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Das erste (siebte) Kapitel behandelt Rosenzweigs Islamkritik: Lässt sie sich auf das Problem mit dem politischen Islam unserer Tage verwenden? Das zweite (achte) Kapitel wendet Cohens Kategorie auf eine modische psychologische Strömung kritisch an. Bert Hellingers Familienaufstellung wird in einigen Aspekten des Versöhnungskitsches überführt - Jessica Benjamins Verarbeitung der Lehre von der wechselseitigen Anerkennung für die Psychoanalyse wird als ein Beispiel für angewandte Dialog-Methodik gewürdigt.
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Seitenzahl: 244
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Konversionen und andere Gesinnungsstörungen
Zur bleibenden Relevanz des jüdischen Denkens nach Hermann Cohen und Franz Rosenzweig
Gesine Palmer
Band 4
Anwendungsfragen:
Das im eigentlichen Vorwort und in der Einleitung (Bd. I) konzipierte Buch soll und wird als ein ganzes erscheinen. Um aber denjenigen unter seinen potentiellen Leserinnen und Lesern schnell und günstig die Möglichkeit zu bieten, einzelne Kapitel zu erwerben, werden zunächst jeweils zwei Kapitel zu Einzelbänden zusammengefasst und im einfachsten Self-Publishing-Verfahren als E-Book und als Broschüre publiziert. Am Ende jedes Bandes gibt es ein Inhaltsverzeichnis des gesamten Manuskripts.
Impressum:
Copyright: Gesine Palmer 2015
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-73
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Ausgabe in Einzelbänden2
Impressum:2
Vorwort zum vierten Band4
Kapitel 7 Rosenzweig und der Islam5
I. Kann man „den Islam“ verkennen?6
II. Der Islam als „erste Religion“22
III. Der antithetisch funktionalisierte Islam im Stern der Erlösung36
IV. Kann man „den Islam“ kritisieren?64
Kapitel 8 Versöhnungs- oder Dialogkitsch. Eine Abgrenzung85
I. Soma Morgenstern und Joseph Roth87
I.Die Enttäuschung der Staatsgründung95
III. Versöhnungskitsch als Traum von heilen Seelen – Bert Hellingers Theorie der unbedingten Zustimmung107
IV.
Die in den ersten drei Bänden dieser Vorabveröffentlichung behandelten Probleme werden im vorliegenden vierten Band auf ihre Stichhaltigkeit und Verwendbarkeit an sehr konkreten Gegenwartsproblemen überprüft. Das siebte Kapitel widmet sich noch einmal der Frage, wie sich Rosenzweigs Kritik am Islam zu den gegenwärtigen Verhältnissen in Beziehung setzen lässt. Dabei wird einerseits berücksichtigt, welche Rolle „der Islam“ in Rosenzweigs philosophischem System spielt. Andererseits wird nicht vernachlässigt, dass im Namen des Islam fortschreitend Verbrechen verübt werden, die manchem eine Verwerfung der islamischen Religion insgesamt nahelegen. Hier wird ein sehr kritischer Dialog mit Wayne Cristaudo realisiert.
Das achte Kapitel prüft Cohens Theorie des Dialogs und der Normativität an einer zeitgenössischen Psychologie der Versöhnung. Während Bert Hellingers Lehre von der totalen Versöhnung dem Verdikt des „Versöhnungskitsches“ überantwortet wird, werden erwachsene Formen der Psychoanalyse mit Cohens Lehre von der gegenseitigen Verwiesenheit der Menschen aufeinander positiv verknüpft.
Seit dem Erscheinen des Buches Franz Rosenzweig. „Innerlich bleibt die Welt eine“. Ausgewählte Schriften zum Islamim Jahr 2003 bin ich öfter eingeladen worden, zu diesem Thema zu sprechen. Zum Teil mit der ausdrücklichen Aufforderung zu betonen, wie sehr Rosenzweig diese Weltreligion verkannt habe. Zum Teil in der Erwartung, aus Rosenzweigs Werk Argumente für einen Kampf gegen den Islam abzuleiten. Ich habe mich jedes Mal darum bemüht, meine Interpretation so gut wie möglich und gegebenenfalls an diesen Erwartungen vorbei zu leisten. Wer Rosenzweig für eine Seite der gegenwärtigen Kämpfe vereinnahmt, geht nicht nur an der Genauigkeit und am Selbstbewusstsein Rosenzweigs vorbei, sondern tut auch der aktuellen Debatte keinen Gefallen. Das Abstraktionsniveau Rosenzweigs ist hoch – und die Fragen von Subjekt und Objekt, von Gegenstand und Methode, sind für seine Gesamtperspektive wichtiger als moralische oder psychologische Analysen an einer bestimmten Religion. Freilich ist seine Perspektive durchaus eine, die von den realen Rivalitäten zwischen den Religionsgemeinschaften nicht absieht.
Für dieses Kapitel habe ich drei früher veröffentlichte Texte gründlich überarbeitet und in der Folge hier neu arrangiert: Ich beginne mit der einfachsten Darstellung anlässlich der großen Rosenzweig-Konferenz 2004 in Kassel,1 ergänze um einige Ausführungen, die ich in meiner Einleitung zum erwähnten Textband zum Islam2 erarbeitet und für dieses Buch neu gesichtet habe, und mache abschließend Anmerkungen zu einer Auseinandersetzung, die ich mit Wayne Cristaudo im 2. Rosenzweig-Jahrbuch über diese Texte geführt habe.3 Es versteht sich von selbst, dass ich gerade bei diesem Thema vom anschwellenden Lärm der gegenwärtigen Propaganda-Kriege kaum werde absehen können: und doch ebendies immer wieder von mir und den möglichen Leserinnen und Lesern verlangen möchte.
Wer behauptet, Rosenzweig habe den Islam verkannt, muss zu wissen glauben, was der Islam eigentlich ist und wie er erkannt werden könne. Dergleichen wollte ich mir schon nicht anmaßen, als ich die Einladung zu einem Vortrag unter dem Titel „Der verkannte Islam“ annahm. Ich wollte den Titel mit einem Fragezeichen versehen – aber das klappte damals aus einladungstechnischen Gründen nicht mehr. So habe ich die Gelegenheit, die nun zehn Jahre zurückliegt, genutzt, vor allem sehr vieles zu fragen. Der scheinbar konfessionalistische „Ich-Stil“ insbesondere dieses Unterkapitels ist beabsichtigt. Ich halte nichts davon, Entscheidungen, die wir zumeist vor rationalen Erwägungen aus sehr persönlichen Gründen treffen, mit einem pseudo-objektiven Mäntelchen zu behängen. In der Frage der interreligiösen und interkulturellen Auseinandersetzungen, die sich gegenwärtig kriegerisch verschärfen, ist wohl niemand mehr objektiv. In so einer Lage halte ich es für besser, Objektivität dann auch nicht mehr zu fingieren, sondern sich lieber mit dem zu bescheiden, was man dennoch tun kann: die Gründe für die eigenen Präferenzen als solche reflektieren.
Die Informationsbasis, auf der wir normalerweise als durchschnittlich gebildete Mitteleuropäer unsere Entscheidungen darüber treffen, wie wir „den Islam“ finden, ist in aller Regel eher schmal:
Wir wissen und lesen täglich in den Zeitungen, dass es Menschen gibt, die ihren einzigen Gott Allah nennen, die Richtung Mekka beten wie früher die Christen in Richtung Jerusalem, die Moscheen bauen und diese zu Gottesdienstzwecken vor allem an Freitagen aufsuchen, die im Monat Ramadan tagsüber fasten und nachts essen, die ein heiliges Buch, den Koran, haben, der in Suren eingeteilt ist, die teilweise beim Aschurafest etwas treiben, was den mittelalterlichen Flagellantenzügen Mitteleuropas recht ähnlich sieht, und dass es unter diesen verschiedene „Denominationen“, nämlich Schiiten, Sunniten, Alawiten, Whahabiten, Salafisten und mehr gibt. Meist können wir auch noch erkennen, dass es unter Muslimen hierzulande und vermutlich auch andernorts sowohl friedliche Kleinbürger als auch rabiate Terroristen und vieles mehr gibt. Manchmal wissen wir außerdem, dass Spanien, solange es noch muslimisch war, eine kulturelle Blütezeit erlebte, dass es bedeutende arabische Philosophen im Mittelalter gegeben hat, dass Muslime nicht nur sehr unterschiedliche Rechte und Pflichten für Männer und Frauen haben, sondern außerdem einen Unterschied machen zwischen Schriftbesitzern und barbarischen Heiden, dass sie die Christen für nicht wirklich monotheistisch halten, weil die ja eine Trinität denken, und dass die Christen am Islam lange das gleiche zu bemängeln hatten wie an den Juden, dass er nämlich eine gesetzliche und ritualistische Religion sei. „Schlechte“ Menschen bauen aus diesen Elementen ein „Feindbild“ des finsteren „fundamentalistischen“ Islam, der uns alle, vor allem aber „unsere westliche Kultur“, bedroht, und „gute“ Menschen warnen nicht nur vor einem anschwellenden Bocksgesang des den anderen dämonisierenden Antiislamismus, sondern bemühen sich auch sehr redlich, die guten Tugenden dieser Religion oder Kultur in den Vordergrund zu stellen. Manche von diesen haben auch da noch Verständnis, wo es im Grunde keine Basis für eine Zustimmung geben kann – jedenfalls kaum für eine westlich aufgewachsene Frau (egal welcher Herkunft), die sich klar darüber ist, dass ein eigener Pass und eine gute Ausbildung Voraussetzung ihrer Bewegungsfreiheit und noch so manch anderen Vorteils sind, auf die viele Frauen weltweit nicht nur unter der Herrschaft von „Islamisten“, sondern in formal mehr oder weniger demokratischen Ländern unter der Regierung muslimischer Klans und Verbände verzichten müssen.
Kann ich mir auf so einer oder einer ähnlichen Basis erlauben, Verbindliches über den Islam zu sagen? Nein. Ich bin nicht nur keine Expertin, ich will es nicht einmal sein. Auch eine „Methode“ in dem Sinne, in dem Cohen und Rosenzweig das Jüdische methodisieren, könnte mir der Islam unter diesen Voraussetzungen der bleibenden Fremdheit natürlich nicht werden. Wirklich formativer Teil der eigenen Perspektive und Urteilsbildung wird nur, was mir „eingewachsen“ ist – oder was ich mir so stark und intensiv angeeignet habe, dass es weiter geht, als dies ein „Gedankenspiel“ mit der Möglichkeit der fremden Perspektive tun könnte. Da unsere Lebenszeit begrenzt ist, eignen wir uns in der Regel nicht nach „Proporz“ oder „Angemessenheit“ Kenntnisse an, sondern auch, weil wir zufällig zu einem bestimmten Zeitpunkt unseres Lebens mit einer Sache in Berührung gekommen und dann bei ihr geblieben sind. Wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir uns aber immerhin vorstellen, dass es auch anders hätte kommen können. Solche Gedankenspiele sind immer gut, wenn man etwas verstehen will. Ob Psychologe, General, Hebamme, Predigerin, Arzt oder Polizist, es muss sich jeder auch in die Position des Patienten, Klienten oder Gegners hineinversetzen können, um eine angemessene Antwort auf ein gestelltes Problem zu finden – aber die Antwortselbst, sofern sie wiederum eine „methodische“ wäre, kann nur der Position entspringen, die als eine bleibende eigene (ererbt oder erworben oder beides) empfunden werden und entsprechend das Denken leiten kann. Was nun den Islam angeht, so bin ich vermutlich in einer Position, die der Rosenzweigs nicht völlig fernsteht. Ich kann mich ihm ehrlich zuwenden, wo er mein Interesse reizt oder mir entgegen kommt. Da er aber in der Gestalt des Islamismus gegenwärtig unendliche und einem an der rechtlichen Gleichstellung der Menschen – auch der von Frauen und Männern – orientierten Denken unerträgliche Forderungen stellt, da in seinem Namen ganze Landstriche verwüstet werden, erscheint eine Würdigung besonders schwierig.
Umso wichtiger ist es natürlich, neben den vollständig natürlichen Abwehrreaktionen gegen die Überflutung mit Bildern und Nachrichten aus entsetzlich maltraitierten Konfliktzonen4, auch die nicht ganz so natürlichen Gründe zu untersuchen, aus denen mancher sich mit dem Islam nicht so gern beschäftigt. Da kommt bei mir, wenn ich den üblichen Selbstbetrug der einen oder anderen Richtung mal beiseite lasse, schon einiges zusammen, was vermutlich auf eine Ideologisierung durch eine bestimmte Lesart von Rosenzweigs Werk eher nicht zurückzuführen ist. Zunächst ist mir diese Religion einfach fremd – und obwohl ich immer eher neugierig auf Fremdes bin, finde ich hier, bei aller Sympathie für viele Muslime, die ich persönlich kennenlernen durfte, nicht viel attraktiv von dem, was ich über ihn als Religion weiß. Erzählt man mir, dass der Aufklärungsheld Voltaire gemeinsam mit manchen englischen Deisten einige Sympathie für den Islam entwickelt hat, dann ist mir zuallererst die Begründung für diese Vorliebe unangenehm. Der Islam, so wird von einem Deisten an den anderen weiter gereicht, erlege seinen Anhängern eine Last auf, die nicht schwerer sei als sie tragen könnten.5 Diese Begründung hört man auch heute wieder. Aber wie sollte ich, eine freie – oder doch wenigstens frei denkende – Frau, ihr etwas abgewinnen? Betreffen diese Erleichterungen nicht ausschließlich Männer, während für Frauen alles noch schwerer wird als es ohnehin überall war, und allemal wesentlich schwerer als für uns westliche Frauen? Und ist nicht – ferner, und abstrakter – im Vermessen der Effekte und Gewichte von Religionen aus einer vermeintlich aufgeklärten Perspektive immer schon ein Element von Unehrlichkeit?
Was nun Voltaire und die übrigen „Deisten“ angeht, so fällt dieses Element der vermessenden Unehrlichkeit nur umso unangenehmer auf, wenn man in Rechnung stellt, wie polemisch diese selben Aufklärungsheroen sich gegen das Judentum gewandt haben (das für sie eben für alle unmäßig Schwere einzustehen hatte und übrigens in der Tat hinsichtlich der Position der Frauen den Männern ein bisschen mehr abverlangt als der Islam und auch als das Christentum in seinen früheren Formen).6 Hegels Antipathien gegenüber dem Islam liegen mir näher – und müssen doch allein im Lichte seiner bereits erwähnten Äußerungen über den „Geist des Judentums“ mit Skepsis betrachtet werden. Wo immer ich hinschauen mag: Nach Lektüren und Recherchen erwische ich mich mit Schrecken immer wieder bei einer Haltung, die mir inkonsequent erscheint. Während ich jenen laizistischen Ausspruch des Comte de Clermont-Tonnerre in der französischen Nationalversammlung, „den Juden als Einzelnen alles, dem Judentum als Nation nichts“, immer noch sehr problematisch bis unmöglich finde, nehme ich dem Islam und den Muslimen hierzulande gegenüber tendenziell just so eine Haltung ein wie er: Ich wünschte, man würde dem Islam – sofern von ihm als einem einheitlichen Gebilde die Rede sein kann – nicht schmeicheln und ihn stark begrenzen, sich aber den einzelnen hier lebenden Muslimen gegenüber freundlich verhalten. Ich gehe dabei – offenbar kontrafaktisch – davon aus, dass jeder Mensch, gleich welcher Herkunft und welchen Glaubens, in dem Augenblick, in dem er selbst im Genuss der Bürgerrechte freier Gesellschaften leben kann, deren Prinzip anziehend finden und würdigen wird. Und sicher darf man ohne stark an der Wirklichkeit vorbei zu gucken, davon ausgehen, dass Menschen, die diese Rechte entbehren müssen, sie für sich selbst und die ihnen Nahestehenden allezeit wünschen. Der Unterschied zwischen meiner Haltung zum Islam und der des Comte de Clermont-Tonnerre zum Judentum liegt nun in einem wesentlichen Detail: Während der Comte dem Judentum prinzipiell das Recht auf institutionellen Respekt und partikulare Traditionspflege versagen wollte, und dies wohl mehr aus Hass und Vorurteil denn aus tieferer Kenntnis der fraglichen Traditionen, würde es mir völlig genügen, sich aller Schmeichelei zu enthalten, die Menschen dazu verführen kann, partikulare Traditionen im Konfliktfall höher zu stellen als die elementaren Rechte der Individuen beider Geschlechter.
Ich nenne diese Haltung nicht Laxheit, Torheit oder Rechtsstaatsvergessenheit, sondern Schmeichelei, weil dieses Wort einen Aspekt zum Ausdruck bringt, um dessen Wahrnehmung wir uns gerade als Deutsche nur allzu gern herumdrücken: den der Unterwürfigkeit gegenüber Personen und Autoritäten, die sich nach Auftritt und Selbstverständnis Autorität anmaßen und mit lautstarker Empörungsbereitschaft agieren und agitieren. Wer solchen Gruppierungen, woher immer sie stammen mögen, in falsch verstandener Offenheit mit einer Art einseitiger Anerkennung begegnet und sehenden Auges darauf verzichtet, auch von ihnen Offenheit und Anerkennung einzufordern, riskiert die Offenheit selbst – und ich unterstelle, dass genau dies in falsch verstandenen Anläufen zum Dialog mit dem Islam in der westlichen Welt gegenwärtig immer wieder geschieht.
Als Freundin der offenen Gesellschaft und als Bürgerin, die das Erbe der Skepsis gegenüber Autoritäten höher schätzt als das anschwellende Gerede von unbedingter Hingabe, sehe ich mich mit meiner Skepsis gegenüber den frauenfeindlichen und judenfeindlichen Tendenzen in großen Teilen der islamischen Bevölkerung meines Landes schnell in die Ecke der „Islamophoben“ und „Dialogverweigerer“ und „Abschotter“ gedrängt. Dabei ist mir Fremdenfeindlichkeit sicher genauso widerlich wie Anbiederung an „exotische“ Kulturen, die oft von ihren eigenen „Insassen“ eher als bedrückend empfunden werden. Kann aber die skrupulöse Selbstbefragung hinsichtlich der eigenen emotionalen Impulse und die Vermeidung allgemeiner Behauptungen über „den Islam“ genügen, um nicht in die Fallen einer allzu unappetitlichen Voreingenommenheit zu tappen und tatsächlich etwas wie ein „schlechter Mensch“ zu werden, was ja niemand wollen kann?
Vor einem imaginären Gerichtshof, der die Gesinnungsreinheit prüfte, würde ich vermutlich damit nicht durchkommen. Diesem ist aber immer schon entgegen zu halten, dass es solche reinen Gesinnungen nirgends geben dürfte. Und dass sinnvoller als seine Konzepte, die stets auf Verwerfung oder Korrektur von oben nach unten angelegt sind, vielleicht doch Cohens Feststellungen zum dialogischen Denken eine bessere Grundlage für die Auseinandersetzungen mit Angehörigen anderer Religionen bieten. Die erste Voraussetzung für die Ansprache auf Augenhöhe ist eben nicht Unterwerfung unter den Geltungsanspruch des anderen, sondern eine Vertraglichkeit, die darauf beruht, dass es keine Ansprache ohne Anspruch geben könne – ohne den Anspruch nämlich, dass der andere mir dieselben Rechte und Anerkennungen gewährleistet, die er von mir erwartet.7 Man hat sich angewöhnt, diesen Aspekt zugunsten einer etwas gefühligen Rede und einer merkwürdigen Leidenschaft für die Vergabe emotionaler Zeugnisse für „Einstellungen“ zu vernachlässigen. Die moralische Besetzung emotionaler Haltungen wie „Offenheit“, „Dialogbereitschaft“, „Versöhnlichkeit“ oder eben auch „Eifer“, „Hass“ usw., ist aber bestenfalls lächerlich, und schlimmstenfalls demagogisch, wenn sie vor lauter Obsession mit der Verinnerlichung moralischer „Werte“ vergisst, dass diese zuerst in der äußeren Welt, im – noch immer in gesetzlicher und normativer Sprache auszuhandelnden – Verhalten der Menschen zueinander gegründet sein müssen. Solange Frieden herrscht, ist es gut, Gefühle zuzulassen, ihnen Raum zu geben und sich mit sich selbst oder anderen darüber zu verständigen, welche man kultivieren, welche man hingegen in sich eher bearbeiten, eventuell bekämpfen will. Und tatsächlich treibt jeder Versuch, die „Gesinnungsstörungen“ oder „falschen Gefühle“ an anderen zu kurieren und zu maßregeln, eher zum Konflikt als zum Frieden. Darum gilt: Wenn der Friede in Gefahr oder schon gestört ist, geht es nicht ohne erhebliche Ausnüchterungsanstrengungen. Zu diesen trägt eine pathetisch vorgetragene Kampagne „gegen den Hass“ weniger als nichts bei.
Abgesehen von diesen Erwägungen gehört es längst zur opinio communis der Religionswissenschaften, dass es nicht den Islam gibt, so wenig wie das Judentum oder das Christentum. Zugleich können wir alle nicht auf diese Begriffe verzichten und müssen uns immer wieder darauf verlassen, dass ihr Gebrauch in vielen Kontexten sinnvoll ist, auch wenn jeder weiß, wie viele einander widerstreitende Positionen sich unter jedem einzelnen derartigen Namen versammeln. Unter diesem Aspekt allerdings schiene Franz Rosenzweig selbst sowohl das Christentum als auch das Judentum als auch den Islam zu verpassen, spricht er doch von allen dreien durchgängig in einer sehr generalisierenden – und, wie Yossef Schwartz in seinem Nachwort zur Textausgabe gezeigt hat, in Spruch und Widerspruch sehr an Hegel orientierten – Weise.8 Unter diesen Umständen kann ich kaum behaupten, dass Rosenzweig nur den Islam verkannt hat, jedenfalls nicht einfach nur deswegen, weil er ihn zu „allgemein“ genommen hätte. Wiederum ist es müßig, ihm umständlich nachzuweisen, was er selbst umstandslos eingeräumt hat: dass seine Quellenbasis sehr schmal und nicht repräsentativ ist. Wollen wir deswegen, was er getan hat, verkennen nennen? Dann müssten wir auch sagen, er habe Judentum und Christentum verkannt. Das aber will von denen, die ihm nachsagen, er habe den Islam verkannt, kaum jemand.
Versuchen wir es mit der Gegenfrage: Wie würde man denn eine ganze Religion oder Kultur, wie würde man denn den Islam erkennen? Im Alltag der interreligiösen und politischen Debatten begegnen unterschiedliche Möglichkeiten: Man kann als „Experte“ ihn nach seinen historischen Quellen („allen“ oder einer wie auch immer autorisierten Auswahl der „wichtigsten“) umfassend zu beschreiben versuchen als ein komplexes religiöses Gebilde, man kann Bevölkerungsstatistiken aufstellen über die Zahlen derjenigen, die sich zum Islam bekennen, indem sie sich Muslime nennen, man kann ihn als Chiffre für „mittelalterliches“ Verhalten zu den bürgerlich-säkularen Freiheitsideen benutzen und dann Amerika nicht nur in den Bevölkerungssegmenten, die schwarz und männlich sind und scharenweise konvertieren, als ein sich allmählich islamisierendes Gemeinwesen bezeichnen. Das erste machen Religionshistoriker, das zweite machen Religionssoziologen, das dritte machen Ideologen und evtl. auch Ideologiekritiker. Jeder kommt zu etwas, das man als Erkenntnis bezeichnen kann, wenn man unter Erkenntnis vorläufig und etwas oberflächlich versteht, dass man auf logisch nachvollziehbare Weise Begriffe und Phänomene zusammenbringt.
Und Verkennen? Der vereinfachenden Logik des bisher gegebenen Begriffs würde es entsprechen zu sagen, dass den Islam nur verkannt hat, wer offensichtlich die Quellen falsch liest oder schwere Fehler macht bei der Bevölkerungsstatistik oder dergleichen: wer etwa behauptete, alle Muslime würden die Beschneidung ablehnen, oder das Wort Islam bedeute den Glauben an Jesus Christus. Aber auch in der seriösen wissenschaftlichen Beschäftigung mit einer so komplexen Größe wie einer Religion sind die Grenzen zwischen Spezialisierung, Ungenauigkeit und wirklich massiven Fehlinterpretationen fließend: wer nur diesen oder nur jenen Aspekt betont, wer etwa die sufistische Mystik allein oder den kriegerischen Islamismus allein betrachtet, vernachlässigt zwangsläufig einen anderen und gerät in die Gefahr, das Ganze zu verkennen. Wer den Islam nur statistisch zu erfassen versucht, vernachlässigt vermutlich den systematischen Anspruch der in verschiedenen Texten ausgefalteten Lehre. Wer die Lehren zu erfassen versucht (und unter ihnen seine jeweilige Lieblingslehre), vernachlässigt möglicherweise die sozio-politischen Umstände, unter denen bestimmte Lehren massenwirksam und andere in den Hintergrund geschoben wurden, und wer den Islam zur chiffre für alle antidemokratischen Idiotismen macht, wird sich überhaupt mehr im Bereich der Verkennungen als der Erkenntnis bewegen. Dennoch kann er zuweilen eine richtige Beobachtung machen, die anderen entgeht.
Auf dem gegenwärtigen Stand der Dinge könnte man, zu Rosenzweigs Voraussage, feststellen, dass auf allen Ebenen und mit allen, die wissenschaftliche oder religiöse Debatte weit hinter sich lassenden Mitteln etwas wie ein großer Kampf zwischen christlichen und islamischen Kulturen ausgebrochen ist, der noch lange nicht zuende ist und zur Zeit normalen Sterblichen keine sinnvolle Prognose erlaubt. Als ich mich zu Beginn des Jahrtausends – vor dem Irakkrieg – zum ersten Mal mit Rosenzweigs Vorstellungen vom Kampf um die innere Einheit der Welt beschäftigte, hatte ich noch den Eindruck, ich könnte einen Sinn der religiösen Radikalisierungen in der westlichen wie in der arabischen Welt mithilfe jenes berühmten Satzes von Seneca verstehen: Dieser hatte nach dem Sieg der Römer über das kleine Land Israel angesichts der Verbreitung der jüdischen bzw. christlichen Lehren in Rom selbst gesagt: Victi victoribus leges dederunt. Die Besiegten gaben den Siegern ihre Gesetze.9 Entsprechende Befürchtungen treiben diejenigen, die in westlichen Metropolen eine Ausbreitung rechtlicher und sozialer Parallelwelten islamischer Prägung fürchten, seit langem um. Aber die Parallele geht allein deswegen nicht auf, weil die westliche Welt keineswegs mehr als siegreicher Kolonisator gegenüber einer besiegten und nur ab und zu noch einmal unruhigen Randzone der Welt auftreten kann. Um die Destabilisierung von Staaten als einen „Sieg“ über diese zu feiern, müsste man mittlerweile von allen guten Geistern verlassen sein. Und die Alternative, Terror-Regimes solange in Ruhe zu lassen, wie sie „immerhin nach außen für Stabilität“ sorgen, mag manchem politisch geboten und strategisch „geschickt“ erscheinen – siegessichere Stärke, wie sie noch in der seit 2005 von den Vereinten Nationen mehrheitlich anerkannten Formel von der „Responsability to Protect“ und ihren Verwendungen durch das Nordatlantische Verteidigungsbündnis vorausgesetzt ist, sähe anders aus. Tatsache ist, dass etwaige Erwartungen westlicher Truppen im Irak, in Afghanistan oder in Libyen, als Befreier begrüßt zu werden wie es die romantische Verklärung der Geschichte vom Einmarsch der Amerikaner in NS-Deutschland nicht völlig zu Unrecht vom Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt, sich als völlig haltlos erwiesen haben. Der Sturz arabischer Regimes und die Erschütterung der schon zuvor nicht besonders belastbaren Infrastrukturen der betreffenden Staaten hat die Region nicht befriedet, sondern kriegerischer gemacht, und die Perspektivlosigkeit großer Massen von Menschen in diesen Gegenden treibt diese entweder direkt in die kriegerische Aktion – oder in Verzweiflung und Flucht und mental sehr häufig in extremere Formen der Religiosität.
Da eine extreme islamische Religiosität in der Gegenwart den ethischen Vorstellungen der aufgeklärten Teile der westlichen Welt in der Regel nicht entspricht, und da der Kampf um das richtige Verständnis der islamischen Tradition längst einen Ableger in den nicht-islamischen Gesellschaften gebildet hat, die sich nun nämlich um die Frage streiten, wie sie sich zu den Muslimen in ihrer Mitte und in anderen Gegenden der Welt angemessen verhalten können, ist es zur Zeit unmöglich, militärisch und ökonomisch eindeutig von Siegern und Besiegten zu sprechen – um wieviel weniger in Fragen der Religionen.
Dies bedeutet einerseits, dass wir die „ideologische“ Siegesgewissheit der Moderne, mit der wir lange Zeit glaubten, die Religionen würden sich von selbst erledigen und – wenn auch in einem Prozess, der Rückschläge und Stolperphasen beinhaltete – unausweichlich den Errungenschaften der Aufklärung weichen, erst einmal für längere Zeit verabschieden müssen. Es bedeutet andererseits, dass wir nicht mehr in der Siegerposition sind, die man sich westlicherseits nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks noch vorgestellt hatte.10 Diese Pattsituation lässt den Satz von Seneca unangemessen erscheinen: Wo es weder Sieger noch Besiegte gibt, ist auch die Frage offen, wer wem die Gesetze vorschreibt, ob es sich nun um das direkte Gesetze-Vorschreiben handelt, das Siegermächte gegenüber besiegten Völkern betreiben, oder um das indirekte Infiltrieren mit den eigenen Gesetzen, das die Rache der Besiegten zu sein pflegt.
Ich muss zugeben, dass ich an dieser Stelle meine früheren Positionen mehr und mehr revidiere. Es erscheint mir nicht mehr möglich, die realen Kämpfe zu verleugnen oder zu beschönigen. Und es erscheint mir fatal, ihrer neuen Qualität mit dem alten ideologischen Geschirr zu begegnen. Die gegenseitigen „Infektionen“ der Kulturen, insbesondere ihren Hang, an der Auseinandersetzung mit dem radikalisierten Anderen selbst jeweils orthodoxer und radikaler zu werden, kann man vielleicht noch im Sinne Boyarins beschreiben und historisch unterfüttern – was allemal klüger ist als zu sagen, der Westen islamisiere sich. Dennoch darf man auch davor die Augen nicht verschließen, dass innerhalb der einstmals demokratischsten und liberalsten Gesellschaften der westlichen Welt eine Neigung von „underdogs“, zum dann zumeist ziemlich kämpferischen Islam zu konvertieren, signifikant zunimmt.11
In der Zeit unmittelbar nach dem 11.9.2001, haben alle – auch ich – auf die islamischen Welten gestarrt, als wäre ihr Einbruch in unsere Welten eine Überraschung. Die Angst vor weiteren derartigen Überraschungen hat in den politischen Apparaten einerseits, in den intellektuellen Welten andererseits jede Menge selbstreferentieller Diskurse hervorgebracht, die weder in den allfälligen (und notwendigen) Religionsgesprächen noch in den ebenso allfälligen (und notwendigen) Sicherheitskonferenzen mit dem emotionalen Sprengstoff der Auseinandersetzung fertig werden können. Wenige Jahre nach dem „arabischen Frühling“ ist die islamische Welt derartig im Aufruhr, dass selbst ausgewiesene Experten nicht mehr hinterherkommen – mit dem Ergebnis, dass innerhalb der westlichen Welt islamische Verbände und Kulturen weniger denn je als potentielle Akteure bei der Entwicklung demokratischer Gesellschaften wahrgenommen werden.12 Das führt zu folgenreichen Verdächtigungen unschuldiger Gemeinschaften und Personen ebenso wie zur nicht minder folgenschweren Verharmlosung aggressiv kampfbereiter Personen und Verbände – und immer scheint man irgendwen gegenüber irgendwem im Stich zu lassen: Den Identifizierungskonflikten entgeht man längst auch „bei uns“ nicht mehr so leicht. Dass ausgerechnet Rosenzweig in seinen dem ersten Blick vor allem uninformiert erscheinenden Gedanken zum Islam etwas vom Nerv des Konflikts vorweggenommen hat, ist nur umso erstaunlicher.
Rosenzweigs Interesse begann offenbar mit der Lektüre der Bekenntnisse des Heiligen Augustinus: Am 29.1.1916 notierte er: „Augustin, Confessiones VI 11: Die Verbreitung des Christentums als Beweis seiner Wahrheit – es ist gut, dass der Islam kam“.13 Da er sich durch den christlichen Anspruch, dass dessen historische Ausbreitung seine systematische Wahrheit gegen das Judentum beweise, bedrängt fühlte, suchte er im ebenfalls machtvoll und gegen das machtvolle Christentum historisch ausgebreiteten Islam zunächst einmal einen Bündnispartner.14
In dieser Ausgangslage hat er sich für den Islam, den er in Mazedonien als Frontsoldat kennenlernte, weder soziologisch noch missionarisch interessiert. Vielmehr hat er, nach dem Krieg und nachdem er den Stern der Erlösung fertig hatte, dessen Kapitel über den Islam als die einzigen eigentlich religionsphilosophischen Kapitel bezeichnet15 – aus einem sehr schlichten Grund: Während das Judentum und das Christentum bei ihm nicht eigentlich Religionen sind, ist für Rosenzweig in einem sehr philosophischen Sinne der Islam in die Position der „erste[n] Religion“ gerückt.16 Ich sage bewusst, er ist in die Position gerückt – denn es geht um eine zu besetzende Position in dem (methodisch aus dem mit dem Christentum streitenden Judentum entwickelten) System. In diesem war nur noch die Position des „Gegenspielers“ zu besetzen. Und sie wird wie folgt genauer definiert:
Religion ist für Franz Rosenzweig bekanntermaßen fast so etwas wie eine Krankheitsbezeichnung – mindestens dann, wenn sie die Form der „Religionitis“17 annimmt. Der Begriff steht bei ihm für ein Gedankensystem, das sich durch die dogmatische Behauptung einer Wahrheit jenseits der dem gewöhnlichen Erkennen zugänglichen Wahrheit auszeichnet. Solche religiösen Behauptungen verschleiern die wahre und offenbare Wirklichkeit. Wer behauptet, Offenbarung sei die mehr oder weniger exklusive Mitteilung über etwas, das über oder hinter der dem normalen Verstand wahrnehmbaren Wirklichkeit stehe, produziert in diesem parodistischen und dogmatischen Sinne „Religion“. Mit dieser etwas raffinierteren Auffassung von Religion, die in ähnlicher Weise von Karl Barth für den Protestantismus entwickelt wurde, sind auch Christentum oder Judentum in vielen ihrer Erscheinungsformen als Religionen eine Parodie dessen, was Rosenzweig unter Offenbarung versteht. Rosenzweig macht das in den bekannten Abstraktionen und Metaphern anschaulich: Das religiöse Dogma behauptet, eine Wahrheit C über die möglichen Gegenstände A und B zu „offenbaren“: zumeist eine A=B Wahrheit, in der A „nichts anderes als B“ ist oder „recht betrachtet viel mehr als A, nämlich B“ ist.
In der Offenbarung der Wirklichkeit hingegen, die Rosenzweig meint, offenbaren die kleinen Dinge ebenso wie die drei zentralen Größen Gott, Mensch und Welt sich selbst einfach nur als das was sie sind. Das tun sie freilich. In der Zeit. Wer sie begreifen will, seziert sie nicht als Gegenstände, sondern empfängt ihre Selbstoffenbarung. Das ist etwas anderes als das Anlegen einer wissenschaftlichen Beschreibung. Es ist aber auch etwas anderes als das, was wir im Alltag unter Offenbarung verstehen. Der Baum da, über den sagt uns keine besondere Offenbarung, dass er eigentlich Wotans Eiche sei. Er zeigt sich uns als diese bestimmte Eiche. Wenn wir das „realisieren“, diese Eiche auf diesem Platz als diese bestimmte Kreatur, dann hat die Offenbarung stattgefunden. Denn das gehört dazu: damit dieses Sichzeigen eine Offenbarung sein kann, ist es auf jemanden angewiesen, der die Offenbarung annimmt. So wie die wirkliche Sprache nur dann erscheint, wenn sie zwischen einem Sprechenden und einem Zuhörenden stattfindet – wobei beide jederzeit von der einen in die je andere Position hinüberwechseln können.