschossen hatte, musste es verursacht haben.
Kalt rieselte es Yoni über den Rücken.
Sie fürchtete, dass es ihr wie dem Yokai ergehen könnte. Und obwohl sie eigentlich längst mit ihrem Leben abgeschlossen hatte, begann sie am ganzen Leib zu schlottern.
Aber sie war auch neugierig auf denjenigen, der es wagte, einen Diener des zornigen Susanoo zu töten. Unendlich langsam richtete sie den Oberkörper auf und warf einen Blick über die Schulter.
Die Gestalt stand auf der Anhöhe über den Felsen, im schwindenden Licht der Sonne, gehüllt in schwarzes Leder, das ihre Figur wie eine zweite Haut umgab. Die schwarzen Haare flatterten im Wind. Das Gesicht war zur Hälfte hinter einer schwarzen Maske verborgen.
Was Yoni jedoch am meisten verstörte, war die Armbrust, die die Frau gesenkt hatte.
Sie trug das Symbol der Sonnengöttin.
Shao atmete auf.
Sie hatte es geschafft. Dem magischen Bolzen aus ihrer Armbrust hatte der Dämon aus dem Meer nichts entgegenzusetzen gehabt.
Nur ein paar Sekunden, und sie wäre zu spät gekommen. Selbst Suko, der sich von der anderen Seite näherte, hätte das Mädchen nicht mehr retten können. Zumal es fraglich war, ob die Magie von Buddhas Stab überhaupt irgendeine Wirkung auf den Yokai gehabt hätte.
Shao legte einen weiteren Bolzen in die Abschussrinne ihrer Armbrust und spannte sie. Sicher war sicher. Erst dann sprang sie von der grasbewachsenen Anhöhe auf die darunterliegenden Felsen, die zur Küste hin leicht abfielen.
Sie musste aufpassen, dass sie auf den teils glitschigen Felsen nicht ausrutschte. Allzu viel Zeit durften sie sich jedoch nicht lassen. Shao spürte bereits, wie der Wind stärker wurde, nachdem er erst vor wenigen Minuten fast gänzlich abgeebbt war.
Susanoo zürnte.
Gleichzeitig spürte Shao die Wärme auf ihrer Brust, dort, wo das Auge der Amaterasu an einer dünnen Kette um ihren Hals hing. Die Magie der Sonnengöttin stemmte sich gegen die Kraft ihres dunklen Bruders, dessen Zorn in Form wütender Böen an Shaos Haaren zerrte.
Noch hielt sie ihm stand, doch das würde nicht mehr lange so bleiben. Spätestens wenn die Sonne am Horizont verschwunden war und die Finsternis über die Insel im Westen Japans hereinbrach, würde Susanoo die Oberhand gewinnen. Bis dahin mussten Shao das Opfer in Sicherheit gebracht haben.
Neben ihr tauchte Suko auf.
Die Miene ihres Partners war angespannt. In der Hand hielt er die ausgefahrene Dämonenpeitsche.
»Kümmere dich um das Mädchen!«, raunte ihm Shao zu.
Mit geschmeidigen Sprüngen hüpfte sie über die Felsen, bis hinunter zum Ufer, wo sie die Armbrust auf die schwarzen Fluten richtete. Die Überreste der Kreatur schaukelten einem schlammigen Teppich gleich auf den Wellen. Die beiden Bolzen ragten noch aus der Schlacke.
Shao verfügte nicht über endlos viele, daher nutzte sie jede sich bietende Gelegenheit, verschossene Bolzen wieder einzusammeln. Wenn es ihr gelang, auf den Felsen, der wie der Buckel einer riesigen Schildkröte aus dem Wasser ragte, zu springen, konnte sie es schaffen.
Gerade als sie Anstalten traf, hinüberzuspringen, erreichte sie die Warnung.
»Shao! Vorsicht!«
Sie wirbelte herum und sah gerade noch die zierliche Japanerin, die sich mit wutverzerrter Fratze und zu Krallen gekrümmten Fingern auf sie stürzte.