Konversionen und andere Gesinnungsstörungen Band V - Gesine Palmer - E-Book

Konversionen und andere Gesinnungsstörungen Band V E-Book

Gesine Palmer

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Beschreibung

Der fünfte Band beginnt mit einer konsequenten Anwendung des Theorems von der inneren Umkehrung auf die Apologetik (im neunten Kapitel): Rosenzweig verteidigt in seiner Schrift "apologetisches Denken" das Verteidigen selbst – und greift jeden Anspruch auf letztes Erkennen subtil an. Mit diesen strategischen Überlegungen ist man vorbereitet auf das zehnte Kapitel, in dem die Beziehung seiner "Anti-Konversion" zu den Theorien der postmodernen Paulus-Interpreten (die Rosenzweig gern zitieren) diskutiert wird

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Konversionen und andere Gesinnungsstörungen

Zur bleibenden Relevanz des jüdischen Denkens nach Hermann Cohen und Franz Rosenzweig

Gesine Palmer

Band 5

Angriff und Verteidigung:

Vorwort zur Ausgabe in Einzelbänden

Das im eigentlichen Vorwort und in der Einleitung (Bd. I) konzipierte Buch soll und wird als ein ganzes erscheinen. Um aber denjenigen unter seinen potentiellen Leserinnen und Lesern schnell und günstig die Möglichkeit zu bieten, einzelne Kapitel zu erwerben, werden zunächst jeweils zwei Kapitel zu Einzelbänden zusammengefasst und im einfachsten Self-Publishing-Verfahren als E-Book und als Broschüre publiziert. Am Ende jedes Bandes gibt es ein Inhaltsverzeichnis des gesamten Manuskripts.

Impressum:

Copyright: Gesine Palmer 2015 Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Ausgabe in Einzelbänden.................................. 2

Impressum:.................................................................................... 2

Vorwort zum fünften Band......................................................... 4

Kapitel 9 "Letztes Erkennen richtet". Eine anti-apologetische Kehre in Rosenzweigs Schrift über apologetisches Denken?................................................................................................ 5

I.   „Ein Erkenntnis“..................................................................... 5

II.   Ein seltsames Paradox.................................................... 10

III. Die Personifizierung des Erkannten.......................... 16

IV....dient der Rettung der wirklichen "Personen" und geistigen Bewegungen vor richtender Erkenntnis            18

Kapitel 10  Rosenzweigs Antikonversion und die neuen Pauliner – revolutionäre Treue zum Gesetz      26

I.    „Wir würden es jederzeit wieder tun“ – eine klare Ansage     26

II.    „Den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit“ – eine raffinierte Entwendung              33

III.    Das sei ferne!.................................................................... 43

IV.    Sprachschulen und interdisziplinäre Paulusexegese             48

V.    Leben und Werk von Jacob Taubes als Anstoß... 53

VI.    Alain Badiou..................................................................... 55

VII. Rosenzweigs Verrat........................................................ 70

VIII. Agambens Spekulationen um Reste und Bleibendes               78

IX. Ein Gesetz, das bleibt........................................................ 89

X.   Eine Umkehr ins Exil?.................................................... 102

Gesamtinhaltsverzeichnis.................................................. 111

Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Ausgabe in Einzelbänden
Impressum:
Vorwort zum fünften Band
Kapitel 9 "Letztes Erkennen richtet". Eine anti-apologetische Kehre in Rosenzweigs Schrift über apologetisches Denken?
I. „Ein Erkenntnis“
II. Ein seltsames Paradox
III. Die Personifizierung des Erkannten...
IV....dient der Rettung der wirklichen "Personen" und geistigen Bewegungen vor richtender Erkenntnis
Kapitel 10 Rosenzweigs Antikonversion und die neuen Pauliner – revolutionäre Treue zum Gesetz[33]
I. „Wir würden es jederzeit wieder tun“ – eine klare Ansage
II. „Den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit“ – eine raffinierte Entwendung
III. Das sei ferne!
IV. Sprachschulen und interdisziplinäre Paulusexegese
V. Leben und Werk von Jacob Taubes als Anstoß
VI. Alain Badiou
VII. Rosenzweigs Verrat
VIII. Agambens Spekulationen um Reste und Bleibendes
IX. Ein Gesetz, das bleibt
X. Eine Umkehr ins Exil?
Gesamtinhaltsverzeichnis

Vorwort zum fünften Band

Der fünfte Band beginnt mit einer konsequenten Anwendung des Theorems von der inneren Umkehrung auf die Apologetik (im neunten Kapitel): Rosenzweig verteidigt in seiner Schrift „apologetisches Denken“ das Verteidigen selbst – und greift jeden Anspruch auf letztes Erkennen subtil an. Mit diesen strategischen Überlegungen ist man vorbereitet auf das zehnte Kapitel, in dem die Beziehung seiner „Anti-Konversion“ zu den Theorien der postmodernen Paulus-Interpreten (die Rosenzweig gern zitieren) diskutiert wird.

Kapitel 9 "Letztes Erkennen richtet". Eine anti-apologetische Kehre in Rosenzweigs Schrift über apologetisches Denken?[1]

I.   „Ein Erkenntnis“

Auch dieses Kapitel beginne ich mit einem Bruchstück aus Soma Morgensterns Werk. Diesmal geht es aber um die Kehrseite jener schrecklichen Vision S. Morgenroths. Morgenstern war, wie schon erwähnt, für eine Zeit völlig unfähig gewesen, irgendetwas zu schreiben, nachdem er vom Ausmaß der Shoah Kenntnis erhalten hatte. Erst nachdem er in Israel gewesen und dort mit Abraham Joshua Heschel gesprochen hatte, fühlte er sich wieder in der Lage, einen Schluss, einen vierten Band, einen Epilog zu seiner Trilogie Funken im Abgrund zu schreiben - einen Epilog,  in dem er auf die Verbrechen, die dem lebendigen Leben der ukrainischen Juden ein schreckliches Ende bereiteten, in ganz eigener Weise Bezug nahm. Die üppige Erzähllust, die Leser der Trilogie in ihren Bann zieht, ist hier einem völlig anderen Ductus gewichen – ein Umstand, über den Morgenstern in seinem „Motivenbericht zu diesem Buch“ Rechenschaft ablegt.[2] Das 1955 erschienene Werk Die Blutsäule ist nicht nur sehr viel schmaler als die drei Bände der Trilogie – sein Ton ist feierlich, schwer und mythisch. Ich habe es mit wechselnden Gefühlen gelesen und etwas gründlicher in einem Text besprochen, den ich mit „negative Sakrifikologie“ überschrieben habe. Das war meinerseits in apologetischer Absicht geschehen. Denn Die Blutsäule ist ein Werk, in dem die Shoah als ein Opfer gerechtfertigt erscheinen könnte, das zum Ende des Exils und zum Beginn der Erlösung beigetragen habe. Gegen diese in ihm angelegte Versuchung habe ich das Werk bereits im Titel, der vollständig lautet: „Das Opfer wiederherstellen in Zeiten der Not? Soma Morgensterns Blutsäule als negative Sakrifikologie“ verteidigen wollen. [3] Vielleicht gegen es selbst – dann aber mithilfe aller diesem geistigen Irrweg entgegenstehenden Elemente, die ich in ihm finden konnte.

Wieder kann ich, wenn ich sehe, dass ich vor acht Jahren ein Zitat aus Morgensterns Werk dem Essay über Rosenzweigs Text zum apologetischen Denken vorausgeschickt habe, nicht davon absehen, in welcher historischen Situation ich meine Texte überarbeite und neu herausbringe. Sich überhaupt mit Apologetik zu beschäftigen, erscheint mir in der gegenwärtigen Lage fast naiv. Und was aus dem Ende des Exils und dem „Anfang der Erlösung“, als den Morgenstern den jüdischen Staat ansah, geworden sein könnte, habe ich ja schon gesagt: Etwas wie ein europäischer Staat im Exil.[4] Es ist freilich ein Staat entstanden, der sich in seiner weit mehr als apologetischen Wehrhaftigkeit und mit der Tatsache, dass er als Staat Regionen kontrolliert, die unter dieser Kontrolle nur wütendere Bevölkerungen hervorbringen, in einer für das jüdische Volk seit vielen Jahrhunderten völlig unbekannten Situation befindet. In dieser Situation mühen sich die Bürger und Repräsentanten des jüdischen Staates immer wieder neu um politische, religiöse oder nichtreligiöse, kulturelle und moralische Selbstdefinitionen. Die Intensität dieser Veränderung kann vielleicht durch eine nicht völlig fernliegende Parallele verdeutlicht werden: Man stelle sich vor, die kurdischen Kämpferinnen, deren Formierung manche westliche Beobachterin mit großer Sympathie begleitet, weil endlich Frauen in einer Weltregion, in der sie sehr wenige eigene Rechte haben, die Waffen in die Hand nehmen und eigene Kampfeinheiten bilden, siegen plötzlich. Man stelle sich vor, sie erlangen Macht über eine Region, in der schroff patriarchalische Stämme leben und übernehmen in ihren Heimatregionen etwas wie eine Autoritätsfunktion. Einige von ihnen etablieren – immer weiter in der fiktiven Parallele – mit internationaler Unterstützung ein eigenes kleines Gemeinwesen, das prosperiert und sich gegen Übergriffe der hasserfüllten Nachbarn mit immer neuen Gebietsgewinnen durchsetzt. Gleichzeitig wollen diese neuerdings mächtigen Frauenorganisationen immer weiter als die eigentlichen Opfer der Geschichte angesehen werden: Man wird es ihnen nicht lange erlauben.

Natürlich ist diese Konstruktion lächerlich, nicht nur, weil das erotische Verlangen von Frauen und Männern nacheinander bei aller Vielfalt seiner Erscheinungsformen und Verschiebungen dann doch etwas fester in der menschlichen Gefühlslage verwurzelt ist als es das Verlangen von irgendwelchen verschiedenen Religionen nacheinander jemals sein könnte. Dennoch kann man sich anhand des Beispiels vielleicht klar machen, welche Folgeschwierigkeiten der Übergang von einem Status jahrhundertelanger Unterdrückung in eine mindestens regionale Vormachtstellung auch dann mit sich bringt, wenn er vergleichsweise kontrolliert und besonnen (nämlich keineswegs so gewaltsam wie viele andere postkoloniale Revolutionen in anderen Teilen der Welt) vor sich geht. Ich habe das Beispiel erwogen, weil wir längst viel zu sehr daran gewöhnt sind, in den Israelis ein „Tätervolk“ zu sehen, über dessen Taten wir uns empören. In bewaffneten kurdischen Frauen den Charme der „befreiten Sklavin“ zu entdecken, fällt uns heute üblicherweise etwas leichter. Die Mühen der Selbstermächtigung und der unglaubliche Mut, den sie erfordern, werden an ihnen besonders deutlich. Es ist immer ein Todesmut dabei.[5] Ein solcher Mut ist auch heute noch (und wieder) erforderlich, wo immer jüdische Menschen als jüdische Menschen gefährdet sind und sich nicht mit einer gedrückten oder bloß apologetischen Position zufrieden geben wollen.

In diesem Kapitel geht es nun also um das Verhältnis von verteidigendem Denken und „letztem Erkennen“. Soviel mir bekannt ist, deutet nichts auch nur ansatzweise darauf hin, dass Rosenzweig in einer seiner prophetischen Stimmungen die Entstehung eines derartig kraftvollen jüdischen Staates vorhergesehen hätte, und auch Soma Morgenstern, der immerhin die Niederschlagung des arabischen Angriffs auf den frisch gegründeten Staat im Unabhängigkeitskrieg als ferner Zeitzeuge erlebte, wird sich eine Situation wie die heutige nicht ausgemalt haben.[6]

Beider Schriften haben dennoch zur heutigen Situation etwas zu sagen. An Rosenzweigs Schrift „Apologetisches Denken“ kann man besonders deutlich ablesen, wie selbstbewusst Rosenzweig auf seinem Gebiet, der Philosophie, das Projekt der jüdischen Selbstermächtigung ernst genommen hat. Die „allgemeine“ Philosophie wollte er tatsächlich „erobern“. Nicht so sehr, um sie zu „besetzen“, sondern um einen eigenen jüdischen Zugang zum Ganzen der Erkenntnistheorie zu legen – also nicht nur einen, der dem jüdischen Denken „auch ein Recht“, einen Nischenplatz zugestanden hätte, sofern es von seiner Jüdischkeit absah. Er hatte es freilich auch nicht darauf abgesehen, dem Jüdischen, sofern es ein Rest war, der am jüdischen Denker hängen bleiben durfte, wenn der sich im übrigen zu den Höhen des allgemeinen Denkens aufschwang, mit mehr oder weniger erfolgreicher Apologetik zu mehr oder weniger Legitimität zu verhelfen. Genau das aber war (und ist zumeist) die Bedeutung von Apologetik in aller, auch in der christlichen apologetischen Literatur: sie entsteht da, wo man als Philosoph nach der Aufklärung ernstgenommen zu werden wünscht, obwohl man auch noch Christ (oder Moslem oder sonst ein religiöser Mensch) bleibt. Rosenzweig wollte die Verlierer-Aura zuerst aus dem Denken der Juden verjagen. Das tat er, indem er nun in seiner Schrift „Apologetisches Denken“ – entstanden, als er selbst schon ein schwer kranker Mann war – einerseits das apologetische Schrifttum kritisch verteidigte, indem er andererseits am Beispiel des jüdischen Denkens für das unverfügt und unverfügbar „Resthafte“ eines jeden denkenden Menschen ein Recht im Zentrum der allgemeinsten und höchsten Philosophie erschrieb oder, wie man heute vielleicht lieber liest, dem Zentrum der Philosophie einen Platz „einschrieb“ für den „Rest“, also für alles, was sich nicht subsumieren lässt und nicht in der Philosophie aufgeht oder „aufgehoben“ werden kann. Er endet seinen Text mit dem Satz, dessen zweite Hälfte ich in ihrer Schroffheit als Kapitelüberschrift zitiere: „Denn letztes Erkennen verteidigt nicht mehr, letztes Erkennen richtet.“ Wie sehr er damit zeigt, dass er im Grunde auf Cohens methodologischer Linie geblieben ist, würde sich dann gerade daran zeigen, dass das „letzte Erkennen“ als ein „Richten“ bezeichnet wird? Möglich ist das.[7]

Morgenstern hat dann in der Blutsäule – bewusst oder unbewusst – ganz ähnlich geschrieben. Nicht nur hat er von einer eigentümlichen Wendung des Deutschen Gebrauch gemacht, nach der das Gerichtsurteil auch „ein Erkenntnis“ ist.[8] Er hat darüberhinaus ein „Erkenntnisinteresse“ formuliert, das die Wissensfrage mit der Wollensfrage verbindet und entsprechend nicht (wie Kant) zuerst fragt „was können wir wissen?“, sondern „was wollen wir wissen?“ Und er beantwortet sie in der Schrift Die Blutsäule, die ganz und gar als eine Gerichtserzählung über die Shoah aufgebaut ist, mit verzweifelt prophetisch-säkularen Worten:

"Wir wissen: Das Diesseits wird frei werden vom Übel. Und wenn das nicht wahr ist, wollen wir weiter nichts wissen, denn es gäbe sonst nichts, was des Wissens noch wert wäre."[9]

Eine derartig absolute Forderung ist in ihrer Zeit verständlich – und liest sich heute, nach dem gewaltigen Scheitern der ganz großen utopischen Entwürfe des zwanzigsten Jahrhunderts, eher so, als würde damit der Schrecken heraufbeschworen, vor dem diese Aussage sich gerade schützen will. Trotz der thematischen Parallelen, sofern es um das Verhältnis von Richten und Erkennen geht – kommt Rosenzweigs Text über das apologetische Denken, der vor der Shoah geschrieben wurde, insgesamt sehr viel weniger apodiktisch, zunächst sogar ganz und gar „angelehnt“ daher: wie das bei Kommentaren eben so ist.[10]

II.   Ein seltsames Paradox

In seinen kleineren Schriften hat Franz Rosenzweig besonders in den Jahren seiner Krankheit die Kunst des Kommentierens zu einer bei jeder Neulektüre wieder begeisternden Größe entwickelt. Gerade in seinen Rezensionen umrahmt er eigene apodiktische Sätze so kunstvoll mit spielerischer Leichtigkeit, dass alle seine kommentierenden Texten in ihrer eigenwilligen Stärke den äußerlich meist klein wirkenden Anlass weit überstrahlen. Im Schlussabsatz von "Apologetisches Denken" fasst Rosenzweig seine Doppelrezension (darum handelt es sich eigentlich) von Max Brods Heidentum, Christentum, Judentum von 1921 und Leo Baecks Das Wesen des Judentums, 2. Aufl. von 1921, noch einmal zusammen. Er bringt das Verhältnis von äußerem Anlass und innerster Wahrhaftigkeit der Antwort auf den Begriff – und schafft damit etwas wie ein Manifest der philosophischen Notwendigkeit der inneren Einheit und wechselseitigen Verwiesenheit der verschiedenen Menschen. Dabei vergisst er keinen Augenblick, dass er hier über zwei konkrete Bücher schreibt, die in seinen allgemeinen Überlegungen nicht verschwinden sollen, so wenig, wie die einzelnen Menschen, für die er philosophierend „die Allgemeinheit vollzieht“, wie Cohen das ausgedrückt haben würde:

„Sie sind beide Antworten auf Angriffe. Vom Angriff her haben sie sich ihr Thema bestimmen lassen. Das Thema ist das eigene Wesen. Man könnte denken, dass es nun zu höchster Bewusstheit käme. Aber eben der apologetische Charakter verhindert das. Indem der Denker in sein Innerstes hineinschaut, sieht er zwar dies Innerste, aber deshalb noch lange nicht – sich selbst. Denn er selbst ist nicht sein Innerstes, sondern ebenso sehr auch sein Äußerstes und vor allem das Band, das sein Innerstes an sein Äußerstes bindet, die Straße, auf der beide wechselseitig miteinander verkehren. Er aber setzt sein Innerstes ohne weiteres mit seinem Selbst gleich und ahnt nicht, dass sein Innerstes, je mehr es innerst ist, jedes Menschen Innerstes ist. So spricht er, obwohl er sich selbst meint, vom Menschen, von allen. Und so bleibt sein Selbst, die Bindung der Elemente der Menschen zu dem Gebinde, das er selber ist, ihm ein Geheimnis. Diese Schranke überschreitet apologetisches Denken nicht. Die letzte Kraft des Erkennens ist ihm versagt, wie das letzte Leiden des Erkennens ihm erspart bleibt. Denn letztes Erkennen verteidigt nicht mehr, letztes Erkennen richtet.“[11]

Es möchte scheinen, als wären diese Sätze am Ende doch noch eine Abfertigung der Apologetik, die Rosenzweig zuvor mit brillant verdichteten Formulierungen zu verteidigen unternahm. Und doch lässt ein Blick auf den Schlusssatz des zweiten Teils des vortrefflich gegliederten Ganzen ganz das Gegenteil vermuten: Hier schreibt er über Brods Buch, dass es „gerade da, wo es in die Tiefe steigt, einen Herzpunkt erreicht, an den die Titelfrage mit ihren Gegensätzen schon nicht mehr hinfolgen kann und wo das, was er im Namen seines, unseres Judentums spricht, nur noch im letzten Sinne wahr ist, in keinem vorletzten mehr.“[12]

Genial an diesem Widerspruch ist, dass er die Leserschaft wirklich in ein Paradox verwickelt, das nur der sehr oberflächlichen Lektüre entgehen kann – also derjenigen Lektüre, die stets übersieht, wo mit dem Gesagten ein Ungesagtes regiert, welches, ob man es nun „Subtext“ nennt oder ganz einfach nach dem bekannten Verfahren einer im weiteren Sinne dialektische Lektüre im Aufspüren und Aussprechen ungesagter Voraussetzungen im Gesagten erkennt, einfach zum Text gehört.

Den Schlusssätzen von Rosenzweig könnten professionelle Schreiber und Leser leicht etwas zu viel Bedeutung beimessen: Wir halten es oft für ausgemacht, dass ein Autor am Ende seines Textes zu dem Schluss kommt, von dem aus wir alles früher Gesagte verstehen können und müssen. Meist schreiben wir unsere Schlussabsätze in einer entsprechenden Annahme. Aber gehen wir wirklich immer so stringent von A über B nach C? Rosenzweigs Stern hat sein „Herzbuch“ bekanntermaßen nach eigener Auskunft in der Mitte – und ich könnte etliche Texte nennen, in denen die entscheidende Botschaft im „Innersten“ steht. Mit beiden Annahmen, der, dass das Entscheidende im Innersten, also in der Mitte ist, ebenso wie mit der Annahme, dass das Ergebnis am Ende präsentiert wird und von da aus über die Geltung aller anderen Passagen entscheidet, treibt Rosenzweig hier ein raffiniertes Spiel. An der zitierten Stelle aus dem zweiten Kapitel ist immerhin gesagt, dass im Innersten die letzte Wahrheit enthalten sei – aber dann ist das im Namen des Judentums Gesprochene „nur noch im letzten Sinne wahr, in keinem vorletzten mehr“. Es ist also nicht mehr jüdisch, sondern allgemein? So dass also der eigentlich wahre Sinn, auf den es im Schreiben über das Judentum anzukommen hätte, gerade der vorletzte wäre? Dem scheint wiederum der Schluss das Ganzen zu widersprechen, in dem über das apologetische Denken überhaupt gesagt wird, dass ihm das letzte Erkennen versagt bleibe. Wie ist das nun wieder zu erklären?

Zunächst möchte ich in meiner eigenen Auslegung das Changieren zwischen letzter Erkenntnis und vorletzter Wahrheit, zwischen Entscheidung-im-Schlusssatz und Leben-im-„Herzsatz“ offen, lebendig und in Geltung. Das muss mich keineswegs daran hindern, eine Hypothese zum Verständnis dieser Konstruktion zu formulieren: Rosenzweig, der sich hier oberflächlich als Kenner des letzten Erkennens aufspielt, weiß nach allem, was wir von ihm kennen, ganz genau, dass er das aus einem philosophisch, aus einem gerade durch seine eigene Philosophie völlig ungedeckten Raum heraus tut. Mit der Behauptung, letztes Erkennen zu kennen, setzt sich Rosenzweig in einen klaren Gegensatz zu seiner Philosophie. Niemand weiß das besser als er. Und er hat das, was als letztes Erkennen galt, gefürchtet wie einen bösen Geist – aber welcher philosophische Name würde diesem Geist passen? Der des Idealismus, der des Christentums, der der Autorität überhaupt?  Vielleicht hat er ihn selbst als etwas empfunden, dessen Konturen man ahnt, das man aber nicht in den Griff nehmen kann, ohne daran zugrunde zu gehen. Üblicherweise bekämpfte er die Anmaßungen derer, die ihn unter Berufung auf ihre je eigenen Autoritäten daran hindern wollten, zu bleiben, was er war, mit Philosophie. Wo er nicht kämpfte, fürchtete er die Macht derer, die ihn erschüttern wollten, offenbar weit mehr, als die, von denen er sich gern erschüttern ließ. Außer der für Rosenzweig zeitlebens als Gegner präsenten Gestalt der idealistischen Philosophie waren im konkreten vor allem die seine Gegner, die sich als Christen, anders als er, und anders als sein geliebter Hermann Cohen, ohne skeptischen Vorbehalt und dialektische Brechungen wirklich autorisiert fühlten, von einem durch sie selbst irrtümlich und anmaßlich für „letztes Erkennen“ gehaltenen „Vorletzten“ aus über ihn, den Liebhaber des Vorletzten und Fürchter des Letzten, zu richten. Die Absolutheit, die Rosenzweig, da er sie bewusst entwendet hat, immer spielerisch anzieht wie ein schlecht sitzendes Kleid, sitzt denen, die sie „ohne innere Umkehrung“ eigentlich aus der hebräischen, also seiner eigenen Tradition, genommen haben, an wie eine mit der Haut verwachsene Rüstung. Wer bewusst eine richtende Sprache spricht oder doch auf sie referiert, hat immer auch eine Verhandlung im Kopf: mit Anklage, Verteidigung und Richter. Wer sich hingegen qua Geburt oder kraft seiner Religion zum Weltenrichter berufen fühlt und nie in das Säurebad des Zweifels, des existentiellen Angezweifeltseins durch andere, geworfen wurde (oder entsprechende Erfahrungen erfolgreich verdrängt), spricht oft richtend, ohne es auch nur zu bemerken.

Ein Beispiel für solch unbedachtes, symbolisch schon einmal mordendes Richten zitiert Heinzjörg Görtz in seinem Beitrag zur Rosenzweig-Konferenz in Kassel (2004) aus einem unpublizierten Brief von Rudolf Ehrenberg: „Du bist eben wirklich schon so jenseits, dass Du nicht erwarten kannst, dass Dir ‚aus dieser Erden Freuden noch quellen können’. Aber Du würdest ja auch nicht tauschen, Du bist ‚Mund’ gewesen und hast über die Jahrhunderte hin gesprochen, […] ja, es ist eben Prophetie“.[13] Damit lässt Ehrenberg sich mit der dem Mehrheitschristentum seiner Zeit völlig selbstverständlichen Geste hören, die das Judentum immer schon für klinisch tot erklärt – und wendet sie konkret auf den nicht zum Christentum konvertierten Cousin. Selbst zum Christentum konvertiert, scheint Ehrenberg den Lohn für seinen Übertritt einzutreiben und das Selbstgefühl der Zugehörigkeit zur Mehrheitsreligion ähnlich voll auszukosten wie Rosenstock an anderen, bereits zitierten Stellen. Das ist mehr als „deutscher Idealismus“, das ist eine Missionswut, gegen die Rosenzweig mit wachsender Verzweiflung anschrieb. Und seine Verzweiflung wird immer dann besonders schwer gewesen sein, wenn es den Gegnern wie hier gelang, ihre missgünstigen Todeswünsche, wie sie kleinere Geister für die größeren wohl jederzeit mehr oder weniger unbewusst bereit halten, mindestens knapp in ein Lob zu kleiden. Das Beispiel lohnt näheres Hinsehen: Ehrenberg schreibt, als könne er selbst aus einem Jenseits urteilen – in das er dann aber, wo es konkret jenseitig und unirdisch werden soll, doch lieber den schickt, dem er sein jenseitiges Urteil ausrichtet. Er maßt sich verblendet an, über letztes Erkennen zu verfügen, und meint zugleich, sich selbst schlau vor seinen Konsequenzen drücken zu können. Der größere Geist hingegen fürchtet aufrichtig die Endgültigkeit letzten Erkennens und Richtens – und bringt deswegen den Mut auf, das vorletzte Erkennen gegen das letzte zu verteidigen. Nicht der verschmockte Kleingeist, der die „Ewigkeit“ gegen die „Freuden des Irdischen“ in Stellung bringt und diese als Opfer und Preis für den Ewigkeitswert der geistigen Arbeit darzubringen verlangt, hat hier die „höhere“ Stufe auf einer von diesen unsäglichen Motivationsleitern, die eine ideologisierte „Entwicklungspsychologie“ sich auch heute noch munter leistet, erklommen. Reifer und weiser und „größer“ ist vielmehr der Geist, der es nicht nötig hat, die irdischen Freuden zu erniedrigen, um die Freuden darüber hinausweisender Erkenntnis würdigen zu können.[14]