1,99 €
Suko und ich - gestrandet im Reich der Totengöttin Hel! Auf einer Insel aus Knochen, in einem See des Todes! Und noch immer stellte sich die Frage, ob Suko und ich weiterhin Partner waren, geschweige denn Freude! Um uns herum waberte Nebel. Doch kein gewöhnlicher Nebel. Es waren die Geister von Verstorbenen! Und in einem dieser Nebelschwaden erkannte ich ein Gesicht - das unserer Freundin Denise Curtis! Dafür gab es nur eine Erklärung: Denise, die junge Werwölfin und unsere Kampfgefährtin, war tot! Und wir waren es irgendwie auch, denn wir waren verschollen im Jenseits.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Im Jenseits verschollen
Grüße aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Im Jenseits verschollen
(Teil 2 von 3)
von Ian Rolf Hill
Im Jenseits verschollen.
So und nicht anders musste man unsere Lage beschreiben.
Suko und ich saßen auf den Gebeinen eines urzeitlichen Ungeheuers, inmitten eines endlos erscheinenden Meeres, das nicht aus Wasser bestand, sondern aus einer zähen, sirupartigen Flüssigkeit, die einen widerwärtigen Verwesungsgestank verströmte. Ein Entkommen war praktisch unmöglich. Jedenfalls nicht ohne fremde Hilfe.
Doch wer sollte uns hier schon finden?
Auf Anhieb fiel mir da nur eine Person ein, und ob die uns tatsächlich helfen würde, war mehr als fraglich.
Die Rede ist von Hel, der Göttin des Todes!
Sie war es schließlich gewesen, die uns hergebracht hatte.
›Entführt‹ wäre vermutlich der treffendere Begriff, denn weder Suko noch ich befanden uns freiwillig in der Totenwelt, auch wenn ihre Herrin zumindest mich gefragt hatte, ob ich sie begleiten würde.
Der Grund dafür war absurd gewesen, denn Hel hatte mich um Hilfe gebeten.
Xorron, der Herr der Zombies und Ghouls, hatte die Totenwelt mit einer Armee Leichenfresser angegriffen.
Ich war misstrauisch gewesen, immerhin war Hel die Göttin des Todes der nordischen Mythologie. So mächtig Xorron auch sein mochte, ich hatte mir nur schwerlich vorstellen können, dass sie nicht mit ihm fertigwurde.
Doch Hel hatte sich gar nicht erst auf eine lange Diskussion eingelassen und mich überwältigt. Ebenso wie Suko, der in London gewesen war, während ich mich in Dundee bei meinen Freundinnen Maxine Wells und Carlotta befunden hatte. Vor allem war ich dort gewesen, um in Ruhe nachdenken zu können, denn die letzten Wochen und Monate waren, um es vorsichtig zu formulieren, turbulent gewesen.
Angefangen hatte es damit, dass es der Hölle, allen voran der Großen Mutter Lilith und dem absolut Bösen, Luzifer, gelungen war, einen ihrer größten Feinde zu besiegen: den Spuk!
Pandora, die Unheilsbringerin der griechischen Mythologie, hinter der sich keine Geringere als die biblische Eva verbarg, hatte daraufhin das Schattenreich des Spuks annektiert. Und eine ihrer ersten Amtshandlungen war es gewesen, ihren alten Schützling Xorron wieder zum Leben zu erwecken. Ein neuer Körper war längst in ihrer Kristallwelt entstanden und hatte – wer weiß, wie lange schon – nur auf die entsprechende Seele gewartet.
Für mich war das ein nicht gerade gelinder Schock gewesen, als mir Xorron in Alaska zum ersten Mal seit seiner Vernichtung wieder über den Weg gelaufen war.
Mit seiner Hilfe hatte sich Pandora an den Berserkern, speziell an deren Mündel Denise Curtis, rächen wollen. Die Tochter des Wolfsdämons Lykaon hatte ihr nämlich eine Abfuhr erteilt und sich Lilith und ihren Engeln der Unzucht und Hurerei angeschlossen, wenn auch nicht ganz freiwillig.
Und Xorron hatte weitergewütet, zuletzt in den Vereinigten Staaten, genauer gesagt vor der Küste von North Carolina. Ich hatte darin eine einmalige Gelegenheit gesehen, ihn endgültig zu vernichten, denn in Kill Devil Hills wohnt ein Mensch mit einer besonderen Gabe beziehungsweise einem Fluch, der ihn zwar potenziell unsterblich macht, doch dafür einen hohen Preis fordert.
Sobald Rudy Grenville stirbt, entzieht sein Leichnam dem ersten Lebewesen, das ihn berührt, die Lebensenergie. Das betrifft nicht nur Menschen und Tiere, sondern eben auch Dämonen. Was lag da näher, als dafür zu sorgen, dass sich die Wege von Rudy und Xorron kreuzten?
Zum Schluss aber mir war nichts anderes übrig geblieben, als erneut die Engel der Unzucht und Hurerei anzurufen, die ihre Insignien unsichtbar auf der Rückseite meines Kreuzes hinterlassen hatten. Fast wäre es ihnen sogar gelungen, Xorron zu vernichten, hätte sich nicht ausgerechnet Naema gegen die anderen finsteren Engel gestellt und den Herrn der Zombies und Ghouls gerettet.
Gemeinsam waren sie verschwunden.
Zwischen Suko und mir war es daraufhin zum Zerwürfnis gekommen. Mein Partner hatte mir vorgeworfen, ich wäre bereit gewesen, das Leben eines unschuldigen Menschen in die Waagschale zu werfen, um Xorron zu besiegen, denn ich wusste gar nicht, ob der Fluch, der Rudy unsterblich machte, auch weiterhin wirksam war. Und ich hätte auch nicht sagen können, ob er tatsächlich als der Mensch zurückgekehrt wäre, den wir kannten.
Und auch damit, dass ich erneut die bösen Engel angerufen hatte, war Suko ganz und gar nicht einverstanden.
Es war schon fast eine Ironie des Schicksals, dass Suko und ich nun mutterseelenallein auf diesem knöchernen Eiland festsaßen.
Von der Festung Eljudnir, die auf einer Klippe thronte, die aus diesem teerartigen Sumpf ragte, war nichts mehr zu sehen, was mich in der Annahme bestärkte, dass die ›Insel‹ abtrieb und sich immer weiter vom Festland entfernte.
Suko hatte sich zurückgezogen, um zu meditieren. Um ehrlich zu sein, war ich froh darüber, denn so konnte ich ungestört meinen Gedanken nachhängen.
Ich kauerte auf einem gigantischen Wirbelknochen, der zum Schweif eines der Ungeheuer gehörte, die sich ineinander verschlungen hatten, vermutlich während eines Kampfes, bei dem sie beide den Tod gefunden hatten, sodass ihre Knochen nun diese schwimmende Insel bildeten.
Mit leerem Blick starrte ich auf die schwarze Fläche des sumpfigen Meeres, in dem nicht nur Hels Magd Ganglot versunken war, sondern auch Xorron.
Manchmal produzierte die sirupartige Flüssigkeit Blasen, die an die Oberfläche stiegen und zerplatzten. Meistens entließen sie dabei Dunstfahnen, die sich mit dem geisterhaften Nebel vermengten, der die Insel in einiger Entfernung wie ein Ring umgab. Dabei blubberte und schmatzte es unentwegt. Das einzige Geräusch, das die ansonsten bleierne Stille durchbrach.
Die Vorstellung, dass der Herr der Zombies und Ghouls jeden Augenblick aus dieser Brühe steigen und uns angreifen konnte, beunruhigte mich, zumal wir keine Waffen gegen Xorron hatten. Unser Einsatzkoffer und der magische Bumerang mussten noch irgendwo vor Hels Festung Eljudnir liegen. Alles, was uns geblieben war, war das, was wir am Leib trugen.
Daher hatten wir uns entschieden, abwechselnd Wache zu halten.
Dass wir uns dadurch auf dem vergleichsweise winzigen Eiland aus dem Weg gehen konnten, war ein Nebeneffekt, der mir nur recht war.
Ich grübelte über unsere Lage nach.
Nicht nur, dass wir allein auf dieser Insel festsaßen, wir hatten auch kein Trinkwasser oder Nahrung. Allerdings verspürten weder Suko noch ich Hunger oder Durst. Vielleicht hing es damit zusammen, dass unsere Uhren stehen geblieben waren. Möglicherweise – und dieser Gedanke war für mich nicht weniger beunruhigend als der zu verdursten – konnten wir hier bis in alle Ewigkeit hocken und darauf warten, dass wir langsam, aber sicher dem Wahnsinn anheimfielen.
Vielleicht würden wir uns irgendwann gegenseitig an die Kehlen gehen oder versuchen, uns umzubringen, nur um festzustellen, dass wir nicht sterben konnten.
Oder waren wir vielleicht längst tot?
Ich atmete und spürte die Blessuren, die ich im Kampf gegen die Riesin Modgud, den Höllenhund Garm und nicht zuletzt gegen Xorron davongetragen hatte. Von daher ging ich davon aus, noch am Leben zu sein.
Immerhin war der Schlamm auf unserer Kleidung weitestgehend getrocknet und abgebröckelt.
Ich hatte in der Innentasche meiner Jacke einen zerquetschten Schokoriegel gefunden, den ich nachdenklich zwischen den Fingern drehte. Der Anblick erinnerte mich an Denise, die Tochter von Lykaon, die sich innerhalb eines Wimpernschlags in eine reißende Bestie verwandeln konnte. Aus diesem Grund benötigte sie Unmengen an Energie. Schon öfter hatte ich ihr mit diesem kalorienreichen Snack über eine kleine Hungerstrecke hinweghelfen und verhindern können, dass sie sich selbst verzehrte.
Es gab aber noch einen anderen Grund, weshalb ich ausgerechnet jetzt an Denise denken musste, denn bevor es mir gelungen war, den Herrn der Zombies und Ghouls zu überlisten, hatte er mir verraten, dass es Naema in letzter Konsequenz um Denise ging. Damit war sie nicht allein, auch Lilith, Pandora und selbst Asmodis hatten bereits Interesse an Denise bekundet, angeblich wegen ihrer halbdämonischen Natur.
Nach Lykaons Vernichtung hatte sie die Macht ihres Vaters absorbiert. Zugleich trug sie jedoch, wie alle Menschen, den göttlichen Funken in sich. Das machte sie offenbar zu etwas Besonderem.
»Willst du den etwa allein essen?«, fragte mich plötzlich jemand.
Es war doch jedes Mal erstaunlich, wie lautlos sich Suko bewegen konnte. Früher hatte ich ihn oft mit einem Indianer auf der Pirsch verglichen, in einer Umgebung wie dieser drängte sich der Vergleich mit einem Geist auf.
Ich unterdrückte ein Seufzen. Bildete ich mir den aggressiven Unterton in Sukos Stimme bloß ein?
Letzten Endes war auch mein Partner nur ein Mensch. Unabhängig von seiner Herkunft und Ausbildung, die er in einem Shaolin-Kloster in China erhalten hatte, wo man ihn unter anderem Selbstbeherrschung und vollkommene Körperkontrolle gelehrt hatte.
Ich schraubte mich aus der Hocke empor und warf Suko den Schokoriegel zu, den er geschickt auffing. »Hier! Damit du nicht vom Fleisch fällst. Aber jammer mir nachher nicht die Ohren voll, dass du von dem ganzen Zucker Durst bekommen hast.«
Für einen Augenblick blitzte der Zorn in Sukos Augen auf. Dann hatte er sich wieder im Griff. Bedächtig schüttelte er den Kopf. »Es gibt keinen Grund, so aggressiv zu sein.«
Ich hob die Brauen und deutete auf meine Brust. »Ich? Ich bin aggressiv? Hast du mir nicht eben noch vorgehalten, ich wolle den Schokoriegel allein essen?«
»Das war ein Scherz, John. Mal abgesehen davon, dass du nichts davon gesagt hast, dass du etwas Essbares bei dir trägst.«
Ich verzog die Mundwinkel. »Du hast ja auch nicht gefragt.«
Suko seufzte und gab mir den Schokoriegel zurück.
»Es ist zwecklos!«, murmelte er und drehte sich um.
»Was ist zwecklos, he?« Ich breitete die Arme aus. »Los, raus mit der Sprache! Wir sind hier unter uns. Du kannst alles rauslassen.«
Suko blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. Schließlich wandte er sich wieder zu mir um. »Merkst du denn nicht, was mit dir los ist?«
»Nein, aber ich bin sicher, du kannst es mir sagen.« Ich reckte das Kinn vor. »Was ist denn mit mir los?«
»John, ich habe dich noch nie so reizbar erlebt.«
»Tja, das liegt vielleicht daran, dass wir hier mitten im Nirgendwo feststecken und mein Partner mir unterstellt, ich würde auf die dunkle Seite der Macht wechseln.«
»Das habe ich nie behauptet. Aber interessant, dass du es ansprichst.«
»Also ist es wahr?«
»Sag du es mir.«
»Hör auf damit!«, fuhr ich ihn an. »Du hast ein Problem mit mir, also lass es uns klären.«
»Was gibt es da zu klären? Du hast die Engel der Unzucht und Hurerei angerufen ...«
»Um unser Leben und das unserer Freunde zu retten, verdammt!«
»Mag sein, aber seitdem hast du dich verändert. Es mag dir nicht aufgefallen sein, aber uns sehr wohl.«
»Wen meinst du mit uns?«
»Unsere Freunde. Shao, Bill, Sheila, Glenda, Sir James, ja, sogar Maxine und Carlotta.«
»Na, die hat gut reden«, knurrte ich. »Glaub ja nicht, dass es mir leichtgefallen ist. Und hätte es eine Alternative gegeben, hätte ich sie dankend ergriffen.«
»Tatsächlich?«
»Was willst du damit sagen?«
»Als wir Xorron in Rudys Bungalow gegenüberstanden, hast du da die vier Erzengel angerufen? Nein, du hast gleich nach Liliths Brut geschrien, ohne überhaupt in Erwägung zu ziehen, die Erzengel zu rufen.«
»Weil es sinnlos gewesen wäre.«
»Das weißt du doch gar nicht. Hast du dich eigentlich mal gefragt, wieso Xorron ausgerechnet bei Rudy und Chloe aufgetaucht ist, nachdem wir uns darüber gestritten haben, ob es ethisch vertretbar ist, das Leben eines Freundes zu riskieren, nur um einen Dämon zu vernichten?«
»Nur um einen Dämon zu vernichten? Du solltest dich mal reden hören. Ethisch vertretbar? Hältst dich wohl für etwas Besseres, was?«
»Nein, John, ich halte mich für deinen Freund und ...«
»Ein Freund hätte mir vertraut.«
»Nein!«, rief Suko. »Nicht, wenn er sieht, wie du dabei ist, alles zu verraten, wofür du all die Jahre über gekämpft hast.«
»Soll ich vielleicht danebenstehen und zusehen, wie unsere Freunde von Xorron abgeschlachtet werden? Oder wie sich der Spuk eine Welt nach der anderen einverleibt?«
»Nein, ich möchte nur, dass du vorsichtig bist und abwägst. Es gibt immer eine Alternative. Eine Alternative, die unsere Freunde nicht in Gefahr bringt.«
Ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Was willst du damit sagen?«
»Nichts.« Suko winkte resignierend ab. »Vergiss es, es war dumm von mir.«
»Nein, nein, ich will es hören. Sei nicht feige.«
»Dieser Ton ist unangebracht, John.«
»Oh, Verzeihung, werter Herr. Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.«
»Denk doch mal daran, was passiert ist, als du die Engel der Unzucht und Hurerei gerufen hast, damit sie den Spuk bekämpfen.«
Das war doch die Höhe! »Gibst du etwa mir die Schuld an dem, was mit dem Eisernen Engel und Sedonia passiert ist?«
Suko schüttelte den Kopf. »Nein, wie gesagt, es ... war dumm von mir.«
»Da hast du ausnahmsweise mal recht.«
»Trotzdem kannst du nicht leugnen, dass du das Vertrauen in die Erzengel verloren hast.«
Mir lag bereits eine weitere zynische Antwort auf der Zunge, die ich allerdings herunterschluckte, denn mein Partner hatte recht: Ich hatte das Vertrauen in die Erzengel verloren. Zu oft hatten sie mich in den letzten Jahren im Stich gelassen.
Schließlich rang ich mich doch zu einer Antwort durch. »Wir können uns nicht auf sie verlassen. Es gibt Kräfte, die mächtiger sind als sie.«
»Kann sein«, meinte Suko. »Aber war es nicht immer so, wenn es gegen Lilith ging? Glaubst du nicht, dass sie das bewusst getan hat, um dein Vertrauen zu untergraben und einen Keil zwischen dich und die Erzengel zu treiben, so wie es ihr auch gelungen ist, einen Keil zwischen uns zu treiben?«
»Xorron ist nicht auf Liliths Geheiß hin zurückgekehrt.«
»Na schön, aber hast du auch nur in Erwägung gezogen, die Erzengel anrufen?«
»Du warst dabei, als ich das Kreuz aktiviert habe, Suko. Es ist nicht passiert. Gar nichts. Und diesmal lag es nicht an Lilith oder ihren Engeln der Unzucht und Hurerei.«
»Nein, vermutlich lag es daran, dass wir uns in einer anderen Dimension befinden. Einer Dimension, die von einer Gestalt aus einer fremden Mythologie beherrscht wird. Aber du bist der Sohn des Lichts. Die Erzengel haben schon häufiger die Grenzen zwischen den Dimensionen eingerissen.«
»Das war etwas anderes. Damals waren wir in der Hölle und ...«
»Du hast es ja nicht einmal versucht, John!«
Ich seufzte und zog an der Kette mit dem Kreuz. Mir fiel auf, dass ich noch immer den zusammengedrückten Schokoriegel festhielt, doch ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf meinen Talisman, der genau so aussah wie immer. Auf der Vorderseite befanden sich die Zeichen, die der Prophet Hesekiel während seines babylonischen Exils in das Silber eingraviert hatte. Darunter auch das Hexagramm und die Symbole, die Lilith ihm eingeflüstert hatte. Aber auch die Insignien der vier Erzengel.
Die Rückseite dagegen war glatt. Von den Anfangsbuchstaben der vier Engel der Unzucht und Hurerei war nichts zu sehen.
»Nun?«, fragte Suko. »Worauf wartest du noch?«
Verdammt gute Frage. Um ehrlich zu sein, fürchtete ich mich davor, die Erzengel anzurufen. Aus Angst vor einer erneuten Enttäuschung.
Suko ahnte offenbar, was in mir vorging, denn er sagte mit einer ruhigen, fast schon hypnotischen Stimme: »Tu es, John!«
Und dann gab ich mir einen Ruck und rief mit erhobener Stimme nach den vier Erzengeln, die mir schon so oft zur Seite gestanden hatten.
»MICHAEL! GABRIEL! RAFFAEL! URIEL!«
Die Weltenesche Yggdrasil war der schönste Baum, den Lykke jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er besaß wahrhaft gigantische Ausmaße, mit einem Kronendach, das sich wie ein Schirm über die Bewohner dieser Sphäre spannte, die jenseits der Welt der Sterblichen lag.
Gewissermaßen zwischen den Dimensionen.
Yggdrasil war aber nicht allein wegen ihrer Größe etwas Besonderes. Ihr Laub zeigte den Verlauf der vier Jahreszeiten. Einige Blätter waren saftig grün wie im Frühling, andere zeigten das deutlich kräftigere Grün des Sommers. Dann gab es noch die herbstlich bunt verfärbten Blätter sowie die kahlen Äste des Winters.
Zwischen den gewaltigen Wurzeln, die wie die Leiber erstarrter Riesenschlangen aus dem Stammfuß ragten, tummelte sich allerlei Getier. Irgendwo dort befand sich auch die Quelle, der der Schicksalsfluss entsprang, der schließlich in der Unterwelt mündete, im Reich der Totengöttin Hel.
Hier oben aber regierten die drei Schicksalsweberinnen, die Nornen.
Ihre Namen waren Urd, Werdandi und Skuld. Sie symbolisierten nicht nur die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, sie kannten auch das Schicksal jedes Sterblichen.
Lykke, die Schamanin der Berserker, war eine der Wenigen, die diese Welt ohne Einladung betreten durften.
Es lag noch gar nicht lange zurück, dass sie für längere Zeit Gast bei den Nornen gewesen war. Der Schuss einer Heckenschützin hatte sie so schwer verletzt, dass sie fast gestorben wäre.
Dass sie überhaupt noch am Leben war, hatte sie Morgana Layton, der Erbin des Götterwolfes Fenris, zu verdanken, die sie in einen magischen Schlaf versetzt hatte. Lange genug, bis es Morgana gelungen war, ihre Freundin hierherzubringen.*
Die Nornen hatten ihr Urteil schnell gefällt. Da Lykkes Lebensfaden noch nicht ihr Ende erreicht hatte, hatten sie zugestimmt, ihr zu helfen.
Und auch diesmal erhoffte sich die Schamanin von den drei Schicksalsweberinnen Beistand, denn es war etwas geschehen, was Lykke in höchstem Maße beunruhigte.
Ihr Schützling Denise Curtis, die Tochter des Lykaon, war spurlos verschwunden.
Zunächst hatte sie sich nichts dabei gedacht, schließlich war sie erwachsen, und wenn Denise etwas in der Vergangenheit bewiesen hatte, dann dass sie auf sich aufpassen konnte.
Doch als sie am Abend noch immer nichts von ihr gehört hatte, hatte Lykke angefangen, sich Sorgen zu machen. Niemand aus dem Stamm der Berserker hatte das Mädchen gesehen, auch nicht Asbirg, Lykkes Stellvertreterin, die vor Kurzem erst entbunden hatte.
Daraufhin hatte sich Lykke auf den Weg in die Kolonie der Werwölfe gemacht, in der nicht nur Morgana Layton lebte, auch Denises beste Freunde Emma und Ethan Murdock waren dort zu Hause.
Aber selbst sie wussten nichts über den Verbleib von Lykaons Tochter.
Also hatte die Schamanin eine Beschwörung durchgeführt – und war gescheitert.
Gerade, als sie geglaubt hatte, Kontakt mit Denise herstellen zu können, war die Verbindung gerissen.