Können die wo fertig sind früher gehen? - Andreas Müller - E-Book

Können die wo fertig sind früher gehen? E-Book

Andreas Müller

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  • Herausgeber: hep verlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Bei diesem E-Book handelt es sich um ein Fixed-Layout. Es ist deshalb nur mit aktuellen Geräten lesbar. Menschen lernen, was sie tun. Das ist auch in der Schule so. Wer gegen den Schlaf kämpft, lernt, gegen den Schlaf zu kämpfen. Wer Vokabeln auswendig lernt, lernt Vokabeln auswendig. Und wer eine Gebrauchsanweisung erstellt, um zu erklären, wie man Brüche kürzt, lernt, mit einer Gebrauchsanweisung das Kürzen von Brüchen zu erklären. Lernen ist also ein Verb, ein Tunwort. Ganz im Geist von Goethe, der weiland festgestellt hat: "Erfolg hat drei Buchstaben: tun!" Aber eben: Entscheidend ist, was Lernende tun. Und wie sie das tun, was sie tun. Das Ziel ist klar (oder scheint zumindest klar zu sein): Lernende sollen relevante Kompetenzen aufbauen und entwickeln - und zwar nachhaltig. Es geht also nicht darum, etwas "gehabt zu haben". Und es geht nicht darum, "fertig" zu sein. Lernen ist ein fortwährender Gestaltungsprozess. Eben: Tun! Und im schulischen Kontext werden diese Prozesse in hohem Masse beeinflusst durch die Aufgaben, durch das, was die Lernenden zu tun erhalten. Aufgaben sind ein Dreh- und Angelpunkt, in quantitativer ebenso wie in qualitativer Hinsicht. Dieses Buch ist deshalb ein Buch zum Nachdenken: Denn wer als Lehrerin oder Lehrer über seine Arbeit nachdenkt, muss über Aufgaben nachdenken. Wer über Aufgaben nachdenkt, muss über Lernen nachdenken. Und wer über Lernen nachdenkt, muss über Schule nachdenken. Es ist aber auch ein Buch zum Handeln: Denn erstens kommt es anders und zweitens wenn man (nach)denkt. Auf der Ebene des alltagspraktischen Handelns wird die Frage aufgenommen, was Lernaufgaben zu "guten" Aufgaben macht. Damit verbunden ist eine komplett andere und in vielen Teilen auch neue Sicht auf "Aufgaben" als Werkzeuge zur Aktivierung von Lernprozessen. Wirkungsstarke Lernaufgaben werden in prototypischen Formaten und Beispielen vorgestellt. Doch jedes Lernverhalten ist abhängig vom Kontext, in dem es stattfindet. Deshalb gilt auch für Lernaufgaben: Wie man sie einbettet, so liegen sie einem.

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Andreas
Müller, Melanie Probst, Roland Noirjean
Können die wo fertig sind früher gehen?
Andreas MüllerMelanie ProbstRoland Noirjean
Können die
wo fertig sind
früher gehen?
Wer über Lernen nachdenkt,muss über Aufgaben nachdenken.Und umgekehrt.
Andreas Müller, Melanie Probst, Roland NoirjeanKönnen die wo fertig sind früher gehen?ISBN Print: 978-3-0355-0148-3ISBN E-Book: 978-3-0355-0149-0
Layout, Zeichnungen & Grafische Gestaltung:Roland Noirjean, Beatenberg, www.lernenbewegt.ch
1. Auflage 2015Alle Rechte vorbehalten© 2015 hep verlag ag, Bern
www.hep-verlag.com
Zusatzmaterialien und -angebote zu diesem Buch:http://mehr.hep-verlag.com/frueher-gehen
www.fair-kopieren.ch
Inhaltsverzeichnis
1
Wer über seine Arbeit nachdenkt, muss über Aufgaben nachdenken 7
Wirkungen und Nebenwirkungen 9
Mehr Ausüben als Üben 11
2
Wer über Aufgaben nachdenkt, muss über Lernen nachdenken 13
Erfahrungswelt beeinflussen 16
Kompetenzen generieren 17
3
Wer über Lernen nachdenkt, muss über Schule nachdenken 27
Das Lernen organisieren 30
Mentale Trojaner 32
Personalisierte Lernkonzepte 34
4
Erstens kommt es anders und zweitens wenn man nachdenkt 37
Perspektive der Lernenden 39
Perspektive schulischen Lernens 44
Perspektive des Lehrers 46
5
Das Sanduhr-Prinzip 51
Appetizer: Der Gruss aus der Küche 56
Anspruch: Das Pferd am Schwanz aufzäumen 58
Auseinandersetzung: Glasplatte durchbrechen 63
Anschluss: Frontalangriff auf die Molekularpädagogik 65
Arbeitsweise: «Gewusst-wie» ist die halbe Miete 68
Auswertung: Hinter dem Horizont kommt noch etwas 71
6
Design oder Nichtsein 85
Prototypische Formate 88
LernSteps – Schritte zu einem Thema 89
LernJobs – Kompositionen mit Langzeitwirkung 90
LernUnits – individuelle oder kooperative Kleinprojekte 96
The Making of 99
7
Wie man sie einbettet, so liegen sie einem 105
Kulturbildende Einbettung («spirit») 109
Strukturbildende Einbettung 117
8
Beispiele 121
1
Wer über seine Arbeitnachdenkt, muss überAufgaben nachdenken
7
1 WER ÜBER SEINE ARBEIT NACHDENKT, MUSS ÜBER AUFGABEN NACHDENKEN
D
ie Arbeit in der Schule besteht zu
einem wesentlichen Teil darin,
Aufgaben zu erteilen und zu korri-
gieren – oder, wenn man auf der anderen Seitesitzt, sie zu erledigen. Im Mathematikunter-richt verbringen die Schüler vier Fünftel derZeit mit dem Lösen von Aufgaben.1
Da kommt ganz schön was zusammen: «Über100 000 Aufgaben sind der Durchschnitt –mindestens. Nicht selten werden es eineViertelmillion. So viele Aufgaben stellt eineLehrkraft im Laufe ihres Berufslebens im Un-terricht», stellt Gerhard Eikenbusch fest. Under wundert sich, «wie wenig wir darüber wis-sen, wie Aufgaben im Unterricht überhaupt
funktionieren».2 Aufgaben, so scheint es, sind
halt einfach Aufgaben. Alltagsroutine eben.Die stellt man sich zusammen, kopiert sie auseinem Buch raus, bedient sich einer Kopier-vorlage oder lädt sich «etwas» aus dem Netzrunter. Noch einfacher: Man nimmt das BuchSeite soundso und hangelt sich von Kapitelzu Kapitel. Nicht von ungefähr werden dieseBücher ja Lehrmittel genannt.
Das ist, gelinde gesagt, erstaunlich, wennman sich vor Augen führt, welche zeitlicheBedeutung Aufgaben haben – und welcheSelektionswirkung ihnen zukommt. Dennschliesslich bestimmen sie zu einem nichtunerheblichen Teil über schulisches Sein oderNichtsein. Und nicht zu vergessen: Die un-erquicklichen Diskussionen, die sich Tag fürTag in ungezählten Familien um ein speziellesAufgabenformat drehen – die Hausaufgaben.Seit gut 150 Jahren gibt es allgemeinbildendeSchulen in unseren Breitengraden und genau-so lange existiert der Hauptfeind aller freien,unbeschwerten Nachmittagsvergnügungen:die Hausaufgaben. Erstaunlich dabei: Es han-delt sich mehr um ein pädagogisch-rituellesRelikt als um eine Erfolg versprechendeMassnahme. Zahlreiche Studien legen nahe,dass Hausaufgaben keinerlei nachweisbarenEinfluss auf den schulischen Erfolg haben.Daran ändern auch die Milliarden von Eurowenig, die in Deutschland Jahr für Jahr in denNachhilfeunterricht gebuttert werden.
Nichtsdestotrotz: Um all das, was als Aufga-ben bezeichnet wird, dreht sich all das, was alsschulisches Lernen bezeichnet wird. DamitAufgaben und mit ihnen das schulische Ler-nen nicht zur öden Beschäftigungstherapieverkommen, ist es unerlässlich, ihnen die
1
Reusser, Kurt: Aufgaben – das Substrat derLerngelegenheiten im Unterricht. In: Profil.03/2013.
2
Eikenbusch, Gerhard: Aufgaben, die Sinn machen.Wege zu einer überlegten Aufgabenpraxis imUnterricht. In: Pädagogik. 03/2008.
8
nötige professionelle Aufmerksamkeit zuschenken. Das heisst: Wer über seine Arbeitnachdenkt, muss über Aufgaben nachdenken.Aber was sind eigentlich Aufgaben: Als«Verpflichtung, eine vorgegebene Handlungdurchzuführen» definiert Wikipedia dieAufgabe. Na ja, das trägt nur sehr beschränktzur Klärung bei. Und, dass die Schulaufgabeeine Aufgabe sei, «die in der Schule erledigtwird», überrascht auch nicht gerade. Aller-dings, dass Aufgaben einfach «erledigt» wer-den müssen, das sagt einiges aus über die Ab-gründe schulischen Aufgabenverständnisses.
Wirkungen undNebenwirkungen
Grundsätzlich kann man sagen: Eine Aufgabeversteht sich als Aufforderung zu einem Sollals Differenz zu einem Ist. Also: Etwas sollnachher anders sein als der Status quo.Das Ist: Der Abfalleimer quillt über. Das Soll:Der Eimer soll leer und der Abfall entsorgtsein. Und die Aufgabe dazwischen heisst:Abfall wegbringen.
Das Ist: Ich verstehe diesen Text nicht, weilviele Informationen mir unbekannt sind. DasSoll: Ich will/soll/muss mich über den Inhaltunterhalten können. Die Aufgabe dazwischenheisst demnach: Nachschlagen, klären, wasdie Dinge bedeuten, sodass ich mir ein mög-lichst differenziertes Bild machen kann vonden Aussagen des Textes.
«
Der Wegdes geringsten
Widerstandes führt
immer bergab.
»
Aufgaben verfolgen gleichsam ein Ziel, eineAbsicht. Sie beabsichtigen eine Wirkung.Und im schulischen Idealfall manifestiert sichdiese Wirkung im beabsichtigten Kompetenz-zuwachs.
Allerdings: Mit Aufgaben verhält es sich wiemit Medikamenten: Sie können zu unbeab-sichtigten Nebenwirkungen führen.
Diese Nebenwirkungen können positiv underfreulich sein: Ein Lernender lernt mehroder intensiver oder differenzierter als eigent-lich lehrerseits beabsichtigt war. Will heissen:Er tut mehr als das, was geradeso verlangt
Eine klare Ausgangslage (IST) und ein klaresZiel (SOLL) machen den Weg einfacher. Je dif-fuser Ausgangslage und Erwartungen, destogrösser die Unsicherheit.
9
1 WER ÜBER SEINE ARBEIT NACHDENKT, MUSS ÜBER AUFGABEN NACHDENKEN
wird. Er ist stolz auf das, was dabei entstandenist. Und er fühlt sich gut dabei. Aber genausogut kann eine Aufgabe zu negativen Neben-wirkungen führen – eine Bestätigung fürInkompetenz, ein Anlass für Ärger zu Hause,ein Grund, zu bescheissen, so zu tun als ob(und halt auf diesem Feld Kompetenzen zuerwerben …).
Ein Grund dafür liegt im Wesen der Aufgabe:Während beispielsweise beim olympischenSprint über hundert Meter das Ist (Startpflö-cke), der Weg (Bahnen) und das Soll (Ziel-linie) absolut klar sind, verhält sich das mitschulischen Aufgaben häufig anders.
Das Ist, also die Ausgangslage, liegt keines-wegs so offen zutage. Die «Startpflöcke»stehen alles andere als in einer Reihe. Und inAbhängigkeit von Vorwissen, emotionalenVorerfahrungen und entsprechenden menta-len Modellen, von Befindlichkeiten und vonjeder Menge Umgebungsfaktoren verstecktsich auch das Soll, also die expliziten und im-pliziten Ziele, Intentionen und Erwartungen,häufig hinter einem dichten Nebelschleier desUnverständlichen.
Ein Beispiel dazu, eine sogenannte Selbstlern-aufgabe in Mathematik: «Bei 0 ° C wird ineinem Skilager heisser Kaffee ausgeteilt, derin den Bechern abkühlt. In der Abbildung istdie exponentielle Abkühlungskurve des Kaf-fees dargestellt. Bestimme aus der Zeichnung,welche Temperatur der Kaffee nach 20 Minu-ten hat und wie lange man warten muss, wennman den Kaffee mit 60 ° C trinken möchte.»Wer in aller Welt denkt sich so etwas aus? Inwelchem Skilager zeichnet man wohl eineAbkühlungskurve, um zu wissen, wann mansich mit dem Kaffee nicht mehr die Zungeverbrennt?
Unter Normalos kann die Reaktion eigent-lich nur sein: Kopfschütteln, Nase rümpfen,Augenbrauen hochziehen und dann miteinem gutturalen «Heeee!?» auf den Lippenfragend in die Runde blicken. Deshalb: Werals Lehrer über seine Arbeit nachdenkt, mussüber Aufgaben nachdenken. Denn eben:Aufgaben dominieren schulisches Lernen.
Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch denUnterricht und in den Diskussionen weit
10
1 WER ÜBER SEINE ARBEIT NACHDENKT, MUSS ÜBER AUFGABEN NACHDENKEN
Dieses Denkmuster ist weit verbreitet: Zuerstmuss man etwas lernen. Heisst: Die Lehrersind aufgefordert, «es» den Schülern beizu-bringen. Und wenn sie «es» dann geschnallthaben, können sie es üben. Und üben – dasscheint wichtig zu sein. Jedenfalls liefert dieInternet-Suchmaschine weit über zwei Mil-lionen Ergebnisse: Vom Englisch über dasErziehen bis zum Krieg im Irak – alles lässtsich offensichtlich üben. Gemeint ist mit«Üben» : etwas immer wieder tun. Und dasZiel: Es besser zu können – sei es Englisch,Erziehen oder eben Krieg-Führen im Irak.Aber nicht nur deswegen verbinden sich mitdem Wort «Üben» in der Regel nicht ge-rade ermutigende Gefühle. Der gedanklicheSchritt zum – schulischen – Lernen ist klein.Denn schulisches Lernen steht meist in asso-ziativer Verbindung zu «auswendig». Unddiesem Muster folgend sind denn auch vieleAufgaben gedacht und gestaltet. Es geht dar-um, etwas, das man im Prinzip kann, zu übenund unter Beweis zu stellen. Damit verbindensich fast automatisch bestimmte Verhaltens-weisen bei den Lernenden. «So tun als ob»ist eine. «Erledigen» eine andere. Aufgabenwerden damit zu Erledigungsaufgaben.
Lernaufgaben folgen einer grundsätzlichanderen Logik. Sie verstehen sich nicht alsWurmfortsatz zum Unterricht, nicht als er-gänzender Übungsanlass. Lernaufgaben bil-den den Dreh- und Angelpunkt. Sie fordernnicht zum Üben, sondern zum Ausüben auf.Sie stehen im Zentrum. Und der «Unter-richt » gliedert sich gleichsam um die Aufga-be herum, unterstützt sie. Dabei beschränktsich «Unterricht» keineswegs nur auf die Ak-tivitäten der Lehrperson. Im Gegenteil. PeerTutoring, das Lernen voneinander und mitei-nander also, spielt eine vergleichbar wichtigeRolle. Ebenso wie die vielen anderen Formen
und Möglichkeiten, sich den Dreisatz, dieSchreibweise von Rhododendron oder dieWelt zu erschliessen.
Lernaufgaben nehmen damit Prinzipien auf,wie sie schon von Comenius formuliert wor-den sind – 1657 notabene. Die Dinge sollendurch eigenes Tun erlernt werden, gab er zubedenken. Und die Lernenden sollen «beimGegenstand verweilen, bis dieser gänzlichbegriffen ist». Schon damals also: Nichts davon «erledigen». Umso mehr muss sich diemoderne Lernaufgabe verstehen als expliziteund implizite Aufforderung an die Lernen-den, sich eigenaktiv, vertieft und in Zusam-menhängen mit Dingen auseinanderzusetzen.
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2
Wer über Aufgabennachdenkt, muss überLernen nachdenken
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2 WER ÜBER AUFGABEN NACHDENKT, MUSS ÜBER LERNEN NACHDENKEN
L
ernen. Alle sprechen davon. Wie vom
Wetter. Aber vom Wetter wissen wir
in der Regel mehr als vom Lernen.
«Lernen», der Begriff verleiht ohnehinschon bedeutungsschwangeren Situationen
eine spezielle Note. Wie aufs Kommandofallen reihum die Stirnen faltenbildend insich zusammen, wenn das Wort «Lernen»der Leichtigkeit des Seins ein abruptes Endebereitet. Wer mit der Rolle als kommuni-kativer Nestbeschmutzer kokettieren will,muss nur das Wort «Lernen» in die Rundewerfen – und die geballte Aufmerksamkeit istihm sicher. Denn zumeist ist «Lernen» nichtsonderlich positiv konnotiert. Und wenn«Lernen» dann noch verbal mit «Schule»verlinkt wird, dann ordnen sich die Gehirn-funktionen automatisch dem Regime desMandelkerns unter und schalten auf Fluchtoder Angriff.
Zwar weiss man: Menschen lernen selbst undständig. Überall und immer. Ob sie wollen
Ein Problem schulischen Lernens: Die Ansichten darüber, was «Lernen» ist, wie «Lernen»funktioniert und wer was tun muss, gehen diametral auseinander.
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oder nicht. Den weitaus grössten Teil dessen,was Menschen wissen und können, habensie nicht in schulischen Settings erworben,sondern implizit und informell. Und dochmacht es den Anschein, als sei die Schule derOrt, wo die Tätigkeit namens «Lernen» ihreWurzeln und ihre Heimat hat.
Doch schulisches Lernen ist eine Abart da-von – und wird mit zunehmender Schuldauerimmer abartiger. «Das müsst ihr heute ler-nen!» «Ich weiss, ich sollte mehr lernen.»«Gestern mussten wir die Kommaregelnlernen.» Schulische Alltagsformulierungen.Und alles scheint klar. Auf den ersten Blickund auf das erste Hinhören. Dann wird’skompliziert. Denn: Was heisst eigentlich«lernen» ? Was heisst «Kommaregeln ler-nen»? Alle, die es gibt, in allen Anwendungs-formen? Oder nur auswendig lernen? Undwie? Mündlich, der Spur nach? Oder schrift-lich? Und was heisst «mehr lernen»? Was ist«mehr»?
Vielleicht bezeichnend, dass gerade im Kon-text von Schule alle mit einem Begriff ope-rieren, der nicht geklärt ist. So ein bisschenerinnert es an den Turmbau zu Babel. Diebabylonische Sprachverwirrung brachte dasProjekt zum Stillstand. Nur: Dort und damalshaben mit einem Mal alle eine andere Sprachegesprochen. Und das Verständnis blieb aufder Strecke. Im Gegensatz zum Turmbau inBabel benutzen beim «Lernen» alle das glei-che Wort und gehen deshalb von der irrigenAnnahme aus, sie verstünden das Gleiche. Dasheisst: Im Gegensatz zum Turmbau merktman die Sprachverwirrung im Zusammen-hang mit «Lernen» nicht. Nicht auf Anhiebzumindest.
Neurowissenschaftlich gesehen ist «lernen»die Veränderung von Synapsen. Aber derLehrer kann ja seinen Schülern nicht den
Auftrag geben, «verändert bis morgen eureSynapsen». Deshalb spricht er eben von Ler-nen. Das Problem dabei: Lernen ist ein Män-gelverb. Das sagt zweierlei. Lernen ist erstensein Verb, eine Tätigkeit, eine Aktivität. Wer
«
Man muss an sich arbeiten,
nicht an Arbeitsblättern.
»
lernt, tut. Was aber dieses Tun ist, dazu bedarfes ergänzender Verben. Das Verb lernen alleinsagt darüber noch überhaupt nichts aus. «Ichhabe keine Zeit, ich lerne gerade.» Was tutdiese Person, die das sagt? Schreiben? Be-schreiben? Abschreiben? Oder lesen? Einfachlesen? Und was passiert mit dem «Gelese-nen »? Die Liste solcher und ähnlicher Fra-gen liesse sich beliebig weiterführen. Das lässtdie Folgerung zu: Lernen ist ein äusserst kom-plexes Geschehen. Es entzieht sich zudem biszu einem gewissen Grad der bewussten Wahr-nehmung. Und damit der Steuerung. Diesesundurchsichtige Geschehen lässt sich deshalbauch nicht einfach auf ein Verb reduzieren.Eben: Lernen ist ein Mängelverb. Es bedarfergänzender Verben und Beschreibungen, umwenigstens annäherungsweise zum Ausdruckbringen zu können, was gemeint sein könnte.Das führt flugs zur Forderung: Schulen undKollegien müssen ihr Lernverständnis auf denTisch legen. Sie müssen klären und erklärenworüber sie sprechen, wenn von «lernen»die Rede ist – und das ist es ja sehr oft. Einsolches gemeinsames Lernverständnis be-schränkt sich nicht auf das Kollegium. Denndirekt betroffen sind davon die Lernenden.Sie müssen sich ein klares Bild davon machenkönnen, wie sie ihre Arbeit erfolgreich gestal-ten können. Und da reicht «Lernt ...!» beiWeitem nicht.
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2 WER ÜBER AUFGABEN NACHDENKT, MUSS ÜBER LERNEN NACHDENKEN
Erfahrungsweltbeeinflussen
Lernen ist ein Prozess, bei dem MenschenWissen, Können oder Fühlen zuwächst, überdas sie zuvor nicht verfügten. Im Verlaufedieses Prozesses machen sie Erfahrungen, ausdenen sie verändert hervorgehen. Diese füh-ren zu einer Veränderung des Verständnisho-rizonts und damit zu einer neuen Begegnungmit der Welt. Klar, wer weiss, dass Hobart dieHauptstadt von Tasmanien, Tasmanien nichtein Nachbarland der Schweiz, sondern eineInsel südlich von Australien ist, kann eine Be-ziehung herstellen, wenn bei der Ursprungs-deklaration grasgrüner Äpfel «Hobart» oder«Tasmanien» steht. Er begegnet damit derWelt ein kleines bisschen anders. Jedes Lernenführt also zu einer etwas anderen Begegnungmit der Welt. Und mit sich. Das ist beispiels-weise dann der Fall, wenn man Texte lesenund verstehen kann. Wer in der Zeitung liest,dass seine Kaffeemaschine explodieren kannund sich schon verschiedene Vorfälle zugetra-gen haben, wird seine Abscheu vor Linden-blüten oder anderen Teesorten zumindest fürden Moment überwinden. Oder eine neueKaffeemaschine kaufen. Oder die Probe aufsExempel machen. Er tut etwas anders, als er esvorher getan hat. Wer gemerkt hat, in welcherReihenfolge der Lehrer die Aufgaben abfragt,kann sich darauf vorbereiten, die Antwortbereitzuhalten, wenn er drankommt. Und werverstanden hat, wie sich das mit den Kommasbeim Infinitiv verhält, der wird den kleinenStrich am richtigen Ort zu Papier bringen.Menschen tun oder lassen die ganze Zeit et-was. Und all das, was sie tun oder lassen, führt
zu Erfahrungen mit sich selber und mit derWelt. Die einzelnen kleineren oder grösseren,häufigeren oder selteneren Erfahrungen ver-binden sich zu Erkenntnissen. Also beispiels-weise: Beschimpfe nur Leute, die kleiner oderlangsamer sind als du.
Die ganzen Erfahrungen und die damit ver-bundenen Konstruktionsprozesse werdenbeeinflusst von unterschiedlichsten Faktoren.Manche liegen im Menschen selber, mancheausserhalb.
Wer also auf das menschliche Lernen in ei-ner bestimmten Art und Weise einwirkenwill (und das ist ja eine zentrale Aufgabe derSchule), muss die Erfahrungswelt der Lernen-den beeinflussen.
Will heissen: Schulen müssen jene Erfah-rungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, diedas Lernen zu einer subjektiv bedeutsamenAngelegenheit machen. Dass es sich lohnt, inEngland links und nicht rechts zu fahren, istein lebensdienliches Beispiel für Bedeutsam-keit. Ein anderes: Wenn ein Schüler erlebt,wie er etwas kann, wie es sich anfühlt, kompe-tent zu sein, wenn man von anderen etwas ge-fragt wird. Lernen findet im Lernenden statt,nicht an ihm. So gesehen machen Menschennicht Erfahrungen, sondern die Erfahrungenmachen sie. Menschen sind das Produkt ihrerErfahrungen. Das gilt ohne Abstriche auchfür das schulische Lernen.
Menschen sind das Produkt ihrerErfahrungen:
Erfahrungen machen uns.
Je unterschiedlicher die Erfah-rungen, desto unterschiedlicher dieMenschen.
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Kompetenzengenerieren
Lernen, auf Nachhaltigkeit ausgerichtet, isteines nicht: Konsum. Lernen ist Produzieren.Entstehen lassen. Konstruieren. Erzeugen.Hervorbringen. Generieren. Etwas Neueswird mit vorhandenen Gefühls-, Denk- undWissensstrukturen in Beziehung gesetzt.Ausgangspunkt ist eine gewisse Irritation,
ein mehr oder weniger grosses gedanklichesFragezeichen. Ein solches Fragezeichen kannbeispielsweise sein, sich im italienischen Ris-torante zu vergewissern, ob «caldo» wirklich«kalt» heisst.
Mehr oder weniger bewussten gedanklichenFragezeichen kann man sich stellen. Odernicht. Wer das Nichtwissen oder Nichtkön-nen als Impuls annimmt, will von diesem un-befriedigenden Ist zu einem erwünschten Sollkommen. Damit einher geht ein Prozess derVerarbeitung mit dem Ziel, aus etwas Frem-dem etwas Eigenes zu machen.
Lernen beginnt mit einer Irritation, mit Nichtwissen, mit Nichtkönnen. Das ist die immer wiederneue Ausgangslage. Die Menschen gehen – auch in Abhängigkeit zum jeweiligen Kontext –sehr unterschiedlich mit dieser Situation um. Den einen ist es Wurst, sie sind nicht neugierig,sie haben keine Lust oder keine geeignete Strategie. Dann gehen sie bewusst oder unbewusstauf Distanz. Die anderen stellen sich der Situation – immer wieder neu.
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2 WER ÜBER AUFGABEN NACHDENKT, MUSS ÜBER LERNEN NACHDENKEN
Wissen hilft Wissen
Dabei geht es zum Beispiel um fachlicheKompetenzen. Je nach Schulart und Lehrper-son einer der Schlüsselbegriffe: Fachlichkeit.Dieser Anspruch kommt meistens von jenen,die in der Fächerhierarchie die prestigeträch-tigen Spitzenplätze belegen. Zwar kann kaumjemand erklären, was mit «Fachlichkeit»genau gemeint ist. Aber es klingt allemalwichtig und mahnt auf mehr oder wenigersubtile Weise zu angemessener Demut undEhrerbietung. Deshalb werden sie ja auchHauptfächer genannt. Allerdings: Je mehr so-genannte Fachlichkeit, desto weniger hat dasin der Regel mit dem Leben im Allgemeinenund jenem eines Jugendlichen im Speziellenzu tun. Latein, die späte Rache der Römer anden Germanen, ist ein Beispiel dafür. Jahr-zehntelang war kein vollwertiges Mitglied derBildungselite, wer nicht mindestens die la-
Je mehr PUTPUT (Verarbeitung),desto mehr OUTPUT.
teinischen Zitate bei Asterix und Obelix ver-stehen konnte, ohne in den Fussnoten nachder Übersetzung suchen zu müssen. Lateinwar bis vor nicht allzu langer Zeit der Inbe-griff für «Bildung», das kleine Latinum dieEintrittskarte zu höheren Weihen. Diese Artvon Fachlichkeit degenerierte gleichsam zumschulischen Selbstzweck. Latein verschwanddann zunehmend auf die Nebenbühnen derBedeutungslosigkeit. Doch eine Menge ähn-lich weltfremder Fach- und Themenbereicheziert nach wie vor die Lehrpläne und Prü-fungsverordnungen. Und sie bleibt dann auchdort, wo sie herkommt: in der Schule eben.Auf der anderen Seite ist klar: Menschenbrauchen Wissen, sie brauchen fachlicheKompetenzen. Und die häufig kolportierteAussage, man brauche kein Wissen mehr,man müsse nur wissen, wo suchen, ist natür-lich Nonsens. Denn um zu suchen (und vorallem um zu finden), muss man wissen. Wiewill man sonst wissen, was man sucht?
Im Prinzip stellen sich zwei Fragen, wenn esum die fachlichen Kompetenzen in der Schu-le geht: Welche? Und wie viel davon? Einfa-che Fragen eigentlich – aber sie zielen mittenins Herz der schulischen Bildung und all derpersönlichen Interessen, die sich damit inirgendeiner Weise verbinden. Was ist das, was
18
Lernende wissen und können sollen, damitsie nicht nur in der Schule, sondern vor allemdarüber hinaus in lebensdienlicher Weisegestaltungsfähig sind?
Die Ansichten dazu gehen diametral aus-einander. Lehrpläne geben vor, was gelehrtwerden soll, und ermuntern zum «Mut zurLücke». Forschungsergebnisse aus allenmöglichen Küchen, persönliches oder institu-tionelles Prestige, politisches Kalkül, verklärteErinnerungen an die eigene Schulzeit, Be-sitzstandsängste und viele andere mehr oder
weniger nachvollziehbare Gründe führenzu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Dieeinen fordern neue Schulfächer – Glück zumBeispiel. Oder Volksmusik. Oder Drogen-kunde. Oder vegane Ernährungslehre. OderDenkmalpflege. Die Liste der Wünsche undForderungen liesse sich beliebig verlängern.Diesen Ideen nach «mehr» – mehr Fächer,mehr Stoff – steht die Meinung gegenüber,dass es eben gerade nicht um «mehr» geht,sondern um «besser». Und in der Tat:Schulisch erworbenes Fachwissen weist häu-
Der Prozess der Selbstregulation gliedert sich ganz grob in drei Phasen: Wie, mit welchenVorerfahrungen und Einstellungen, gehe ich an die Sache heran? Was setze ich ein, umeine Leistung zu erbringen und aufrechtzuerhalten? Welche Folgerungen ziehe ich aus denProzessen und Ergebnissen?
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2 WER ÜBER AUFGABEN NACHDENKT, MUSS ÜBER LERNEN NACHDENKEN
fig die Halbwertszeit eines Schulweges auf.«Wie war’s heute Morgen in der Schule ?»