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Daniel Ashton hasst Nachtschichten - doch diese könnte seine letzte sein. Im Bethlem Royal Hospital wurde eine neue Patientin eingeliefert: Naema, eine junge Frau, die in einer vergessenen Sprache spricht und eine unheimliche Anziehung auf alle ausübt, die ihr begegnen. Daniel verfällt ihr. Und ihrem mysteriösen Tanz. Und damit beginnt ein Albtraum, in dem uralte Mächte ihre blutige Spur durch London ziehen. Denn Naema ist nicht nur eine verlorene Seele - sie ist der Schlüssel zu etwas weitaus Grauenhafterem ...
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Naemas Totentanz
Vorschau
Impressum
Naemas Totentanz
von Ian Rolf Hill
Daniel hasste Nachtschichten!
Früher war das anders gewesen, aber wenn man jung war, steckte man den Schichtdienst ohnehin sehr viel besser weg.
Dabei fühlte sich Daniel mit seinen fünfundvierzig Jahren nicht mal besonders alt.
Allerdings war er auch keine zwanzig mehr, woran ihn nicht nur sein Spiegelbild jeden Morgen erinnerte, sondern auch die stetig wachsende Wohlstandsplauze. Das lichter werdende Haar, der struppige Bart und die Augenringe taten ihr Übriges. Zum Glück war er nicht eitel.
Trotzdem hätte er gegen ein kleines Nickerchen nichts einzuwenden gehabt. Aber daran war bei dem Geschrei nicht zu denken.
Miss Norwood schrie, als würde man ihr bei lebendigem Leibe die Haut abziehen.
»Zehn Milligramm Diazepam und Benperidol!«, schnauzte Dr. Bilborough ihn an. »Herrgott, warum dauert das so lange?«
»Ich bin gleich soweit!«, rief Daniel und hätte fast noch die Kanüle fallen gelassen.
Verdammt, warum zitterten seine Finger denn so? Warum mussten die beschissenen Ampullen auch so klein sein? Und überhaupt – warum keifte ihn die Beutlin-Schlampe eigentlich so an? Er war Krankenpfleger, nicht ihr Sklave.
Das hatte ihr offenbar noch niemand gesagt.
»Nun machen Sie schon!«
»Ja!« Daniel stand der Schweiß auf der Stirn. »Ich ... fuck!«
In der Aufregung hatte er sich die Kanüle, mit der er das hochwirksame Neuroleptikum aus der Ampulle in die Spritze aufziehen wollte, selbst in den Daumen gerammt.
Die Stationsärztin schnaubte abfällig und schob ihn beiseite. »Lassen Sie mich das machen. Gehen Sie raus und helfen, Sie den anderen. Herrgott!«
Normalerweise hätte Daniel jetzt erwidert, dass er nicht der Herrgott war, sondern bloß Daniel Ashton. Aber in Anbetracht der Situation und seines ohnehin schon angespannten Verhältnisses zu Dr. Bilborough, der Beutlin-Schlampe, verzichtete er darauf.
Beutlin-Schlampe, so nannte er sie natürlich nur im Stillen oder wenn sie nicht anwesend war. In Anlehnung an einen der Hobbits aus ›Der Herr der Ringe‹, Bilbo Beutlin.
Auch wenn sie ihn in Momenten wie diesen eher an Gollum erinnerte.
Daniel stürmte aus dem Dienstzimmer auf den Flur, wo mehrere Kollegen damit beschäftigt waren, die tobende Miss Norwood zu bändigen. Zusammen mit zwei Streifenpolizisten, die die psychisch Kranke auf einem Friedhof umherirrend aufgegriffen hatten.
Die Beamten kannten das Spiel ebenso wie Daniel und seine Kollegin. Miss Norwood war im Bethlem Royal Hospital, kurz Bedlam, bekannt wie ein bunter Hund.
Sie war jünger als Daniel, Ende dreißig, und litt an paranoider Schizophrenie, die sie vermutlich von ihrer Mutter geerbt hatte. Ausgebrochen war die Erkrankung allerdings erst nach einer Fehlgeburt vor fünf Jahren. Seitdem kam es immer wieder vor, dass sie nachts auf Friedhöfen nach ihrem toten Kind suchte.
Selbst zu viert hatten die Kolleginnen und Kollegen Mühe, die Tobende zu bändigen und auf das Bett zu pressen, das Julia aus einem leer stehenden Zimmer geholt hatte.
»Mein Baby! Mein Baaaby!«, kreischte Miss Norwood.
Mit vereinten Kräften rollten sie die Frau auf den Bauch, damit ihr Dr. Bilborough die Spritzen in den Gesäßmuskel verabreichen konnte. Diazepam zur Beruhigung, Benperidol gegen die psychotischen Gedanken.
Nachdem die Spritzen endlich wirkte und sich Miss Norwood beruhigt hatte, wischte sich Daniel den Schweiß von der Stirn.
Sie drehten Miss Norwood auf den Rücken. Dr. Bilborough kontrollierte die Pupillenreaktionen.
»Mein Baby«, wimmerte die Patientin, während ihr die Tränen über die Wangen rollten. »Haben Sie mein Baby gefunden?«
»Ihrem Baby geht's gut«, versicherte die Ärztin. »Wir sprechen morgen miteinander, Miss Norwood.«
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Dr. Bilborough verschwand mit den Polizisten im Dienstzimmer. Daniel bedankte sich bei den Kollegen.
»Sollen wir euch noch bei irgendetwas helfen?«
»Danke, aber wir kommen klar«, versicherte Julia.
»Meinst du nicht, wir sollten sie fixieren?«, fragte Daniel.
Die Kollegin hätte seine Tochter sein können. »Wozu? Sie schläft doch schon fast.«
»Ja, aber irgendwann wird sie aufwachen, und dann ...«
»Du kannst das gerne mit Dr. Bilborough ausdiskutieren, wenn du willst.« Julia deckte Miss Norwood zu, die die Augen geschlossen hatte. Nur ihre Lippen bewegten sich im lautlosen Selbstgespräch.
»Na, dann viel Glück«, sagte einer der zu Hilfe geeilten Kollegen, der wie alle anderen wusste, was Dr. Bilborough von Fixierungen und anderen Zwangsmaßnahmen hielt.
Daniel half Julia, das Bett ins Zimmer zu schieben. Ein pochender Schmerz in seinem Daumen erinnerte ihn an den Stich der Kanüle. Jetzt, da der Adrenalinspiegel wieder sank, fing die Wunde wieder an zu Bluten.
Daniel schob sich den Daumen in den Mund.
»Hast du dich verletzt?«, fragte Julia, nicht ernsthaft besorgt.
»Hab mich an der Kanüle gestochen«, nuschelte Daniel.
»Was? Das musst du Dr. Bilborough sagen.«
»Die war doch dabei. Außerdem war es eine sterile Kanüle. Daran ist noch keiner gestorben.«
Als er das Dienstzimmer betrat, war Dr. Bilborough allein, die Polizisten waren verschwunden.
»Wie geht es Ihrem Daumen?«, fragte die Ärztin, ohne vom Computer aufzublicken.
»Ist noch dran«, brummte Daniel.
»Wie schön. Wie geht es Miss Norwood?«
»Schläft. Aber vielleicht sollten wir sie trotzdem fixieren. Nur zur Sicherheit, meine ich.«
Jetzt hob Dr. Bilborough doch den Kopf. »Sie wissen genau, was ich von solchen Zwangsmaßnahmen halte, Mr Ashton.«
»Und wenn Miss Norwood wegen der Sedierung aus dem Bett fällt?«
Daniel freute sich, dass ihm dieses Argument eingefallen war. Und an Dr. Bilboroughs Miene erkannte er, dass es auf fruchtbaren Boden gefallen war.
»Also schön, Mr Ashton«, sagte sie und wandte sich wieder dem Computer zu. »Dann ordne ich eine Sitzwache an. Zufrieden?«
»In Ordnung«, erwiderte Daniel. »Ich sag der Kollegin gleich Bescheid.«
»Wie geht es unserer Patientin in Zimmer neun?«
Daniel blieb auf der Schwelle stehen.
Die Patientin aus Zimmer neun, wie Dr. Bilborough sie nannte, war ein spezieller Fall. Einer, wie er Daniel Ashton noch nicht untergekommen war. Die junge Frau, fast noch ein Mädchen, war vor anderthalb Wochen von Scotland Yard hier eingeliefert worden.
Sie war ziemlich verwahrlost gewesen und redete nicht ein Wort Englisch. Sprechen konnte sie, nur verstand sie niemand. Weder Daniel noch einer seiner Kollegen konnten die Sprache überhaupt zuordnen, selbst Dr. Bilborough nicht.
Nicht einmal ihr vollständiger Name war bekannt. Die Polizisten hatten nur einen Vornamen genannt, auf den das Mädchen tatsächlich reagierte.
Naema!
Angeblich stammte er aus der Bibel, dem Alten Testament. Dabei handelte es sich um die Tochter des Brudermörders Kain oder zumindest eine Nachkommin, den Überlieferungen nach eine Tempeltänzerin, die den Frauen gezeigt haben sollte, wie sich zu bewegen hatten, um Männer um den Verstand zu bringen.
Nun, zumindest das konnte Daniel nur bestätigen. Er hatte Naema bereits tanzen sehen. Nach einer Musik, die nur sie hören konnte.
Und sie war auch der Grund dafür, dass er sich über Dr. Bilboroughs Anordnung so diebisch freute. Wenn Julia nämlich bei Miss Norwood Wache halten musste, konnte er zu Naema gehen.
Zum Glück waren die anderen Patienten ruhig.
»Mr Ashton?«
Daniel schreckte aus seinen Gedanken hoch. »Äh, wie bitte?«
Er konnte förmlich hören, wie die Beutlin-Schlampe mit den Augen rollte. »Ich habe gefragt, wie es der Patientin aus Zimmer neun geht.«
»Prächtig. Sie ... schläft.«
»Gut. Sie soll sich ausruhen. Sie hat einiges vor sich.«
Daniel musste sich räuspern. »Was ... was meinen Sie damit?«
»Haben Sie es noch nicht gehört? Naema ... ich meine, die Patientin aus Zimmer neun soll morgen Vormittag verlegt werden.«
»Und ... und wohin?«
»Offenbar gibt es in Rom eine Spezialklinik für derartige Fälle.«
Daniel verkniff sich die Frage, was ›derartige Fälle‹ sein sollten. Sein Herz drohte stehen zu bleiben. Naema sollte verlegt werden!
»Mr Ashton, geht es Ihnen nicht gut?«
»Doch, doch«, versicherte Daniel. »Ich ... äh, freue mich nur für Naema. Ich meine, ich freue mich für die Patientin.«
»Sind Sie sicher?«
»Was?« Jetzt drehte sich Daniel doch um.
Dr. Bilborough hatte sich zurückgelehnt und lächelte spöttisch. Im Licht der Schreibtischlampe sahen ihre Züge fast schon dämonisch aus.
»Nun ja, Sie haben mir den Eindruck gemacht, als würden sie die junge Frau mögen.«
Daniel wurde heiß, sein Kopf schien regelrecht zu glühen. Er musste aussehen wie eine Tomate. »Was? Wie ... wie kommen Sie denn da drauf?«
»Sie brauchen sich für Ihre Gefühle nicht zu schämen, Mr Ashton. Wir sind alle nur Menschen. Sie sind nicht der Einzige, der das Mädchen in sein Herz geschlossen hat, glauben Sie mir. Wichtig ist nur, dass wir die professionelle Distanz wahren.«
Das rhythmische Pfeifen von Dr. Bilboroughs Pieper erlöste Daniel. Im letzten Moment konnte er den erleichterten Seufzer unterdrücken. Die Ärztin entschuldigte sich und griff zum Telefon.
Fluchtartig verließ Daniel das Dienstzimmer, um Julia zu informieren, dass sie wohl noch ein Weilchen bei Miss Norwood sitzen bleiben musste.
Naema träumte von Babylon!
Die hohen Mauern wurden nur von den Stufentempeln überragt, den Zikkurats, die zu Ehren der Götter errichtet worden waren, allen voran für den Stadtgott Marduk.
Naema kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Vergessen waren die Entbehrungen, die der lange Marsch durch die Wüste mit sich gebracht hatte.
Staub und Sand hatten sich mit dem Schweiß zu einer schmierigen Masse vermischt, die die Haut vor der sengenden Sonne geschützt hatte. Naema konnte es kaum erwarten, bis sie sich das Zeug vom Körper waschen konnte.
Lange würde es nicht mehr dauern, immerhin wollte man sie auf dem Sklavenmarkt verkaufen.
Naema lief das Wasser im Mund zusammen, als sie zusammen mit den anderen Gefangenen über einen Basar gezerrt wurde, auf dem unter anderem auch frisches Obst feilgeboten wurde. Wären ihre Hände nicht gefesselt gewesen hätte sie längst danach gegriffen.
Naema zuckte beim Knallen der Peitsche und dem Klatschen des Leders auf nackter Haut zusammen. Einer der Männer, ein ausgemergelter Knabe mit sonnenverbrannter Haut, war aus dem Tross ausgebrochen, wobei er zwei weitere Gefangene und sogar das Kamel, an dem sie festgemacht waren, ins Straucheln brachte.
Mit den wenigen verbliebenen Zähnen schnappte er nach einem Apfel wie ein ausgehungerter Straßenköter nach einem Stück Fleisch, doch die Peitsche des Aufsehers bereitete seiner Gier ein schnelles Ende. Mit zwei weiteren Hieben wurde er zurück in die Reihe getrieben.
Der bärtige Aufseher ließ den Blick über die Gefangenen schweifen. An Naema blieb er länger hängen.
Sie lächelte ihm zu.
In die Augen des Mannes trat ein begehrliches Funkeln.
Naema wusste genau, was dem Kerl gerade durch den Kopf ging. Aber bislang hatte niemand gewagt, sie anzurühren. Eine Jungfrau brachte auf dem Sklavenmarkt mehr als das Zehnfache ein.
Der Marsch ging weiter, durch den Schatten mächtiger Bauwerke, größer als alle, die Naema in ihrem jungen Leben je zu Gesicht bekommen hatte. Ihren Brüdern – Jubal, Jabal und Tubal – wären gewiss die Augen aus dem Kopf gefallen.
Im Gedenken an ihre Familie wurde Naema trübsinnig. Ob wenigstens ihren Brüdern die Flucht gelungen war? Sie konnte es nur hoffen. Als unbefleckte junge Frau hatte sie gute Chancen, als Tänzerin in einem der Tempel aufgenommen zu werden. Männliche Sklaven hingegen mussten in der Sonne schuften, oft bis zur völligen Erschöpfung, damit Babylon in neuem Glanz erstrahlen konnte.
Sie erreichten die Stallungen, und Männer und Frauen erschienen, die sich der neuen Ware annahmen.
Naema wurde mit den anderen Frauen des Trosses gebadet. Eine Sklavin wusch ihr Haar und flocht es zu Zöpfen. Sie bekam Brot, etwas Käse und Wasser und ein schlichtes schwarzes Gewand.
Die Nacht verbrachte sie zusammen mit den anderen in einem kühlen, zugigen Raum.
Am nächsten Morgen, nach einem kargen Frühstück, ging es zum Markt. Naema erregte nicht nur die Aufmerksamkeit der männlichen Besucher. Auch viele Frauen bewunderten ihre Anmut.
Doch egal, wie viel die hohen Herren und Damen auch für sie bieten mochten, die Priester besaßen stets das Vorkaufsrecht. In ihrem Fall und zu Naemas Überraschung war es eine Priesterin. In ihrem goldverzierten, mit blauen Edelsteinen besetzten Gewand sah sie aus wie eine Königin. Dazu trugen auch der goldene Ring und der ebenfalls goldene Stab bei, die Symbole der Herrschaft und der Unsterblichkeit.
Erhobenen Hauptes schritt sie an den Sklavinnen vorbei, die unter dem hochmütigen Blick die Köpfe senkten. Alle bis auf Naema. So konnte sie beobachten, wie die Priesterin mehrmals knapp nickte, woraufhin ihre Knechte die betreffenden Frauen einer kurzen Leibesvisitation unterzogen. Waren sie zufrieden, wurden sie auf die andere Seite in den Schatten einer Mauer gebracht.
Vor Naema blieb die Priesterin schließlich stehen.
Es war keine Respektlosigkeit, sondern reine Neugier, die das Mädchen veranlasste, den Blick zu erwidern, statt den ihren demutsvoll zu senken.
Der Sklavenhändler stieß die zusammengerollte Peitsche gegen Naemas Hinterkopf. »Senk das Haupt, du ...«
Er verstummte, als die Priesterin die Hand mit dem Stab hob. Naema aber hatte den Blick gesenkt, das Kinn auf die Brust gedrückt. Ihre Augen weiteten sich ungläubig.
Sie sah den nackten Fuß der Priesterin – es war nicht der Fuß eines Menschen, sondern die Klaue eines Vogels!
Die Priesterin ging weiter.
Naema wollte sie um Verzeihung bitten, sie anflehen, zurückzukommen, da fielen bereits ihre Begleiter über das Mädchen her. Sie ergriffen ihre Arme, tasteten ihren Körper ab, quetschten ihre zarten Brüste, und eine schwielige Faust umfasste ihren Kiefer. Der Mann betrachtete ihre Zähne und streckte die Zunge heraus. Naema begriff und tat es ihm gleich.
Der Mann nickte seinem Kumpan zu. Der stieß Naema vor sich her in den Schatten der Mauer.
Sie hatte es geschafft. Jetzt musste sie nur noch beweisen, dass aus ihr eine echte Tempeltänzerin werden konnte.
Ein Kinderspiel ...
Naema schlug die Augen auf.
Im ersten Moment wähnte sie sich noch im alten Babylon, im Tempel der Ishtar. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie die kahle Zelle, in der sie eingepfercht war.
Auch wenn die Tür nicht verriegelt war, durfte sie den Raum nicht verlassen. Sobald sie es tat, erschienen die Wächter, eingehüllt in weiße Gewänder und nach exotischen Tinkturen duftend, wie Naema sie noch nie zuvor gerochen hatte.
Und wenn sie Pech hatte, wurde sie an die Pritsche gebunden und mit Nadeln gestochen, woraufhin eine bleierne Müdigkeit von ihr Besitz ergriff. Das Schlimmste aber daran war, dass sie sich für lange Zeit nicht mehr würde bewegen können.
Dabei tanzte sie doch so gerne ...
Naemas Blick huschte zum Fenster, das mit einer Scheibe aus Glas verschlossen war. So etwas hatte Naema noch nie gesehen. Genauso wenig wie die winzige Sonne, die aufflammte, sobald jemand die viereckige Erhebung an der Wand berührte.
Vor dem Fenster wuchsen Bäume und Büsche, hinter deren Geäst die Lichter der Stadt leuchteten. Einer Stadt, die noch größer und eindrucksvoller war als Babylon. Aber auch schmutziger und trister.
Viel hatte Naema noch nicht von ihr gesehen. Doch das Wenige genügte bereits, um gleichermaßen Neugier als auch Furcht in ihr zu wecken.
Erstere war stärker, doch um die Neugier zu befriedigen, musste sie erst einmal aus diesem Verlies heraus.
Naema lauschte den Schreien, draußen auf dem Gang, die sie aufgeweckt hatten.
Entweder hatte eine der gefangenen Frauen versucht zu entkommen, oder es war jemand Neues eingetroffen.
Naema hatte gelernt, sich nicht einzumischen, darum versuchte sie zurück in den Schlaf zu finden. Sie zog die Beine an die Brust und die Decke über den Kopf.
Die Rufe wurden leiser, ehe sie gänzlich verstummten. Naema entspannte sich.
Sie war schon fast wieder in das Land der Träume geglitten, zurück nach Babylon, als sie das rhythmische Quietschen vernahm, das sich ihrer Zelle näherte.
Naema hielt den Atem an.
Schon öffnete sich schräg unter ihr die Tür. Ein heller Spalt klaffte in der Finsternis, wurde breiter ...
»Dr. Bilborough hat Sitzwache angeordnet.«
»Das ist nicht dein Ernst!«, platzte es aus Julia hervor.
Daniel zuckte mit den Achseln und deutete über die Schulter. »Kannst sie ja fragen. Sie ist noch im Dienstzimmer.«
»Worauf du dich verlassen kannst!«, erwiderte die junge Krankenschwester, kam aber nicht mal bis zur Tür.
Dr. Bilborough erschien, um ihnen mitzuteilen, dass sie auf eine andere Station müsse. Sie bestätigte noch einmal ihre Anordnung, woraufhin Julia die Schultern hängen ließ.
Dr. Bilborough versicherte sich, dass es der Patientin trotz hochdosierter Medikation an nichts fehlte, dann zog sie sich zurück. Daniel lauschte den schnellen, rasch leiser werdenden Schritten.
»Dafür kümmerst du dich um den Papierkram!«, sagte die Krankenschwester zu Daniel.
Grinsend wich er auf den Flur zurück. »Wird gemacht!«
Er schloss die Tür, aber er wandte sich nicht in Richtung Dienstzimmer, sondern in die entgegensetzte. Sein Ziel war das Zimmer mit der Nummer neun.
Naemas Zimmer!
Daniel erreichte die Tür und legte die Hand auf die Klinke. Ein letztes Mal schaute er sich um. Der Flur lag da wie ausgestorben. Kein Laut drang aus den Zimmern. Die Patienten schliefen.
Die meisten Menschen stellen sich eine Psychiatrie laut und lärmend vor, doch das stimmt nicht. Selbst auf den Stationen, wo mehrfachbehinderte oder minderbegabte Menschen behandelt werden, kehrt irgendwann Ruhe ein.
Daniel atmete ein letztes Mal tief durch. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Er fühlte sich wie ein Pennäler vor dem ersten Date.
Langsam schob er die Tür auf.
Das Bett war leer!
Glatt, wie frisch gespannt, lag das blütenweiße Laken auf der Schaumstoffmatratze. Die Bettdecke war spurlos verschwunden, das Fenster geschlossen.
Aber Naema hatte ja auch bisher nur die ersten Nächte im Bett verbracht. Da hatte sie so heftig auf die Medikamente reagiert, dass sie fast achtundvierzig Stunden lang nicht ansprechbar gewesen war. Eine Fehldosierung, ganz eindeutig.
Kalte Finger strichen über Daniels Kopf, wühlten sich in seine Haare und wuschelten sie durcheinander. Er erschrak bei der Berührung. Erst als er das leise Kichern vernahm, entspannte er sich.
Naema lag zusammengerollt auf dem Kleiderschrank, eingewickelt in die Bettdecke. Nur Kopf, Arm und ein Teil der Schulter lugten hervor.
»Du ... du verrücktes Huhn«, murmelte Daniel, doch auch er musste lächeln.