Unser aller Psychose - Gesine Palmer - E-Book

Unser aller Psychose E-Book

Gesine Palmer

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Beschreibung

In unterschiedlicher Weise setzten Freud und Reich ihre Begriffe individueller Psychosen von denen der kollektiven Wahnkrankheiten ab. Das Büchlein konfrontiert die wissenschaftlichen oder auch nur scheinwissenschaftlichen Gründe psychoanalytischer Nosologien mit den Einsichten der etwa zeitgleich entstandenen deutsch-jüdischen Dialogphilosophie und dem, was die neuere 'postmoderne' Philosophie daraus macht. Auf die Kritik der 'Als-ob-Persönlichkeit' im sogenannten Borderline-Syndrom antwortet die Kritik der 'Als-ob-Philosophie' und der 'Als-ob-Beziehung' in der wilden Psychoanalyse.

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Impressum:

Unser aller Psychose

Gesine Palmer

Copyright: 2014©Gesine Palmer

ISBN 978-3-8442-8614-4

Published at epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Inhaltsverzeichnis:

I.Ungewöhnlich intensive Krankheitseinsicht

II. Die philosophische Karriere der „Borderline-Störung“

III. Das gespaltene Denken in der Philosophie und in der Psychoanalyse

IV.Das Verhältnis von kollektiven und individuellen Psychosen

V.Verwerfungen – zwischen kritischem Denken und „staatstragender“ Psychologie heute

VI.Beziehungswunder - therapeutisch, als-ob, wirklich – und das Recht

VII. Konsequenzen für den Begriff der Psychose und das Konstrukt der Borderline-Störung

VII. Reinheit als Gefährdung

IX. Ein kleines Bekenntnis zum Schluss

I. Ungewöhnlich intensive Krankheitseinsicht

Einmal war ich bei einer Kollegin, mit der ich nur oberflächlich befreundet zu sein glaubte, zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Das Geburtstagskind, eine hochbegabte Intellektuelle, die ich immer sehr bewundert habe, litt unter einer schweren Krebserkrankung und hatte, da sie fürchtete, dass es ihr letztes derartiges Fest sein würde, sehr viele Gäste eingeladen. Selbstverständlich waren unter den Gästen auch ihre beiden Schwestern. Die Gastgeberin, von den drei Schwestern die älteste, war mit ihrer Schönheit auf jenem unwirklich erscheinenden Höhepunkt angekommen, den man manchmal an Menschen sieht, die dem Tode tatsächlich sehr nahe sind und entsprechend den herabziehenden Banalitäten der anderen weit entrückt erscheinen. Ihre jüngste Schwester war von einer Schönheit wie ich sie auch von der älteren aus der Zeit unserer ersten Begegnungen in Erinnerung hatte: Irdisch, elegant, bodenständig, gepflegt, gekonnt inszeniert. Die mittlere Schwester hingegen hatte ihre mögliche Schönheit tendenziell durchgestrichen und arbeitete anscheinend daran, auch andere Wirklichkeiten und Möglichkeiten durchzustreichen, indem sie sich zum Beispiel vorstellte mit dem Satz: „Ich bin … und habe eine Psychose.“ Dabei sah sie mir in aller wünschenswerten Festigkeit und ein bisschen forschend in die Augen.

Das hat mich verblüfft. Bis dahin hatte ich gedacht, dass man zwar über Neurosen, Komplexe und Zwangsstörungen recht munter plaudern könne, möglicherweise auch über einstmals überstandene Psychosen – aber dass jemand dir ins Gesicht sagt: „Ichhabeeine Psychose“, fand ich erst geradezu lustig, dann, als ich merkte, sie meinte es ernst und die anderen nahmen es auch ernst, geradezu mundtot machend erstaunlich.

Ich habe also nicht viel dazu gesagt, sondern haupt-sächlich zugehört, ihr und den anderen, und das lange. Immerhin war es ja möglich, dass ich etwas verwechselte – zwar steht im Lexikon von Laplanche und Pontalis ebenso wie in vielen anderen Manualen, dass in der Psychose der Realitätsverlust zuallererst die „Krankheitseinsicht“ affiziere. Die von ihr Betroffenen wissen also quasi bereitsper definitionemnicht, dass sie krank sind, oder wollen es nicht wahrhaben. Es ist immer noch eine erstaunlich kleine Minderheit von Menschen, die Anstoß daran nimmt, dass „die fehlende Krankheitseinsicht“ zu einem Hebel für die Zwangsbehandlung von Menschen werden kann, denen man in manchen Fällen womöglich nicht einmal sagt, was man warum mit ihnen macht, „da mit ihnen ja sowieso nicht zu reden sei“. So etwas habe ich leider wirklich sehr oft gehört und später – auf verschiedenen Parties und in den sozialen Medien – recht lebhafte Diskussionen über gerade diesen Punkt geführt, der mit der Idee der Freiheit der Individuen nun einmal auf keine Weise vereinbar ist. Immerhin ist die „fehlende Krankheitseinsicht“ in den meisten Arbeiten zum Thema, die ich gesehen habe, kein ausschließliches und auch kein zwingend erforderliches Kriterium für eine Psychose, so wenig übrigens wie „andauernder Realitätsverlust“. Im Gegenteil, Freud selbst schreibt der gesunden Restpersönlichkeit die stärkste Kontinuität zu, wenn er sagt: „Das Problem der Psychose wäre einfach und durchsichtig, wenn die Ablösung des Ichs von der Realität restlos durchführbar wäre. Aber das scheint nur selten, vielleicht niemals vorzukommen. Selbst von Zuständen, die sich von der Wirklichkeit der Außenwelt so weit entfernt haben wie der einer halluzinatorischen Verworrenheit (Amentia), erfährt man durch die Mitteilung der Kranken nach ihrer Genesung, dass damals in einem Winkel ihrer Seele, wie sie sich ausdrücken, eine normale Person sich verborgen hielt, die den Krankheitsspuk wie ein unbeteiligter Beobachter an sich vorüberziehen ließ.“1

Nimmt man aber das Kriterium des Realitätsverlusts mit „fehlender Krankheitseinsicht“ alseinerKonsequenz ernst, müsste jemand, der dir ins Gesicht sagt, er leide unter einer Psychose, einen performativen Selbstwiderspruch aufführen. Die Gründe, aus denen er das täte, könnten sicher unterschiedlich sein: er könnte ein-fach einen Scherz machen wollen, er könnte Wind davon bekommen haben, dass er in einem solchen Ruf steht, und nun die vage Hoffnung hegen, diesen selben Wind der sozial immer katastrophalen Wirkung einer solchen Zuschreibung aus den Segeln zu nehmen, indem er ihr zuvor kommt, oder – wie ich es in diesem Fall für möglich halten wollte – die junge Frau hatte den (mehr oder weniger bewussten) Wunsch, der unwirklich wirkenden Wirklichkeit ihrer schönen und „todgeweihten“ Schwester eine eigene widersprüchliche Haltung zur Wirklichkeit entgegenzusetzen. In jedem Fall aber darf man sich nach so einer Selbstvorstellung auf einiges gefasst machen.

Die Gastgeberin sprach zu vorgerückter Stunde, als der große Andrang vorbei war und nur noch sehr wenige Menschen an ihrem Küchentisch saßen, in aller Gelassenheit vom wohl unvermeidbar bevorstehenden, aber so weit wie möglich hinauszuschiebenden Tod und von dem Leben, das sie ihm täglich abtrotzte: für ihre Tochter, für ihre Arbeit, für sich selbst. Die nach eigenen Aussagen psychotische Schwester blieb am Tisch sitzen und nahm – ebenfalls in aller Gelassenheit – an dem Gespräch teil, zu dem sie gelegentliche Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit der Schwestern, ein paar praktische Erwägungen die kleine Tochter der Kranken betreffend und andere vollständig plausible Gedanken beitrug. Umso mehr fragte ich mich, was an ihr um Himmels willen psychotisch sein sollte, und wieso sie sich mir gleich zu Beginn mit dieser Klassifizierung und Selbststigmatisierung vorgestellt hatte. Immerhin hatte sie nicht einmal gesagt, was ich in diesen (philosophisch hochgebildeten) Kreisen eher erwartet hätte: dass sie eine Borderline-Störung oder dergleichen habe.

II: Die philosophische Karriere der „Borderline-Störung“

Die Borderline-Störung ist ja sehr beliebt bei Philosophen, weil sie anscheinend eine der letzten Möglichkeiten ist, das Sein von etwas Unsichtbarem zu behaupten und mit einer gewissen Absolutheit zu vertreten, die dann auch an bestimmten Opfern zur für andere nachvollziehbaren Erscheinung und – im Falle nicht gelieferter Krankheitseinsicht – zur Vollstreckung kommen kann. Man hält die Existenz oder die „Wirklichkeit“ dieser Störung für so gesichert, dass man sie ohne weitere skeptische Erwägungen aufführt, um die „sozialdemokratische Theorie vom Ideal eines unendlichen Fortschritts“2über das Problem der „Als-Ob-Lehre“ mit dem Beispiel des absolut misslingenden Lebens zu widerlegen: „In der Zwischenzeit ist dasAls-obin der Psychiatrie zu einer nosologischen Figur geworden, die äußerst verbreitet ist, fast ein Massenphänomen: Man nennt all jene FälleAls-ob-Persönlichkeiten – sie heißen auchborderline–, die man weder der Psychose noch der Neurose deutlich zuordnen kann und deren Übel sozusagen darin besteht, überhaupt kein Übel zu haben. Sie leben,als obsie normal wären – als ob das Reich der Normalität existieren würde, als gäbe es überhaupt ‚kein Problem’ (so lautet die törichte Formel, die sie bei jeder Gelegenheit zu wiederholen gelernt haben) –, und gerade dies stellt den Ursprung ihres Unbehagens dar, ihr ganz besonderes Gefühl von Leere.“3

Von diesem Satz ausgehend möchte ich das Problem des Begriffs der Psychose noch einmal aufrollen.4Dabei ziele ich direkt auf die begrifflichen Voraussetzungen der Missbrauchbarkeit des Begriffs zur Unterwerfung der von seiner Zuschreibung Betroffenen unter Maßnahmen, deren erste und/ oder letzte die Auflösung der Handlungsfähigkeit innerhalb einer mehr oder weniger bürgerlichen Gesellschaft westlichen Stils ist. In vielen – keinesfalls nur aus der Realität autoritärer Staaten bekannten – derartigen Fällen treten an die Stelle der Selbstbestimmung Expertengutachten und -meinungen über einen zum Gegenstand solcher Begutachtungen reduzierten Menschen. Ist jemand einmal in eine solche Mühle geraten, umgeben sich auch die Meinungen Fernstehender regelmäßig an bestimmten Stellen mit dem Sicherheitsgestus von „Faktenwissen“. Wer – als selbst Hilfe Suchender oder als „wegen fehlender Krankheitseinsicht“ der Begutachtung und Behandlung unfreiwillig Unterstellter – unter den Begriff „Psychotiker“ gebracht worden ist, kann allenfalls dann auf „Rehabilitation“ hoffen, wenn er eine frühere Zeit des „Realitätsverlusts“ (in Wahrheit oft nur: der aufrecht-erhaltenen Nichtübereinstimmung seiner Wirklichkeitswahrnehmung mit derjenigen der Mehrheit der anderen) eingesteht und sich als neuerdings „realitätstüchtiger“ erweist, indem er schon mal eine „Krankheitseinsicht“ formuliert.5Von dieser Art könnte die Situation der mittleren der drei Schwestern auf der genannten Party gewesen sein.