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Es geht um zwei Bemerkungen von Franz Rosenzweig, deren Essenz jeweils die Kapitelüberschrift bildet. Die eine betrifft Sigmund Freuds Psychoanalyse. Die andere betrifft sein eigenes Hauptwerk, den Stern der Erlösung. Im ersten Teil dieses Bandes (dem dritten Kapitel des Gesamtwerks) wird das Verhältnis von Psychoanalyse und der Cohen-Rosenzweig-Richtung des Denkens erläutert. Dabei zeigt sich am Verhältnis zur Psychoanalyse, inwiefern Rosenzweig tatsächlich näher an Cohens theoretischer Bewegung ist, als es oft den Anschein hat. Im zweiten Teil dieses Bandes (dem vierten Kapitel des Gesamtwerks) untersuche ich die Textform des Kommentars in ihrer etwas gründlicher und führe den eigenen Begriff der "selbständigen Anlehnung" ein.
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Seitenzahl: 95
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Konversionen und andere Gesinnungsstörungen
Zur bleibenden Relevanz des jüdischen Denkens nach Hermann Cohen und Franz Rosenzweig
Gesine Palmer
Band 2
„ Innere Umkehrung“ und Seelenlehre
Konversionen und andere Gesinnungsstörungen
Zur bleibenden Relevanz des jüdischen Denkens nach Hermann Cohen und Franz Rosenzweig
Gesine Palmer
Das im eigentlichen Vorwort und in der Einleitung konzipierte Buch soll und wird als ein ganzes erscheinen. Um aber denjenigen unter seinen potentiellen Leserinnen und Lesern schnell und günstig die Möglichkeit zu bieten, einzelne Kapitel zu erwerben, werden zunächst jeweils zwei Kapitel zu Einzelbänden zusammengefasst und im einfachsten Self-Publishing-Verfahren als E-Book und als Broschüre publiziert. Am Ende jedes Bandes gibt es ein Inhaltsverzeichnis des gesamten Manuskripts.
Berlin, im Oktober 2015, Gesine Palmer
Copyright: Gesine Palmer 2015
ISBN: 978-3-7375-7160-9
epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Im dritten und vierten Kapitel des Buches geht es um jeweils eine Bemerkung von Franz Rosenzweig, deren Essenz jeweils die Kapitelüberschrift bildet. Die eine betrifft Sigmund Freuds Psychoanalyse. Die andere betrifft sein eigenes Hauptwerk, den Stern der Erlösung.
Im ersten Teil dieses Bandes (dem dritten Kapitel des Gesamtwerks) wird das Verhältnis von Psychoanalyse und der Cohen-Rosenzweig-Richtung des Denkens erläutert. Dabei zeigt sich am Verhältnis zur Psychoanalyse, inwiefern Rosenzweig tatsächlich näher an Cohens theoretischer Bewegung ist, als es oft den Anschein hat.
Im zweiten Teil dieses Bandes (dem vierten Kapitel des Gesamtwerks) untersuche ich die Textform des Kommentars in ihrer etwas gründlicher und führe den eigenen Begriff der „selbständigen Anlehnung“ ein.
Es ist schwierig, sich in eine Zeit zurück zu versetzen, in der junge deutsch-jüdische Intellektuelle eben den Ersten Weltkrieg hinter sich hatten und nun lasen, was man eben lesen konnte. Aufschlussreich ist es freilich, einige Notizen der damals Jungen, Gershom Scholem und Franz Rosenzweig, über die eben Etablierten, Freud und Cohen nebeneinander zu halten. Der junge Scholem scheint in der Zeit, in der er gemeinsam mit Walter Benjamin Hermann Cohen las (über den beide nicht viel Gutes zu sagen wussten), für sich auch einige Arbeiten Freuds gelesen zu haben. In seinem Tagebuch schreibt er dazu: „Ich werde sehr bald aufhören. Man gerät im tiefsten Sinn sogleich in einen solchen Strudel von Identifikationen. Die Psychoanalyse ist eine grausige Sache: wenn man sie theoretisch widerlegt, ist es unfruchtbar, weil ihre Resultate doch wohl stimmen und man also einen besseren Unterbau suchen muss, und das wieder verbietet sich, weil alles eigentlich selbstverständlich ohne solche Umstände zu erreichen ist. Geschwätz machen die Leute zudem auch mehr als genug.“ Er nimmt dann einen Schlenker über Cantor und die mögliche Gleichsetzung von „Existieren und Definierbar-Sein“, der in einem allgemeinen Lamento über den Zustand der Mathematik ausläuft, um am Ende des Eintrags bei Cohen anzukommen, den er anscheinend jenen Leuten subsumiert, die „sich mit einem eigens erdachten ‚konstruktiven’ System“ beschäftigen, „über das sie dann eine Wissenschaft eröffnen wie das Schachspiel. Wo ist die Erzeugung der Hypothesis, Cohen?“ 2
In der für diese Intellektuellengeneration besonders wichtigen Frage nach der wirklichen Wirklichkeit schien jedes Systemdenken unter dem Anprall der schrecklichen Wirklichkeit zusammen zu fallen. Diese „Erfahrung“ – sicher eine ganz natürliche Folge der Erschütterung durch das sinnlose massenhafte Sterben in einem immer mehr als „Marterialschlacht“ erlebten Krieg, dessen „Überbau“ immer deutlicher als eine Ansammlung „hohle Phrasen“ erschien – tönt nicht nur aus den Bildern und der Musik jener Jahre, sondern eben auch aus der Literatur und der Philosophie, und noch deutlicher, wenn auch zuweilen täppischer, aus solchen privaten Notizen. Eine ähnliche Notiz vom 4. April 1922 fand sich in den Unterlagen von Franz Rosenzweig. Sein Resumee ist kürzer – und es hat mich immer sehr gewundert. Rosenzweig sagt: „Freud vermoralisiert die Psychologie.“
Ausgerechnet Freud, der ja tatsächlich nicht als Literat der Seele, sondern als ihr wissenschaftlicher Analytiker gelten wollte, ausgerechnet Freud, der die Ideale der Ethik und die neurotisierenden Folgen bestimmter Sexualmoralen so akribisch und, wie er glauben musste, „wertfrei“ analysiert hatte, sollte die Psychologie vermoralisieren?
Mich hat das nie losgelassen, denn man mag von Rosenzweig halten, was man will, aber er war ein genialer Kenner der Seelen und ein unfassbar guter Prognostiker im Weltmaßstab. So hinsichtlich der Auseinandersetzungen unseres Jahrtausends, so – wie mir scheint - auch hier.
Zu verstehen ist sein Satz aber vielleicht nur über einen Umweg. Im folgenden werde ich Jacob Taubes bemühen, um den Satz Franz Rosenzweigs über Sigmund Freud verständlicher zu machen. Dabei wird zugleich alles bisher schon über Cohen Gesagte noch einmal deutlicher werden. Ich glaube nämlich, man muss das von Hermann Cohen in der Ethik des reinen Willens einzigartig definierte Verhältnis von Denken und Wollen, von Ethik und Psychologie voraussetzen , um zu verstehen, was Rosenzweig an der Psychoanalyse befremdete.
Taubes, der als Kenner der genannten Autoren am Übergang von den Denkern der ersten Jahrhunderthälfte zu den postmodernen jüdischen Denkern der zweiten Jahrhunderthälfte schrieb, ist deswegen besonders hilfreich zum Verständnis dieser Schwierigkeiten, weil er zugleich den Übergang von christlich-jüdischer Auseinandersetzung im engeren Sinne zu einer breiteren philosophischen Paulusrezeption, wie sie am Beginn unseres Jahrhunderts schließlich vollzogen wird, wesentlich angestoßen hat.
Cohen hatte, wie oben schon referiert, in der Ethikdes reinen Willens eine eigentümliche neue Grundlegung der Geisteswissenschaften gefordert. Dabei hatte er es durchaus auf ein historisch-politisches Ziel abgesehen, wenn das auch notwendig sehr abstrakt bleiben musste, da es ihm auf die rationale Erfassung der Struktur der Möglichkeit von Veränderungen ankam, nicht auf den je aktuell geforderten Inhalt derselben. „Die Politik hat allezeit den ethischen Idealismus als ihre größte Gefahr betrachtet; und die Selbstgesetzgebung als einen Eingriff in ihre Kompetenz. Im letzten Grunde beruht darauf aller Widerwille der Positiven gegen das Naturrecht. Dagegen ist allerdings, wenngleich ohne prinzipielle Bewusstheit, alle Reform und alle bahnbrechende Revolution in der Religion, wie in der Politik, ethischer Idealismus. Die Hypothesis der Idee wird zur Hypothese des geschichtlichen Versuchs. Reformen und Revolutionen sind die Perioden der experimentellen Ethik. Daher treten die theoretischen Prinzipien in ihnen zurück. Dieser mangelhafte Idealismus hat jedoch seinen objektiven Grund hauptsächlich in dem falschen Begriffe der Natur. Wir beachteten dies schon für die psychologische Natur des Menschen. Es gilt aber für die Natur überhaupt. Die Heteronomie kann daher auch geradezu als der Götzendienst vor der Natur bezeichnet werden.“3
Im letzten Satz aus diesem Zitat ist vermutlich das entscheidende Motiv für Cohens Umorientierung der Geisteswissenschaften zu finden. Niemals wäre es ihm beigefallen, diese zu „Orientierungswissenschaften“ verkommen zu lassen. Die Ethik als eine Randerscheinung der eigentlich wissenschaftlichen Wissenschaften zu sehen, sozusagen als die kleine moralische Makkulatur der möglichen Selbstbeschränkung des menschlichen Forscherdrangs, wie es uns heute selbstverständlich geworden zu sein scheint, wäre ihm ein Grauen gewesen. Und in einem solchen Sklavendienst wollte er auch die Geisteswissenschaften insgesamt keineswegs sehen. Dass er im soeben voll erblühenden Zeitalter einer mathematisierten Naturwissenschaft und einer fortschreitenden Technisierung der Gesellschaft Mühe haben würde, ihr einen anderen Ort zu erobern, war ihm vollkommen klar. Seine eigene Empfänglichkeit für die sichere Akkuratesse der Mathematik muss als Hintergrund der folgenden berühmten Formulierung immer mitgedacht werden:
„ Die Ethik läßt sich als die Logik der Geisteswissenschaften betrachten. Sie hat die Begriffe des Individuums, der Allheit, sowie des Willens und der Handlung zu ihrem Problem. Alle Philosophie ist auf das Faktum von Wissenschaften angewiesen. Diese Anweisung auf das Faktum der Wissenschaften gilt uns als das Ewige in Kants System. Das Analogon zur Mathematik bildet die Rechtswissenschaft. Sie darf als die Mathematik der Geisteswissenschaften, und vornehmlich für die Ethik als ihre Mathematik bezeichnet werden.“4
Nimmt man das ernst, würde freilich unser Verständnis von Psychologie – und zwar sowohl vom philosophischen Begriff derselben wie vom alltagssprachlichen und wissenschaftstheoretischen – völlig umgedreht.
Zunächst sieht es fast harmlos aus: Sofern das Sittengesetz betroffen ist, wird man noch einige Zustimmung zu Cohens Formel vom Menschen, der sein Gesetz in seinem Sollen habe, finden. Natürlich gibt es immer irgendetwas, das wir moralisch gut finden, das wir als angemessenes Verhalten empfinden, von dem wir zu wissen scheinen, dass wir es sollen oder unbedingt nicht sollen. Inhaltlich mag verschieden definiert sein, was im einzelnen gesollt wird, aber darüber, dass formal immer irgendetwas gesollt wird, werden wir doch schnell einig. Und wir können beschreibend feststellen, dass sogar wenn wir uns von bestimmten etablierten Vorschriften zu lösen versuchen, irgendein Sollen unserem Handeln noch das Gesetz vorschreibt.
Der Gegensatz zwischen Cohens und Freuds Verständnis von Psychologie besteht nun aber darin, dass für Freud diese Sollenssätze , nach denen wir unser Ich zwischen dem Diktat der Triebziele und dem Diktat der Über-Ich-Forderungen verbiegen, selbst einer beschreibenden Analyse mit historischer Dimension unterzogen werden können – und sollen. Dabei denkt er, wie Taubes richtig erkennt, zeitweilig (insbesondere bei der Beschreibung des analytischen Prozesses) in hegelianischen Begriffen, nach denen die „ Wahrheit als progressive Enthüllung […] sich durch die Kommunikation eines Selbstbewußtseins mit einem anderen Selbstbewußtsein vollzieht .“5
Für Cohen hingegen können die Begriffe, mit denen wir die Beobachtungen an Menschen unter Gesetze bringen, wie schon gesagt wurde, selbst nur aus dem Gebiet der praktischen Vernunft kommen, wenn nicht der Begriff der Freiheit für die wissenschaftlich belastbare und theoretisch konsistente Rede vom Menschen verlorengehen soll. Das gilt bei Cohen zuerst für den Begriff des Selbstbewusstseins selbst. Dieses ist ihm nicht das Bewusstsein eines etwa schon bestehenden Selbst, sondern ein Bewusstsein zum Selbst: Das Selbst, noch einmal, ist der Zielpunkt des Denkens und des Wollens, nicht sein Ausgangspunkt, wie Cohen Seite um Seite einschärft. Dieser Logik folgt dann auch die Rationalität der Begriffe von der Seele. Wo diese Richtung verlassen und alles vom empirischen Ursprung her erklärt wird, bliebe das Denken des Menschen in einer beschreibenden Kreisbewegung der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ stecken. Taubes erkennt ebendiese im Denken Freuds und sieht sie als Kennzeichen von Freuds Konservatismus.6
Freud fragt dementsprechend hinsichtlich der Freiheit nicht, ob sie sein soll, sondern ob es sie überhaupt gibt und in welcher Form. Als ein Konstrukt menschlichen Geistes und menschlichen Wünschens kann sie in einer nach den Begriffen der theoretischen Vernunft durchgeführten Analyse als eine Chimäre erwiesen werden. Das geschieht auch immer wieder. Der freie Wille wird auf alle möglichen Weisen als reine Wunschvorstellung „entlarvt“, der in Wahrheit und Wirklichkeit nichts entspreche. In diesem Geiste verabschieden nicht nur die psychoanalytisch orientierte Psychologie, sondern ebenso die Hirnforschung und die kritische Soziologie heute tendenziell den freien Willen in die Irrealität der Wunschvorstellungen. Das hat natürlich Auswirkungen auf alles, was wir über die Freiheit in der Gestaltung von und in der Entscheidung über unsere(n) menschlichen Beziehungen denken, ob das nun die zwischenmenschlichen Beziehungen von der Liebesbeziehung bis zur Arbeitsbeziehung oder das schlichte geregelte Mit- und Nebeneinander in Staat und Gesellschaft betrifft.