Kleines Mädchen von nirgendwoher - Gert Rothberg - E-Book

Kleines Mädchen von nirgendwoher E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Strahlende Morgensonne lockte die Kinder von Sophienlust an die Fenster. Es war wichtig für sie, sich beizeiten umzusehen, ob es an diesem Tag Badewetter gab. Denn die Heimleiterin und Schwester Regine hatten versprochen, mit ihnen am Nachmittag zum See zu fahren. Pünktchen beugte sich aus dem Fenster. »Auf der Straße stehen so viele Leute beisammen. Ich möchte nur wissen, was die so früh am Morgen schon zu ratschen haben.« Der kleine Henrik von Schoenecker sah das hübsche sommersprossige Mädchen keck an. »Du musst dich gerade aufregen, Pünktchen. Ihr Mädchen ratscht doch auch immer. Und wenn ich dann wissen will, worüber ihr ratscht, dann seid ihr auch noch so gemein und sagt es nicht einmal.« Er stieß Pünktchen an. »Hörst du mir gar nicht zu? Du wirst noch aus dem Fenster stürzen, wenn du dich so weit hinausbeugst. Das sollte ich mal tun! Da ginge gleich jemand zu Mutti petzen.« Pünktchen drehte sich wütend um. »Alter Quasselphilipp! Deinetwegen habe ich jetzt nicht alles verstehen können. Ich glaube, ein Kind ist überfahren worden. Ich muss hinunter.«

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Sophienlust Extra – 12 –

Kleines Mädchen von nirgendwoher

Zu wem gehört die zarte Gritli?

Gert Rothberg

Strahlende Morgensonne lockte die Kinder von Sophienlust an die Fenster. Es war wichtig für sie, sich beizeiten umzusehen, ob es an diesem Tag Badewetter gab. Denn die Heimleiterin und Schwester Regine hatten versprochen, mit ihnen am Nachmittag zum See zu fahren.

Pünktchen beugte sich aus dem Fenster. »Auf der Straße stehen so viele Leute beisammen. Ich möchte nur wissen, was die so früh am Morgen schon zu ratschen haben.«

Der kleine Henrik von Schoenecker sah das hübsche sommersprossige Mädchen keck an. »Du musst dich gerade aufregen, Pünktchen. Ihr Mädchen ratscht doch auch immer. Und wenn ich dann wissen will, worüber ihr ratscht, dann seid ihr auch noch so gemein und sagt es nicht einmal.« Er stieß Pünktchen an. »Hörst du mir gar nicht zu? Du wirst noch aus dem Fenster stürzen, wenn du dich so weit hinausbeugst. Das sollte ich mal tun! Da ginge gleich jemand zu Mutti petzen.«

Pünktchen drehte sich wütend um. »Alter Quasselphilipp! Deinetwegen habe ich jetzt nicht alles verstehen können. Ich glaube, ein Kind ist überfahren worden. Ich muss hinunter.« Schon flitzte Pünktchen durch den Aufenthaltsraum. Henrik und eine Schar anderer Kinder hinter ihr drein.

Pünktchen kam als erste bei den durcheinanderschwatzenden Leuten an. Sie tippte einem Mädchen aus dem Dorf Wildmoos, das wie sie das Gymnasium besuchte, auf die Schulter, und fragte: »Was ist denn passiert?«

Das Mädchen war ganz blass im Gesicht und gab keine Antwort. Pünktchen musste erst noch fragen: »Ist wirklich ein Kind überfahren worden?«

»Ja. Vor dem Ortseingang angeblich. Es soll vor ein Auto gelaufen sein. Es ist schon in Maibach im Krankenhaus. Aber das ist noch nicht alles. An der Stelle, wo das kleine Mädchen verunglückt ist, hat man eine tote Frau gefunden. Wahrscheinlich die Mutter des Kindes.«

Henrik schüttelte Pünktchen am Arm und fragte: »Was ist los?« Doch er bekam keine Antwort. Pünktchen zuckte nur die Schultern und ging ins Kinderheim zurück.

Zur gleichen Zeit fuhren zwei Wagen durch die Einfahrt. In dem einen saß Denise von Schoenecker, in dem anderen die Ärztin von Sophienlust, Dr. Anja Frey.

Die beiden Frauen begrüßten einander wenig später vor der Freitreppe und gingen ins Haus. Anja Frey begleitete Denise von Schoenecker in den Biedermeiersalon.

»Haben Sie schon von dem Unfall gehört, Frau Doktor?«, fragte Denise.

Anja Frey lehnte sich im Sessel zurück und seufzte. »Nicht nur gehört. Ich habe das Kind und auch die Tote gesehen. Ich wurde gerufen und komme gerade aus dem Krankenhaus. Mit Absicht bin ich in Sophienlust eingekehrt. Um mit Ihnen zu sprechen. Das Kind ist nur leicht verletzt. Es könnte in häusliche Pflege entlassen werden. Sie werden jetzt schon erraten, woran ich denke, Frau von Schoenecker.«

Denise strich sich durch das schwarze Haar. »Meinen Sie, dass wir das Kind hier aufnehmen sollten?«

»Zumindest vorübergehend, bis sich geklärt hat, wohin es gehört. Im Augenblick kann das niemand feststellen. Die Frau hatte keinerlei Papiere bei sich. Nur einen abgebrochenen Brief. Aber aus diesem scheint man keine Schlüsse ziehen zu können. Die Polizei hat den Brief an sich genommen.«

»Was ist der Mutter passiert, Frau Doktor?«

»Sie ist an einem Herzversagen gestorben. Ich glaube, das kann man jetzt schon mit ziemlicher Sicherheit sagen. Zumindest waren die Kollegen im Krankenhaus mit mir einer Meinung.«

Denise von Schoenecker sah sehr erschrocken aus. »Heißt das, dass die Frau schon längere Zeit tot an der Straßenböschung gelegen haben kann?«

Anja Frey nickte. »Ja, wahrscheinlich. Es ist eine jüngere Frau. Ich schätze, dass sie dreißig bis vierzig Jahre alt ist. Sie könnte durchaus die Mutter des kleinen Mädchens sein.«

»Und wie alt ist das Kind?«, fragte Denise.

Anja Frey sah etwas hilflos aus. »Vielleicht zwei Jahre, vielleicht auch etwas älter. Es spricht gut, aber das Alter konnte es uns nicht sagen. Nur den Namen. Es heißt Gritli. Den Familiennamen weiß es jedoch allem Anschein nach auch nicht. Oder es steht noch zu stark unter dem Schock.«

»Gritli?«, sinnierte Denise von Schoenecker. »Könnte das Kind nicht aus der Schweiz stammen? Dort findet man diese Abkürzung öfter. Bei uns hört man den Namen eigentlich selten.« Denise stand auf. »Sie werden in Ihre Praxis müssen, Frau Doktor. Am besten ist es, ich fahre gleich nach Maibach.«

Auch Anja Frey erhob sich. »Ich bin beruhigt, dass Sie sich um das Mädchen kümmern wollen, Frau von Schoenecker, denn ich habe das ungute Gefühl, dass man so schnell nicht herausfinden wird, wohin das Kind gehört. Der Fall erscheint mir recht mysteriös. Aber vielleicht irre ich mich auch. Ich stehe wahrscheinlich noch unter dem Eindruck, den das Mädchen auf mich gemacht hat. Es ist ein so liebes kleines und hilfsbedürftiges Ding. Es hat fast weißblondes Haar und tiefblaue Augen. Und wenn Kinder etwas nicht begreifen können, klagen einen immer ihre Augen an.«

Die Ärztin und Denise von Schoenecker verließen zusammen das alte Herrenhaus von Sophienlust. Erst als sie in ihren Wagen saßen, trennten sich die Wege der beiden Frauen.

Denise von Schoenecker fuhr nach Maibach. Sie musste sich bemühen, auf den Straßenverkehr zu achten, denn in ihren Gedanken war sie schon bei dem Kind. Würde es wirklich so sein, dass sie einen neuen Schützling nach Sophienlust holte? Wie oft hatte sie das schon getan, seitdem sie das Kinderheim leitete.

Für Sekunden legte sich ein dankbares Lächeln um den Mund der schönen Frau. Es machte sie glücklich, nicht nur ihren Mann und ihre Kinder umsorgen zu dürfen, sondern auch all die armen verlassenen Kinder, die in Sophienlust Geborgenheit suchten. Schon in vielen tragischen Fällen hatte sie helfen können. Oft auch dort, wo die Eltern sich zerstritten hatten oder wo ein Elternteil ratlos vor der Verantwortung stand, einem Kind nun beides sein zu müssen – Mutter und Vater.

Jetzt atmete Denise von Schoenecker erleichtert auf. Denn sie dachte daran, dass Sophienlust so manches Mal auch nur Zwischenstation für ein vereinsamtes Kind gewesen war. Wie würde es bei der kleinen Gritli sein?

Im Foyer des Krankenhauses traf Denise von Schoenecker mit Polizeimeister Kirsch zusammen, den sie gut kannte. Sie fragte ihn, ob man inzwischen wisse, wohin das Kind gehöre und wer die Tote sei. Der Polizeimeister zuckte die Schultern. »Es wird schwer sein. Wir haben keinen Anhaltspunkt. Wir werden wohl darauf warten müssen, dass die Frau und das Kind gesucht werden. Irgend jemand muss sie ja bald vermissen. Das gibt es doch nicht, dass man sagen kann, ein Kind ist von nirgendwoher.«

»Sind Sie noch immer nicht sicher, dass die Tote auch wirklich die Mutter des kleinen Mädchens war?«, fragte Denise.

»Das Mädchen spricht von seiner Mutti, sodass man annehmen kann, es meint die Tote. Aber was halten Sie davon?« Der Polizeimeister holte einen Briefbogen aus seiner Rocktasche und reichte ihn Denise von Schoenecker.

Der Briefbogen war mit wenigen Zeilen beschrieben. In einer großen und sehr flüchtig wirkenden Handschrift. Denise las: »Liebe Schwester, ich habe mich entschließen müssen, Gritli nun zu ihrer Mutter zurückzubringen. Ich kann nicht anders. Es geht mir gesundheitlich so schlecht, dass …«

Jetzt sah Denise von Schoenecker hilflos aus. »Das ist nicht viel«, sagte sie in Gedanken. »Und wer kann dafür bürgen, dass dieser Brief auch von der Frau geschrieben wurde, die nun tot ist?«

»Eben, das ist es ja.« Der Polizeimeister steckte den Brief wieder ein. Er sah Denise von Schoenecker forschend an. »Sind Sie wegen des Mädchens gekommen?«

»Ja, Frau Dr. Frey sagte mir, dass es nicht im Krankenhaus zu bleiben braucht. Ich würde das Kind gern nach Sophienlust nehmen, bis der Fall geklärt ist. Werde ich die Erlaubnis dazu bekommen?«

Der Polizeimeister lachte. »Dachte ich mir’s doch. Das nehme ich auf meine Kappe, dass Sie das Kind gleich mitnehmen können. Hier im Krankenhaus wird jedes Bett gebraucht, und niemand hat Zeit, sich so mit dem Kind zu beschäftigen, wie das notwendig wäre. Wo könnte es aber besser aufgehoben sein als in Sophienlust? Kommen Sie, Frau von Schoenecker. Ich sorge dafür, dass Ihnen die kleine Gritli übergeben wird.«

Es dauerte nur Minuten, dann brachte eine Schwester das Mädchen. Sie trug es auf dem Arm und drückte es an sich. Nun sah die Schwester Denise von Schoenecker an und sagte leise: »So etwas Erbarmungswürdiges!« Ein tiefer Seufzer folgte.

»Gritli!« Denise von Schoenecker streckte die Arme aus. »Kommst du zu mir?«

Das Mädchen sah sie aus verweinten Augen an. Anja Frey hatte recht, es war ein besonders liebes Geschöpf. Das weißblonde Haar war über der Stirn zu einer Ponyfrisur geschnitten und fiel an den Seiten beinah bis auf die Schultern. Es umrahmte ein allerliebstes Gesicht mit einem kleinen Mund, einer Stupsnase und großen blauen Augen.

Noch immer schmiegte sich Gritli an die Schwester, doch sie sah von ihr zu Denise von Schoenecker. Mit einem Blick, als wolle sie sagen: soll ich schon wieder zu jemandem anderen gehen?

Jetzt zuckte es um den Mund, die Lippen öffneten sich: »Mutti!« Gritli schluckte. »Ich will zu meiner Mutti!«

Die Tote muss also doch ihre Mutter gewesen sein, dachte Denise genauso wie die Schwester und der Polizeimeister.

»Komm mit mir, Gritli. Ich bringe dich zu vielen Kindern. Du kannst mit ihnen spielen. Sie warten schon auf dich. Wir fahren mit dem Auto.«

Jetzt schüttelte das Mädchen den Kopf. »Uns nimmt kein Auto mit. Wir haben so oft gewinkt. Mutti konnte schon nicht mehr gehen, und meine Beine waren so müde.« Gritli streckte ein Bein aus. »Und jetzt ist mein Bein kaputt.«

Die Schwester lächelte und tätschelte das Kind. »Dein Bein ist nicht kaputt, Gritli. Wir haben es nur ein bisschen verpflastern müssen.«

Gritli nickte. »Ja, weil es so geblutet hat. Und der Arm auch.« Nun schienen ihr diese Verletzungen interessant zu werden.

Die Schwester nutzte die Gelegenheit und drückte Gritli auf Denise von Schoeneckers Arm.

Denise redete auf das Mädchen ein, damit es gar nicht zum Nachdenken kam darüber, dass es zum Wagen getragen wurde. Als sie das Kind auf den Beifahrersitz drückte und bat: »Bleib bitte schön still sitzen, Gritli«, sah sich die Kleine mit großen Augen um.

Sie muss doch schon etwas älter sein als zwei, dachte Denise von Schoenecker. Aber sie wollte jetzt nicht versuchen, von dem Kind etwas zu erfahren. Es sollte zunächst zur Ruhe kommen.

Knapp vor Sophienlust sagte Gritli: »Ich habe mit Mutti auch eine große Reise gemacht. Im Zug. Aber dann hatten wir kein Geld mehr zum Weiterfahren.« Das Mädchen zuckte die Schultern.

»Wohin wolltet ihr denn fahren?«, wagte Denise nun doch zu fragen.

»Ich weiß nicht. Mutti hat nur gesagt, irgendwohin, wo es mir sehr gut gehen wird. Und wo sie sich über mich freuen werden.« Diesen letzten Satz sagte Gritli mit besonderer Betonung, als sei er ihr oft eingeredet worden.

Denise bog jetzt nach Sophienlust ein. Schon vom Tor her sah sie die Kinder auf der Freitreppe stehen. Sie mochten wohl inzwischen wissen, dass das kleine verunglückte Mädchen kommen sollte. Nirgends sprach sich etwas so schnell herum wie im Kinderheim.

»Sind das die Kinder, mit denen ich spielen kann?«, fragte Gritli und drückte sich die Nase an der Scheibe der Wagentür platt. »Aber die sind ja gar nicht so klein wie ich. Große Kinder wollen nicht gern mit mir spielen.«

Denise stieg aus und öffnete dem Kind die Tür. »Unsere großen Kinder werden aber gern mit dir spielen, Gritli. Außerdem sind bei uns auch einige kleinere Kinder. Komm!« Sie reichte Gritli die Hand und führte sie zur Treppe.

»Oh, wie lieb sie ist! So klein noch! Das arme Mädchen!«, schwirrte es verhalten durcheinander. Aber die Kinder von Sophienlust zeigten, dass sie ihre Neugierde bändigen konnten. Sie stellten keine Fragen an Denise von Schoenecker, sondern folgten ihr nur ins Haus.

Schwester Regine übernahm Gritli, nachdem sie mit Denise einige Worte gewechselt hatte. Jeder wusste, dass es Schwester Regine ganz besonders verstand, neuen Kindern auf Sophienlust die Scheu zu nehmen. »Meinst du nicht, dass ich dich erst einmal ganz schön waschen sollte, Gritli? Baden kannst du ja nicht mit deinen Pflastern.«

»Ich habe Hunger«, sagte Gritli und sah Schwester Regine bittend an. »Und ich bin so müde. Mutti und ich haben nicht geschlafen. Wir sind immer gegangen und gegangen. Dabei war es so finster. Als es dann wieder hell wurde, war Mutti so müde.«

Schwester Regine ließ das Kind sprechen. Nicht nur aus der Hoffnung heraus, dass sie dadurch etwas erfahren konnte, sondern auch, weil Gritli allem Anschein nach den Wunsch hatte, von dem zu erzählen, was sie erlebt hatte.

Schwester Regine holte ein Nachthemd. Sie wusch das Kind und legte es dann ins Bett. Es dauerte nicht lange, bis Gritli eingeschlafen war.

Die anderen Kinder waren enttäuscht, dass Gritli nun bei hellichtem Tag schlief, aber dann trösteten sie sich damit, am frühen Nachmittag an den See zum Baden fahren zu können. Wenn sie nach Hause kommen würden, würde Gritli sicher wach sein.

*

Der junge Chirurg Dr. Helmut Brugger fuhr seinen Wagen in die Garage neben dem Einfamilienhaus in München-Harlaching. Dr. Brugger stieg etwas umständlich aus, so, als dränge es ihn nicht sonderlich, ins Haus zu kommen. Er sah sich im Garten um. Wie verwildert hier alles war, seitdem sich Ursula um nichts mehr kümmerte. Früher hatte sie darauf bestanden, den Garten selbst pflegen zu dürfen. Sie war ärgerlich gewesen, wenn ein Gärtner ihr einmal die schwereren Arbeiten abgenommen hatte. Und nun?

Dr. Brugger schloss flüchtig die Augen. Nicht nur der Garten war verwildert, auch im Haus sah es nicht sonderlich ordentlich aus. Und Ursula selbst? Sie legte kaum noch Wert auf ihr Äußeres. Sie schien vergessen zu haben, dass sie erst dreißig Jahre alt war.

Jetzt wurde ein Fenster geöffnet, eine nervöse Stimme rief: »Wann kommst du denn endlich ins Haus, Helmut?«

Dr. Brugger sah zu dem Fenster empor und nickte. »Ich komme ja schon, Ursula.« Er ging auf die Haustür zu, doch er musste sie selbst aufschließen. Da war wieder diese Bitternis in ihm. Früher hatte ihm Ursula stets von innen geöffnet und ihn mit strahlendem Lachen begrüßt.

Nun stand sie in der Diele und sah ihm vergrämt entgegen. Das lange blonde Haar sah stumpf und unordentlich aus, Ursulas Bewegungen waren eckig, ihre blauen Augen sahen ihn vorwurfsvoll an. »Mein Gott, bist du heute wieder spät gekommen, Helmut. Hast du denn vergessen, dass wir bei den Thamms eingeladen sind?«

Noch einmal musterte Dr. Brugger seine Frau. Doch nun konnte er sich nicht enthalten, zu sagen: »Du siehst aber noch gar nicht so aus, als wärst du zum Ausgehen bereit.«

Ursula fiel auf einen Stuhl in der Diele und presste die Fingerspitzen an die Schläfen. »Du weißt, dass ich mich nicht vorbereiten kann, solange du nicht hier bist. Ich muss ja immer damit rechnen, dass du überhaupt nicht kommst. Wozu soll ich mir dann die Mühe machen, mich herzurichten?«

Helmut Brugger ging ins Wohnzimmer. Die Tür blieb hinter ihm offen. Dem großen stattlichen Mann war anzusehen, dass er sich jetzt hilflos fühlte. »Dass ich überhaupt nicht komme, damit musstest du wohl kaum rechnen, Ursula. Bitte, übertreibe doch nicht immer so. Wenn ich mich mal verspäte, solltest du dafür Verständnis haben. Ein Arzt kann nun einmal nicht so pünktlich Feierabend machen wie ein Maurer. Ich erinnere mich noch gut daran, dass du das früher begriffen hast.« Er strich sich durch das volle braune Haar, dann steckte er sich eine Zigarette an. Ihm war jetzt wirklich nicht danach zumute, auszugehen.

Ursula war ihrem Mann ins Wohnzimmer gefolgt. Zerbrechlich zart stand sie vor ihm. »Ja, früher …«, sagte sie tonlos. Ihr Blick sah verloren aus, ihr schmales Gesicht war noch blasser geworden.

In diesem Augenblick spürte Helmut Brugger wieder das unsägliche Mitleid mit seiner Frau in sich, das ihn so oft überfiel. Er ging zu ihr und zog sie an sich. »Ursula«, sagte er mit zärtlichem Ton in der Stimme, »warum kannst du nicht vergessen? Warum quälst du dich noch immer so sehr?« Er strich über ihr Haar, dann küsste er sie.

Aber schon wehrte sich die junge Frau und machte sich aus seiner Umarmung frei. Dann lachte sie spitz. »Vergessen? Natürlich, du kannst es. Du denkst anscheinend gar nicht mehr an unsere kleine Dani. Für dich ist es so, als habe sie nie gelebt, als hätten wir nie ein Kind gehabt.«

In Dr. Bruggers Gesicht stieg Röte, die jedoch gleich darauf wieder verschwunden war und fahler Blässe Platz gemacht hatte. »Warum behauptest du das immer wieder, Ursula? Du weißt, wie hart du mich damit triffst. Habe ich Dani nicht genauso geliebt wie du?«

»Ja, anfangs. Aber bald hattest du alles mögliche an ihr auszusetzen. Sie war dir nicht kräftig und nicht robust genug.« Ursula lief zu einem Fenster und lehnte sich dagegen. Von dort sah sie ihren Mann an. Mit einem Blick, der darauf zu warten schien, dass diese Zwistigkeit weiterging.

Helmut Brugger stieß einen tiefen Seufzer aus. »Je mehr Zeit vergeht, seitdem wir unsere Dani verloren haben, um so hinterhältiger scheinst du zu werden. Ich hatte an dem Kind nichts auszusetzen. Ich wollte nicht, dass es robust ist. Es sollte nur gesund sein. Und Dani war nicht gesund.«

Ursula wischte mit den Händen durch die Luft. »Komm mir jetzt nicht wieder mit diesem Loch im Herzen. Das ist doch eine Erfindung von dir gewesen. So etwas gibt es nur in den seltensten Fällen. Und gerade unser Kind soll so etwas gehabt haben? Das werde ich niemals glauben.«

Helmut Brugger bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Wir brauchen doch darüber nicht mehr zu sprechen, Ursula. Wir haben Dani nicht durch diesen Geburtsfehler verloren …«

»Nein, das haben wir nicht.« Die Stimme der jungen Frau klang nun hysterisch. »Wir haben Dani durch meine Schuld verloren. Das wolltest du doch sagen. Das hältst du mir immer wieder vor. Unsere Liebe ist unter diesem Vorwurf bereits gestorben.« Jetzt lief Ursula zu einer Couch und warf sich darauf. Ihre Schultern bebten. Sie war jetzt nur noch ein hilfloses Bündel Mensch.

Der Mann sah es und setzte sich neben seine Frau. »Ursula, unsere Liebe ist dadurch nicht gestorben. Wir waren nur nicht stark genug, mit einem so schweren Schicksalsschlag fertig zu werden. Besonders du nicht. So glaube mir doch endlich, dass ich dir keine Vorwürfe mache.«

Jetzt richtete sich Ursula auf. In ihren Augen stand Verzweiflung. Sie schlug sich mit den Fäusten gegen die Brust, ihre Stimme zitterte. »Aber mir hat man Dani gestohlen. Mir, Helmut, nicht dir. Ich habe nicht genug auf sie aufgepasst, ich war leichtsinnig. Ich habe Dani im Kinderwagen vor dem Geschäft stehen lassen.« Nun umspannten die Hände der jungen Frau die Schultern ihres Mannes. Ihre Finger gruben sich ein, dass er nur mit Mühe einen Schmerzenslaut unterdrücken konnte. »Aber du musst mir glauben, Helmut, dass ich nur einige Minuten in dem Geschäft bleiben wollte. Ich hatte nicht einmal vor, etwas zu kaufen. Ich wollte nur nach dem Preis eines niedlichen Kleidchens im Schaufenster fragen. Es sollte doch für Dani sein.«

Helmut Brugger versuchte den Kopf seiner Frau mit beiden Händen zu umschließen. »Ja, ich weiß das alles, Ursula. Du hast nichts anderes getan als das, was andere Mütter auch tun. Viele lassen ihre kleinen Kinder mal einige Minuten allein im Kinderwagen vor einem Geschäft stehen.«

»Aber noch keiner Mutter ist ihr Kind gestohlen worden. Geraubt, Helmut, nur mir!«

»Es war ein Verbrechen, ein entsetzliches Verbrechen!«, stöhnte er. Für Sekunden hatte er sich nicht in der Gewalt. Die Erinnerung war auch für ihn zu grausam, sodass er darüber vergaß, dass er seine Frau trösten sollte. »Ein halbes Jahr war unsere Dani erst alt.« In Gedanken setzte er hinzu: und sie war krank. Vielleicht ist sie den Entführern gestorben, vielleicht haben sie sich deshalb nie gemeldet.