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Im Jahre 1095 rief Papst Urban II zum Kreuzzug zwecks Eroberung Jerusalems auf. In den folgenden Jahrhunderten kämpften Christen und Moslems im Namen Gottes gegeneinander, um Palästina für die eigene Seite zu sichern. Von den glorreichen Anfängen bis zum bitteren Ende berichtet dieses Werk von den historischen Ereignissen. Alle erzählten Vorfälle entsprechen den Tatsachen, die spärlich vorkommenden, wörtlichen Aussagen sind so gestaltet, wie sie sinngemäß hätten sein können. Die Intention war es, eine gut lesbare, unterhaltsame, romanartige Geschichte der Kreuzzüge zu schaffen.
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Liebe Leser,
den historisch Interessierten möchte ich mit dieser Mischung aus Roman und Geschichtsbuch auf eine Reise in die Zeit der Kreuzzüge entführen. Was als Bitte des byzantinischen Kaisers an den Papst um die Entsendung einiger tausend Söldner begann, entwickelte sehr rasch eine Eigendynamik, mit der kaum zu rechnen gewesen war. Ich habe mich bewußt dafür entschieden, keinen historischen Roman mit erfundener Handlung zu schreiben, da die tatsächlichen Ereignisse genügend Abenteuer bieten. Dialoge historischer Personen sind im Stil von Philipp Vandenberg mehr oder weniger frei von mir gestaltet, wobei aber der Umfang deutlich reduziert und konzentriert auf die jeweiligen Persönlichkeiten zugeschnitten wurde. Davon verspreche ich mir eine gezieltere Verfolgung des roten Fadens, ohne in endlose Gespräche abzuschweifen, die den Romancharakter unnötig verstärken würden.
Ich distanziere mich allerdings davon, hiermit einen "echten" Roman geschrieben zu haben. Vielmehr eine historische Erzählung, die mit möglichen Dialogen angereichert ist, wie es auch ein Livius gemacht hat, obgleich mir der Hochmut fehlt, mich mit ihm vergleichen zu wollen. Ich habe weder historische Begebenheiten erfunden, noch welche weggelassen, die zum Verständnis erforderlich sind. Um ein wirkliches Fachbuch über die Kreuzzüge zu sein, dazu fehlt eine genaue Auflistung der benutzten historischen Quellen. Aus diesem Zwiespalt heraus, was die Einstufung in eine Gattung angeht, tendiere ich trotz allem eher zum historischen Roman, der sich eben sehr genau an die historischen Fakten hält. Bei der Reise durch zwei Jahrhunderte Kreuzzugsgeschichte wünsche ich viel Spaß!
Der Autor
Vor den Toren der Stadt Clermont in Frankreich hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Zum einen lag das daran, daß der Papst öffentlich sprechen sollte, zum anderen hätte kein Gebäude der Welt die Massen aufnehmen können, die sich zusammengefunden hatten. 14 Erzbischöfe, 225 Bischöfe, wohl mindestens 400 Äbte aus ebenso vielen Klöstern, eine zahlenmäßig nicht mehr zu erfassende Menge an Priestern, Adligen, Rittern, aber auch Bauern harrte dem Beginn der finalen Ansprache des Konzils. Ein Konzil ist eine Versammlung Geistlicher zur gemeinsamen Beratschlagung über kirchliche Belange.
Wie bei einem solchen Anlaß üblich hatte man in den ersten acht Tagen kirchliche Fragen im Allgemeinen, französische Belange im Besonderen besprochen. Zum einen wurde König Philipp I. von Frankreich wegen ehebrecherischem Verhalten exkommuniziert ebenso wie der Gegenpapst Clemens III. Außerdem behandelte man Themen bezüglich der Laieninvestitur, also der Vergabe eines kirchlichen Amtes an einen Nicht-Geistlichen gegen Geld, weswegen man auch den Bischof von Cambrai wegen Simonie mit dem Kirchenbann belegte. Ferner wiederholte man das Verbot der Eheschließung von Geistlichen. Ganz normale Themen eines Konzils eben.
Doch an diesem 27. November 1095 sollte nach den normalen Beschlüssen noch etwas ganz anderes passieren, das den Verlauf der nächsten Jahrhunderte eminent mitgestalten würde. Zu diesem Zeitpunkt ahnte freilich noch niemand die Tragweite jener Ereignisse. Papst Urban II., geboren um 1035 in Chatillon-sur-Marne, entstammte einer Adelsfamilie aus der Champagne. Nach Studien bei Bruno dem Kartäuser in Reims wurde er dort Erzdiakon der Kathedrale. Ab 1070 betätigte er sich als Mönch im Benediktiner-Kloster zu Cluny, wo er bereits nach vier Jahren zum Abt aufstieg. 1078 ernannte ihn Papst Gregor VII. zum Kardinal von Ostia. 1082 stieg er zum päpstlichen Legaten in Deutschland sowie Frankreich auf. Am 12. März des Jahres 1088 wählte man ihn nach dem Tod Viktor III. zum Papst, wobei er sich wie üblich den Namen eines Heiligen auswählte. Von nun an hieß er nicht mehr nach seinem Taufnamen Odo von Lagery, sondern Urban II. Eben jener hoch gewachsene, bärtige Mann mit dem hervorragenden Rednertalent brachte die Sprache nun auf das Heilige Land:
„Mir ist zu Ohren gekommen, daß in Palästina friedliche, christliche Pilger von moslemischen Straßenräubern überfallen, ihrer Habe beraubt und derbsten Widerwärtigkeiten ausgesetzt sind. Anhänger des fragwürdigen Propheten Mohammed ziehen plündernd durch das Heilige Land, unsere christlichen Kultstätten entweihend, das geweihte Land besudelnd, in dem Jesus Christus unsere Sünden auf sich nahm. Sie brechen in ketzerischer Weise Kreuze entzwei, brennen Kirchen nieder und treiben gar teuflisches mit den Wallfahrern, die sie als Sklaven verkaufen, wenn sie sie nicht auf der Stelle töten.“ Eine Kunstpause folgte, für Gemurmel unter den Zuhörern sorgend, ehe Urban II. fortsetzte. „Die alte Prophezeiung von König David hat sich erfüllt: ‚Gott, es sind Heiden in Dein Erbe gefallen, die haben deinen heiligen Tempel verunreinigt. Herr, wie lange wirst du zürnen und deinen Eifer wie Feuer brennen lassen?’[Ps. 79, 1-5]“ Eine weitere Pause folgte. Das Geraune nahm an Lautstärke zu.
„Die Wallfahrer ins Heilige Land sind ständigen Repressalien ausgesetzt, ihr Leben ist auf Gedeih und Verderb den islamischen Barbaren ausgeliefert. Sollen wir dabei tatenlos zusehen oder ist nicht gerade jetzt die Zeit gekommen jenen Wegelagerern Einhalt zu gebieten?! Im Osten Anatoliens sind islamische Horden bis nahe an den Bosporus vorgedrungen. Das Abendland steht vor seinem Untergang, wenn wir zulassen, daß sich diese Wilden weiter ausbreiten. Wie mir scheint hat manch einer noch gar nicht begriffen, wie ernst die Situation wirklich ist. Auch unsere Brüder in Spanien kämpfen schon seit längerem gegen den Feind aller Christen, der nach Europa drängt. Wie aber reagieren wir darauf? Wir tun nichts! Wir zerfleischen uns gegenseitig in kleinen territorialen Konflikten, die zu nichts führen. Die Fehde ist eine Schande vor Gottes Angesicht. Christen sollen nicht gegen Christen ins Feld ziehen. Wir müssen unsere internen Streitigkeiten beilegen, um gemeinsam gegen den äußeren Feind vorzugehen.
Ihr solltet von dem Umstand berührt sein, daß das Heilige Grab unseres Erlösers in der Hand des unreinen Volkes ist, das die heiligen Stätten schamlos und gotteslästerlich mit seinem Schmutz befleckt. Es ist unsere heilige Pflicht als Christen die Sicherheit für unsere Brüder und Schwestern im vorderen Orient wiederherzustellen. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde. Wir waren es nicht, die den ersten Stein in böswilliger Absicht geworfen haben, aber wir werden es sein, die von nun an Steine zurückwerfen. Von nun an wird Stein mit Stein vergolten!
All diejenigen, die gestern noch Räuber waren und über die Ländereien ihrer Nachbarn hergefallen sind, sollen von nun an für die Sache des Herrn eintreten und ihre Vergangenheit sei ihnen vergessen. Laßt uns eine bewaffnete Wallfahrt antreten, um die heiligen Stätten unserer Religion vor dem Untergang zu bewahren. Denjenigen, die in diesem gerechten Krieg getötet werden, werden zum Zeitpunkt ihres Todes all ihre Sünden vergeben, sofern ihre Teilnahme aus Frömmigkeit geschah und nicht etwa des Geldes oder Ruhmes wegen. Ein jeder nehme das Kreuz und kämpfe in gerechter Weise für die Sache des Herrn.“
Zurücktretend bekundete der Papst, daß seine Rede zu Ende war. Die Ansprache zeigte bereits Wirkung: „Gott will es!“ schrie jemand aus der Menge voller Überzeugung, andere stimmten mit ein. Bischof Adhémar von Le Puy bat den Papst als erster, am Feldzug teilnehmen zu dürfen. Die ersten adligen Ritter in den vordersten Reihen sanken demütig auf die Knie und gelobten dem kirchlichen Oberhaupt die Teilnahme. Dieser erklärte das Kreuz als Symbol des Feldzugs:
„Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt, um mir nachzufolgen, der ist meiner nicht würdig. Drum tragt über eurem Herzen das Zeichen des Herrn, auf das man Euch überall wo ihr hinkommt als Reisende im Dienste Gottes erkennt.“
Einer der Ritter riß ein Stück roten Stoff aus seinem Untergewand in Streifen, um damit ein improvisiertes Kreuzsymbol zu fertigen, das er sich an die Brust heftete. Der erste Kreuzfahrer. Viele folgten seinem Beispiel.
Noch am selben Tag wurden berittene Boten ausgesandt, um alle Herzöge des Landes als auch solche in anderen europäischen Ländern zu verständigen, um ihnen ausreichend Gelegenheit zu geben, sich dem Zug mit einem Gefolge anzuschließen. Doch auch in den einfachen Dörfern auf dem Land und in den Städten machte die Ansprache des Papstes bald die Runde. Der Papst wiederholte den Kern seiner Ansprache auch in Tours:
„Von Jerusalem und Konstantinopel kommt schlimme Nachricht zu uns. Die Seldschuken, ein fremdländisches und gottloses Volk, sind in das Land der Christen eingedrungen und haben es mit dem Schwert, durch Plünderungen und Brandstiftung verwüstet. Besonders das Schicksal des heiligen Grabes muß euch zu Herzen gehen. Es ist in der Gewalt jenes sündhaften Volkes ebenso wie die heiligen Stätten, die von jenen Unreinen geschändet und besudelt werden.
Unerschrockene Ritter, Nachkommen unbesiegter Vorfahren, gedenkt der Tapferkeit eurer Väter. Besitz hält euch nicht, denn das Land, das ihr bewohnt, ist überall von Meer und Bergen umgeben und zu eng für eure große Zahl. Es hat keinen Überfluß an Reichtümern und nährt kaum jene, die es bearbeiten. Aus diesem Grunde streitet ihr euch, führt Kriege gegeneinander und bringt euch gegenseitig um. Hört auf, euch zu hassen und zu bekriegen. Geht hin zum heiligen Grabe, nehmt das Land den verruchten Heiden ab und macht es zu eurem eigenen. Beschreitet den Weg, der zur Vergebung eurer Sünden führt, des unvergänglichen himmlischen Ruhmes seid ihr gewiß.“
Eine ähnliche Ansprache hielt er auch in Rouen, was die Bekanntheit der Idee weiter steigerte. Freilich hatte sich die Kunde inzwischen schon über das halbe Land verbreitet, was auch an der Tätigkeit vieler Mönche lag, die auf private Regie die Bevölkerung informierten. Da der Beginn des Kreuzzugs auf den 15. August des kommenden Jahres – Maria Himmelfahrt – festgelegt war, blieb noch genügend Zeit, um Vorbereitungen zu treffen. Zeit, die den Rittern die Gelegenheit geben sollte, schlagkräftige Verbände aufzustellen.
Peter von Amiens, ein 45-jähriger Wanderprediger, bekannt als Peter der Einsiedler, zog von Ort zu Ort, um zur einfachen Bevölkerung zu sprechen. Auf einem grauen Esel reitend, barfuß wie Jesus Christus auf seinem letzten Gang mit dem Kreuz über der Schulter, ritt er in ein Dorf ein, dessen Namen er nicht kannte. Zu weit befand er sich schon von seiner Geburtsstadt Amiens entfernt, um jede Siedlung zu kennen. Sein Bart zeugte ebenso wie seine schmutzige, unscheinbare Kleidung von bescheidenster Lebensführung. Seine kleine untersetzte Gestalt mit dem hageren Gesicht bescherte ihm ein niederes Aussehen. Er begab sich selbstbewußt, ungeachtet seiner äußeren Erscheinung, zum Marktplatz, wo er einen Brief aufrecht in die Höhe hielt, was anfangs zwar nur von einigen Bewohnern bemerkt wurde, aber den bald in Scharen herbeieilenden Bauern erklärte er sein Auftreten wie folgt:
„Brüder und Schwestern, vernehmt die Kunde des Herrn: Gott hat mich auf eine heilige Reise ins gelobte Land geschickt. Dieser Brief trägt die Worte, die mir der Herr aufgetragen hat zu verkünden. Gott will, daß wir das Land seiner Geburt, seines Lebens, Leidens und Todes von den Heiden befreien. Vor zwei Jahren machte ich eine Pilgerfahrt nach Jerusalem und kann daher aus erster Hand bestätigen, daß dort schlimme Zustände herrschen. Mit eigenen Augen habe ich gesehen, wie die Mohammedaner das Ansehen von Jesus Christus schänden, die Kirchen plündern und unbescholtenen Christen Leid antun. Gar Grauenvolles habe ich dort auch selbst am eigenen Leib erfahren müssen.
Laßt uns gemeinsam nach Jerusalem ziehen, um die Moslems für immer zu vertreiben! Gott wird unseren Waffen heilige Kraft geben. Er wird sie weihen, genau wie er uns schützen wird. Unser Glauben wird die beste Rüstung sein, so daß die Schwerthiebe der Ungläubigen wirkungslos an uns abprallen werden wie von Gottes Hand von uns fortgeführt. Unser Zorn wird über sie hereinbrechen wie die Sintflut über das Heer der Ägypter. Gottes Rückkehr wird bald geschehen, noch haben wir die Möglichkeit unsere Sünden zu bereuen. Laßt uns alle eine heilige Pilgerfahrt in das Zentrum seines zukünftigen irdischen Reiches unternehmen. Wir werden die ersten sein, die Gottes Niederkunft miterleben werden.
Brüder und Schwestern, laßt uns beten …“
Einer der Zuhörer, ein junger Bauer, raunte zu demjenigen, der dicht neben ihm stand. „Hast du die göttliche Aura bemerkt, die ihn umgibt? Gott selbst schickt uns diesen Prediger. Gelobt sei der Herr!“
„Gnädig ist der Herr“, flüsterte der Angesprochene ehrfürchtig. „Sogar die Haare seines Esels haben etwas Ehrgebietendes. Ich hole schnell meinen Dreschflegel, dann geht es los …“
„Eigentlich hast du Recht. Wenn wir hier bleiben, haben wir doch nur ein ärmliches Leben zu erwarten. Wiederkehrende Dürren gefährden unsere Ernten, die Landesherren kassieren Steuern von uns, die wir kaum bezahlen können, wir haben gerade genug, um zu überleben. Da ist es in der Tat besser, wenn wir im heiligen Land unser Seelenheil finden. Du hast mich überzeugt – ich bin dabei!“
In der Abtei von Cluny in Frankreich befanden sich zwei Mönche in einem Gespräch über das aktuelle Zeitgeschehen, welches das gesamte Kloster ergriffen hatte. Einer von ihnen namens Benedikt vertrat die Ansicht, daß ein bewaffneter Kriegszug gegen Ungläubige nicht im Sinne des Herrn sei. „Das fünfte Gebot besagt ‚Du sollst nicht töten’, folglich ist es Sünde, einen Moslem zu ermorden, denn auch sie sind unsere Brüder. Zwar unsere Feinde, aber wir sollen sie dennoch lieben. So spricht der Herr.“
„Prinzipiell stimmt das schon“, gab Bruder Franziskus offen zu. „Aber schon Kirchenvater Augustinus hat in seinen Lehren vom bellum iustum, dem gerechten Krieg, gesprochen. Es ist rechtens, wenn man zu den Waffen greift, um geraubtes Gut wiederzuerlangen oder im Falle der Verteidigung. Das trifft hier sogar beides zu, denn dient der Feldzug nicht zur Verteidigung vor gewalttätigen Übergriffen? Sind nicht sowohl das Leben als auch der persönliche Besitz von Pilgern in akuter Gefahr?“
„In der Tat, da muß ich dir Recht geben. Dann ist der Krieg wohl von Gott gewollt.“
„Die Moslems sind ein heidnisches Volk, sie haben den falschen Glauben, sind schlechte Menschen, die von bösen Dämonen besessen sind. Ihre Untaten sprechen wohl für sich. Der Anti-Christ leitet sie.“
„Das scheint so zu sein. Die Schilderungen erinnern mich vage an diejenigen der Vandalen im alten Rom. Ja, du hast mich überzeugt, dieser Krieg ist heilig.“
„Unser ehrwürdiger Abt, Pater Robert, will übrigens mehrere unserer Brüder zum geistlichen Beistand der Ritter mitschicken. Ich habe schon überlegt, ob ich mich freiwillig melden soll. Mit Gottes Hilfe wird unsere Sache siegen.“
Bruder Benedikt schloß sich dieser Meinung an und gemeinsam schlenderten die beiden zum alltäglich stattfindenden Abendgebet.
Trier, 17. März 1096, in der Mitte der Stadt rottete sich eine Gruppe aus dem Trupp des Peter von Amiens zusammen. Man sah schon von weitem, das sie etwas im Sinn hatten.
„Hört mir zu, Männer“, richtete sich ein Hüne an die anderen. „Bevor wir die Sarazenen verjagen, ist es doch wohl angebracht erst einmal die Mörder Christus aus unserem eigenen Land zu treiben. Ich spreche namentlich von den Juden, jenen reuigen Hunden, die verflucht seien, sich am Leib unseres Herrn vergriffen zu haben. Zeigen wir denen, wie wir mit ihresgleichen verfahren. Erteilen wir ihnen eine Lektion, die sie nie vergessen!“
Zustimmung machte sich breit, schon griff man in einer Seitengasse den erstbesten Juden auf, der des Weges kam, einen älteren Herrn mit bereits weißem Haar.
„Laß dich taufen, Jude, oder stirb den Tod des Ketzers“, stellte man ihn vor die Wahl. Er entschied sich für letzteres. Weitere Juden wurden aufgegriffen, der gleichen Prozedur unterzogen: entweder Taufe gleich Weiterleben oder Weigerung gleich gewaltsamer Tod. Es lag ganz bei ihnen. Zahlreiche Geschäfte von Juden wurden geplündert, bis sich endlich die ersten fanden, die sich in ihrer Verzweiflung taufen ließen. Das war eine beinahe feierliche Zeremonie, als man den Juden geheiligtes Wasser über die Köpfe goß und ihnen dabei „christliche“ Namen gab. Einen nannte man Peter, nach jenem bekannten Apostel, der das Wort des Herrn in alle Richtungen verbreitet hatte. Ein anderer erhielt den Namen Nikolaus, nach dem bekannten Bischof in Kleinasien.
„Na Bruder?“ fragte man einen der Getauften. „Ist das nicht eine reinigende Erfahrung, endlich ein Anhänger des wahren Gottes zu sein?“
„Nieder mit den Juden!“ gellten anderswo Schreie durch die Straßen. „Taufe oder Tod!“
Da die allerwenigsten ihrem Glauben abschworen, kam es in Trier zu einem regelrechten Blutbad. Doch auch in anderen Städten wie Worms, Xanten, Köln, Speyer oder Prag ereigneten sich ähnliche Zwischenfälle.
Die flammenden Predigten des Peter von Amiens bescherten ihm auf seiner Reise durch Nordfrankreich über Aachen am Rhein entlang weiter nach Köln Zigtausende von Anhängern, die ihm in mehreren größeren Haufen folgten. Unter ihnen befand sich auch der charismatische französische Ritter Walter ohne Habe, der seinen Beinamen wohl durch reiche Beute auf Kosten der Ungläubigen ändern wollte. Was ist schon ein Ritter, der weder Land besitzt noch über Vasallen verfügt? Ansonsten bestand der Zug aus Männern vom Lande, aber auch aus dem Stadtvolk, ferner aus Frauen, sogar Kindern, niederem Adel sowie zwielichtigem Gesindel, das sich weiß Gott was von einer Teilnahme am Bauernzug versprach. Unter den deutschen Adligen befanden sich Graf Heinrich von Schwarzenberg, Graf Hugo von Tübingen als auch Walter von Teck.
Am 12. April 1096 feierte Peter der Einsiedler mit den Seinen das Osterfest, dessen Verlauf ihm weitere Anhänger aus der Kölner Umgebung einbrachte, konnte die Anwesenheit von Tausenden von Bewaffneten in diesem Ausmaß doch kaum verheimlicht werden. Das ganze Land sprach quasi von nichts Anderem mehr.
Während Peter der Einsiedler noch die Vorbereitungen für den Weiterzug erledigte und um Gottes Hilfe betete, hielt es der ungeduldige Walter ohne Habe nicht mehr länger aus. Mit einigen tausend Gleichgesinnten, hauptsächlich Franzosen, zog er unverzüglich los. Den Rhein entlang, weiter über den Neckar, der breiten Donau abwärts folgend. Man durchquerte im Mai in langen Märschen Ungarn, wo Ritter Walter seine Mannen noch einigermaßen unter Kontrolle hatte. Die Pilger ernährten sich von mitgenommener Verpflegung, die zum Großteil gespendet worden war, oder fingen ein paar Fische. Am Fluß Zala etwa lieh man sich von einigen hilfsbereiten Fischern Netze, mit denen man den einen oder anderen Barsch an Land holte. Freilich vermochte diese karge Zusatzration den Hunger von Tausenden nicht zu stillen, ein nettes Zubrot war es aber doch. Wochen später betrat man byzantinischen Boden, wo man noch gar nicht auf das Eintreffen eines so großen Heeres vorbereitet war. Dementsprechend wenig überzählige Lebensmittel gab es auf den Märkten. Auf Grund der zur Neige gehenden Nahrungsmittelvorräte mußte man eben im Notfall auch unter Anwendung von Gewalt bei der hier lebenden Bevölkerung das holen, was man haben wollte. Auf gut deutsch: man plünderte in den Dörfern, was man kriegen konnte, ließ aber wenigstens die Einwohner unangetastet. Man raubte Korn, Fleisch, Hühner, Schweine, Schafe, Ziegen, Kühe, die jedoch allesamt nicht lange überlebten, sondern als Fleischlieferant geschlachtet wurden. In der Stadt Semlin wurden sechzehn Leute beim Plündern erwischt. Die Ungarn nahmen ihnen die Waffen weg, die sie als Warnung an alle anderen auf die Zinnen des Stadttores hängten.
Sei es wie es sei, im Juli 1096 kam die Schar in Konstantinopel, der Hauptstadt von Byzanz, an.
Peter der Einsiedler verließ Köln erst Ende April. Auf einem ähnlichen Weg bahnte er sich mit Gottes Hilfe an der Spitze seiner wohl gerne zwanzigtausend Anhänger einen Weg durch Ungarn mit dem Unterschied, daß es hier schon bald zu Ausschreitungen kam. Die Dörfer, durch die man zog, wurden rücksichtslos geplündert, die Frauen vergewaltigt, Widerstand leistende getötet. So ging das eine ganze Weile, bis sich die Einheimischen dieses Verhalten nicht weiter gefallen lassen wollten. Bei Semlin an der Donau, unweit von Belgrad, entdeckten einige der Pilger die zur Schau gestellten Waffen der sechzehn Leute aus der Schar Walters ohne Habe, die immer noch über dem Stadttor hingen. Im Nu schlug die Stimmung um, denn man vermutete gewaltsame Übergriffe seitens der Stadtbewohner. Äußerst mißtrauisch betrat man den Markt, wo es schnell zu einem kleineren Handgemenge kam, das sich rasch ausweitete. Von Peter von Amiens ungewollt, sorgten Gruppendynamik und Mißtrauen für um sich greifende Gewalttätigkeiten. Es kam schließlich zu einer größeren Schlacht gegen hinzugezogene reguläre ungarische Streitkräfte, die für Ruhe und Ordnung sorgen sollten. Zwar hatten die Bauern keine Kampfausbildung, ebenso wenig verfügten sie über eine gute Bewaffnung. Dennoch gelang es den mit Mistgabeln, Spießen, Dreschflegeln und Äxten ausgerüsteten Bauern durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit mindestens viertausend ungarische Soldaten zu töten. Nach der ausgiebigen Brandschatzung Belgrads marschierte man weitestgehend ungehindert weiter bis ins byzantinische Territorium, wo sich das Verhalten der entfesselten Truppe kaum änderte. Byzantinische Einheiten in Nisch versuchten dem wilden Treiben Einhalt zu gebieten, was zu hohen Verlusten auf beiden Seiten führte. Doch erst als der byzantinische Kaiser Alexios I. Komnenos die Versorgung des Bauernzugs sicherstellte und sie vorsichtshalber seit dem 12. Juli ab Sofia dauerhaft von eigenen Einheiten eskortieren ließ, endeten die willkürlichen Scharmützel.
Am 1. August kam die durch die unnötigen Kämpfe zusammengeschmolzene Schar in Konstantinopel an, wo der Kaiser Peter von Amiens eine Audienz gab, in dessen Verlauf er ahnte, daß dieses Bauernheer wenig gegen die Moslems erreichen würde. Sie in Konstantinopel zu behalten wäre allerdings ein noch größeres Risiko – diesen Eindruck gewann er ebenfalls.
Der dritte größere Haufen an Bauern zog unter einem Priester namens Gottschalk sowie dem rheinischen Grafen Emicho von Leiningen durch Ungarn, wobei hier die Mannen außerordentlich durch marodierendes Verhalten auffielen, das die Intensität ihrer Vorgänger noch übertraf. Es wurde ausgiebig geplündert, geraubt, ganze Dörfer niedergebrannt, Felder abgefackelt, die Bewohner getötet, Frauen und Mädchen vergewaltigt. Der Graf hatte seinen disziplinlosen Haufen sichtlich nicht unter Kontrolle, der sich hemmungslos mit Wein besoff und dadurch erst recht enthemmte. Mehr oder weniger unbemerkt überquerte man die Grenze zu Byzanz, wo das Morden weiterging. Die Untaten der vagabundierenden Horden führten bald zu einem unausweichlichen Aufeinandertreffen mit einem Heer aus Byzanz. Die Byzantiner machten kurzen Prozeß mit den Eindringlingen, die zusammengeknüppelt wurden. Nur wenige von ihnen überlebten das Gemetzel, sich auf verschlungenen Pfaden nach Konstantinopel durchschlagend.
Alexios I., Kaiser von Byzanz, dessen Hilfegesuch den Papst erst dazu ermutigt hatte, zum Kreuzzug aufzurufen, saß etwas ratlos mit seinen Beratern beieinander.
„Die sind jetzt schon da?“ Als Beginn des Zuges hatte man ihm nämlich Mitte August genannt, bis dahin waren noch etliche Monate hin.
„Ja“, bestätigte einer der Berater. „Es handelt sich scheinbar um ein Vorauskommando bestehend aus ländlicher Bevölkerung. Wir wissen ihre Zahl nicht genau, aber es dürften mehrere zehntausend sein.“
Der Kaiser schüttelte leicht den Kopf. „Ich habe den Papst um eine kleine, schlagkräftige Truppe gebeten. Einige tausend Ritter zur Verstärkung der byzantinischen Armee oder dergleichen. Stattdessen schickt er einfache Bauern in Horden her. Sollen wir die hier Felder bestellen lassen oder allen Ernstes auf die Seldschuken hetzen? Können wir das verantworten? Was ist das für eine Hilfe, die man uns da bietet?“
„Wenn Ihr erlaubt, mein Kaiser, daß ich meine Meinung kundtue“, setzte der Berater an. „Es handelt sich bei den Ankommenden tatsächlich um kampfunerfahrene Leute, darunter befinden sich auch Frauen. Es scheint so, als seien sie der Meinung, ihr Glaube schütze sie vor allem Bösen – auch vor den Seldschuken. Wir sollten ihnen einige Führer abstellen, die sich in Kleinasien auskennen, auf daß sie ihre Kampfkraft beweisen können.“
„Das ist doch Selbstmord, wenn wir die gegen kampferprobte Seldschuken antreten lassen.“
„Dafür sind wir nicht verantwortlich, mein Kaiser. Ihr Führer, ein gewisser Peter von Amiens, wartet auf Eure baldige Entscheidung – er bittet darum, mit den Seinen so schnell wie möglich per Schiff nach Kleinasien übergesetzt zu werden.“
„Darüber muß ich erst nachdenken. Ich kann doch keine Bauern in den sicheren Tod schicken. Schon gar nicht, wenn auch noch Frauen dabei sind.“
Die nunmehr vereinigten Bauernheere in Konstantinopel zeigten sich bald der Gastfreundschaft als unwürdig, denn zum Zeitvertreib plünderten sie die Paläste der altehrwürdigen Stadt, brachen in Villen ein, setzten öffentliche Gebäude mit Gejohle in Brand, als handle es sich dabei um Lagerfeuer und klaubten sogar das Blei von den Dächern der Kirchen, um es anschließend an die Einwohner zu verkaufen. Kaiser Alexios tat wohl das einzig Vernünftige, was man an seiner Stelle hätte machen können: er bemühte sich nach seinem anfänglichen Zögern darum, die Horden möglichst schnell wieder aus der Stadt zu bekommen. Dazu stellte er den unbändigen Horden ausreichend Transportschiffe zur Verfügung, die das gesamte Heer im Lauf des 6. Tages des Monats August über die Meerenge am Bosporus nach Kleinasien verschifften. Kaum an Land gegangen, setzte man das Plündern fort, über das alte Nikomeidea zum an der Küste gelegenen Heerlager Kibotos ziehend. Dieses Lager, das die Christen Civetot nannten, hatte man erst vor einigen Jahren errichtet, um angeheuerten englischen Söldnern eine Unterkunft zu bieten. Es lag in einer fruchtbaren Gegend und dank der Lage an der Küste konnte man es über den Seeweg problemlos versorgen – oder im Ernstfall die Truppen abtransportieren.
Alexios hatte der Bauernarmee den weisen Rat gegeben, auf Verstärkungen aus dem Westen zu warten, zumal die Grenze zum Feind nicht weit entfernt lag, doch die Bauern ignorierten dies, um sogleich Raubzüge in das von Türken besetzte Hinterland anzustreben. Getrieben von der Gier nach reicher Beute und der Lust am brachialen Dreinschlagen zogen die Massen in größeren ungeordneten Einheiten ostwärts. Vereinzelte Bauernhöfe wurden überfallen, kleinere Dörfer geplättet, alles niedergemacht, was kreuchte und fleuchte. Immerhin kämpfte man jetzt wenigstens gegen die Heiden.
Mehreren tausend Franzosen gelang es Mitte September, bis Nikaia vorzudringen, der Hauptstadt des Seldschukensultans Kilidsch Arslan I., der im Jahr 1092 die Macht übernommen hatte. Man nahm die Vororte im Sturm ein. Zu überraschend für die Verteidiger war der unerwartete Ansturm der urplötzlich hervorbrechenden, brachial attackierenden Bauern. Im Nu waren die Ansiedlungen außerhalb der Garnison unter der Kontrolle der Franzosen, die sich gegenseitig anspornend plündernd durch die Gassen hetzten, darauf bedacht, sich selbst die besten Stücke zu sichern. Reiche Beute einheimsend massakrierten sie nebenher die Bevölkerung. Mein Gott, es waren doch eh keine Christen. Ein Ausfall aus der Burg blieb in den Spießen der Franzosen liegen. Als man im Heerlager von diesem unerhörten Erfolg erfuhr, formierten sich etliche tausend deutsche Bauern, von Neid getrieben, um ebenso auf Beutezug zu gehen.
„Wenn wir zurückkommen, haben wir mehr Gold bei uns, als wir tragen können“, prahlte einer von ihnen beim Beginn des Zugs.
„Die Franzosen werden uns noch beneiden“, stimmte ein anderer ein.
Mit großen Hoffnungen zog man los, doch anfangs traf man auf keine lohnenden Objekte. Durch Zufall stieß man auf eine Befestigung namens Xerigordon, die man durch einen beherzten Überraschungsangriff einnehmen konnte. Da man viele Vorräte fand, einigte man sich darauf, die Burg als vorübergehendes Quartier auszuwählen, um weitere Plünderzüge ins entferntere Umland zu unternehmen.
Am 29. September entdeckte ein auf einem Turm stehende Wächter eine größere Anzahl Menschen. Verstärkung? Hatten die Franzosen noch nicht genug und trachteten nun danach, hier auf Beutefang zu gehen? Doch kurz darauf erkannte die Wache ihren Fehler: das waren keine Europäer, sondern Mohammedaner. „Alarm!“ schrie sie wie am Spieß. „Alarm! Alle Mann zu den Waffen! Wir werden angegriffen!“
Doch wider Erwarten griffen die Seldschuken nicht an, sondern umzingelten die Burg lediglich. Jetzt bekamen die Deutschen ein Problem, denn der einzige Brunnen lag außerhalb der Mauern. Die Zisternen der Burg waren nach dem langen, heißen Sommer völlig ausgetrocknet. Niemand hatte es für nötig gefunden, sie aufzufüllen. Die verbliebenen Wasservorräte verschwanden daher schnell in den Kehlen und nach acht Tagen ergab man sich nach dem Versprechen, daß sie am Leben bleiben würden. Diejenigen, die dazu bereit waren, zum Islam überzutreten, ließ man in der Tat am Leben, obgleich auch in Gefangenschaft. Wer sich weigerte, wurde ermordet.
Der verbleibende Heeresteil zog rasch aus, nachdem die Kunde von dem Gefecht eintraf, um es den Seldschuken heimzuzahlen. Zwar hatte sich Walter ohne Habe dafür eingesetzt abzuwarten, bis Peter von Amiens zurückgekehrt war. Dieser war nämlich nach Konstantinopel aufgebrochen, um den Kaiser um Unterstützung zu bitten. Doch ein einziger adliger Ritter wird von einer riesigen Zahl Bauern schnell überstimmt, also brach man sofort auf, „um den Türken eine Lehre zu erteilen, die sie nie vergessen werden“.
Im Morgengrauen des 21. Oktobers zog man aus, der Straße nach Nikaia entlang. In der Nähe eines Dorfes namens Dracon führte der Weg durch ein enges, bewaldetes Tal. Frohen Mutes marschierte man hindurch, nicht ahnend, daß die Türken hier einen Hinterhalt vorbereitet hatten. Überraschend brachen sie aus dem Unterholz hervor, Pfeile surrten durch die Luft, mit Speer und Schwert warfen sich die Angreifer in den Nahkampf. Gegen die ausgefeilte Kampftaktik der Seldschuken konnten die nur leicht geschützten Bauern nicht bestehen – eine heillose Flucht begann mit dem Ziel, das nur einige Kilometer entfernte byzantinische Heerlager zu erreichen. Ihnen dicht auf den Fersen die Reiter der Moslems, die jeden töteten, den sie erwischten. Wieso prallten die Pfeile nicht ab? Hatte Gott seine schützende Hand von den Seinen abgewendet?
Das Lager bei Kitobos wurde wenig später, noch ehe man sich von der soeben erlittenen Niederlage erholt hatte, ebenfalls angegriffen. Alle dort befindlichen Kreuzfahrer mitsamt Frauen und Kinder, derer man habhaft werden konnte, wurden getötet. Lediglich vereinzelt ließ man Mädchen oder Jungen am Leben, um sie in die Sklaverei zu überführen.
Einer größeren Gruppe gelang es an der Küste eine verlassene Befestigung zu besetzen, die man eiligst wehrhaft machte. Mit einem Segelboot, das man an der nicht weit entfernten Küste auftreiben konnte, ersuchte man um Hilfe in Konstantinopel. Alexios I. schickte prompt eine Flotte mit Galeeren los, bei deren Auftauchen vor Kitobos die Seldschuken Reißaus nahmen. Die ungefähr dreitausend Überlebenden aus diesen drei Schlachten, darunter viele Verwundete, zogen sich resignierend auf die Schiffe zurück, um nach Konstantinopel zurückzufahren. Die Bauernkreuzzüge gingen damit unrühmlich zu Ende, noch ehe sie richtig begonnen hatten. Ein starker Glauben allein schien nicht ausreichend zu sein, um nach Jerusalem zu gelangen.
Als Bohemund von Tarent die Botschaft erfuhr von dem, was sich in Clermont zugetragen hatte, verständigte er sofort seinen Neffen Tankred, den jungen, aber um so vielversprechenderen Sohn seines Bruders, mit dem er die Angelegenheit besprechen wollte.
Bohemund von Tarent war der älteste Sohn des Herzogs Robert Guiscard von Apulien. Aus einem Normannengeschlecht stammend, wirkte er maßgeblich an der Invasion Griechenlands von 1081 bis 1085 gegen den byzantinischen Kaiser Alexios I. mit, wo er ersten Ruhm als Truppenbefehlshaber sammelte. Nach dem Tod seines Vaters 1085 wurde er mit Tarent belehnt, wohingegen das lukrativere Apulien an seinen Stiefbruder Roger I. von Sizilien ging. Bohemunds Lehensbesitz umfaßte nichts desto trotz nunmehr die süditalienischen Städte Tarent, Otranto, Bari sowie Conversano. Dieser mittlerweile etwa 44-jährige Herzog erwartete nun die Stellungnahme seines Neffen.
„Ganz klar“, meinte Tankred. „Es ist unsere Pflicht uns an der Wallfahrt zu beteiligen. Das sind wir unseren Brüdern und Schwestern schuldig. Mal ganz abgesehen davon können wir auch anderweitig Nutzen daraus ziehen, durch fette Beute oder Landnahme.“
„Das sehe ich genauso“, bekannte der für seinen Ehrgeiz bekannte Bohemund. „Wenn die Unternehmung erfolgreich ist, wovon ich ausgehe, denn nur wir Christen sind auf dem rechten Weg, dann bringt uns das neben Ruhm und Prestige auch gehörigen Einfluß ein. Wir können zu den Auserwählten gehören, die Jerusalem aus den dreckigen Händen der Wilden befreien. Wenn das kein Grund ist, sein Leben zu riskieren …“
„Wer soll dann die Verwaltung des Herzogtums übernehmen, wenn wir beide nicht da sind?“ sprach Tankred ein organisatorisches Problem an.
„Das ist am Unwichtigsten überhaupt. Wichtig ist, daß wir genügend Männer mit auf die Fahrt nehmen. Ein Verwalter wird sich für die Zeit unserer Abwesenheit schon finden. Sobald wir eine ausreichend große Armee aufgestellt haben, treten wir die Reise ins gelobte Land an. “
„Auf dem Land- oder auf dem Seeweg?“
„Diese Frage, mein Neffe, ist schnell aufgelöst. Besitzen wir die nötige Zahl an Schiffen, um einige tausend Mann samt Verpflegung sowie Ausrüstung einzuschiffen?“
„Nein, Onkel.“
„Können wir es uns leisten, Venedig für die Überfahrt zu bezahlen?“
„Nein, Onkel.“
„Siehst du – da bleibt uns gar nichts anderes übrig als der Landweg. Es ist eh so, daß wir hohe Ausgaben haben werden. Wir müssen Verpflegung für die Pferde organisieren, nicht zu vergessen natürlich auch für uns selbst. Ferner gilt es die Einnahmenausfälle einzukalkulieren, die wir haben, wenn die eingezogenen Fußsoldaten nicht in der Landwirtschaft arbeiten können. Aber ich werde mir das dennoch nicht entgehen lassen. So eine Chance erhält man lediglich einmal in seinem Leben. Wir werden noch heute Boten zu jeder Grafschaft meines Herzogtums aussenden. Ein jeder Graf, ob groß, ob klein, ob arm, ob reich, muß Männer sowie Waffen stellen. Wer dazu nicht imstande ist, hat sich finanziell zu beteiligen. Treffpunkt der Armee soll Tarent sein, von wo aus wir ins Heilige Land aufbrechen werden, um es von den Ungläubigen zu befreien.“
Bohemund holte aus einem edlen Arbeitsschrank eine Karte hervor, die das südöstliche Europa zeigte. Stirn runzelnd brütete er darüber, eine Route für den langen, beschwerlichen Marsch bestimmend.
Gottfried von Bouillon, Herzog über Nieder-Lothringen, Graf von Bouillon, ferner Markgraf zu Antwerpen, vernahm die Kunde vom Jahrhundertfeldzug auf seinem Landgut. Er war der zweite Sohn von Graf Eustachius II. und Ida von Ardenne. Beim Tod seines Vaters wurde er von seinem Onkel Gottfried dem Buckligen angenommen und weiter in der Kampfkunst unterrichtet. Trotz seiner edlen Herkunft bekam er von Kaiser Heinrich IV. anfangs lediglich die Markgrafschaft Antwerpen, das Herzogtum Nieder-Lothringen folgte in Anerkennung seiner treuen Dienste erst 12 Jahre später. Seither hatte er sich damit befaßt, sich gegen seine Nachbarn wie Lüttich abzusichern, was ihm gut gelungen war. Auch er sah den Kreuzzug als Möglichkeit, sich selbst zu profilieren.
Robert II., seit dem 15. Lebensjahr Graf von Flandern, Sohn von Robert I. von Flandern sowie Gertrud Billung von Sachsen, ließ sich von seinem Boten alles bis ins Detail erklären, was in Clermont vorgefallen war. Daraufhin schwieg er und suchte seine Ehefrau Clementia von Burgund auf, mit der er seit fünf Jahren verheiratet war.
„Clementia, die Kunde von den Ereignissen auf dem Konzil von Clermont erreichte mich soeben. Der Papst will ein christliches Heer versammeln, um den unterdrückten Christen im Heiligen Land gegen die Moslems zu helfen. Als Graf von Flandern ist es meine Pflicht mich an diesem Zug zu beteiligen. Während meiner Abwesenheit vertraue ich dir die Verwaltung unserer Ländereien an. Aber du mußt keine Sorgen um mich haben. Erstens dauert es noch eine Weile, um ein schlagkräftiges Heer aufzustellen, das heißt ich bin noch eine Zeit hier und zweitens wird mich Gottes schützende Hand vor jeglichem Leid bewahren.“
Seine Ehefrau brachte Verständnis für das Ansinnen ihres Gemahls auf. Immerhin kannte sie schon dessen jahrelangen Fehden gegen Holland.
Raimund von Toulouse, mit 54 Jahren einer der ältesten der mächtigen Herzöge Frankreichs, erklärte bereits vier Tage nach dem Aufruf durch Urban II. seine Bereitschaft mitzuziehen. Mit einer ansehnlichen Armee machte er sich auf den Weg. Er wählte den Weg über Le Puy nach Mailand, nördlich an der Adria vorbei an der Küste entlang bis nach Dyrrhachion. Ein Großteil seines Vermögens verschlang dabei die Finanzierung des gewaltigen Heerwurms sowie die Verpflegung. Aber für solch ein Jahrhundertereignis war nichts zu teuer.
Adhemar Le Puy wurde von Urban II. zum päpstlichen Legaten und dadurch auch geistlichen Oberhaupt des Kreuzzugs ernannt. Während sich die Ritterheere sammelten, zog Urban II. durch Südfrankreich, um in weiteren Städten zu predigen. In schriftlichen Briefen wandte er sich unter anderem an die Flamen sowie die Bologneser, die er aufforderte, sich auch überregional dem Zug anzuschließen. Dabei wies er auf die Strapazen der Reise hin und riet allen Alten, Kranken oder Schwachen, zu Hause zu bleiben. In England und Deutschland fiel die Resonanz eher gering aus, da hier der Gegenpapst einen stärkeren Einfluß genoß. Trotzdem kamen auch aus diesen Ländern kleinere Scharen Kreuzfahrer vom einzelnen Ritter mit seinem Knappen bis hin zu größeren Gruppen, die sich in den Städten den größeren Heeren anschlossen, regelrecht von ihnen aufgesaugt wurden.
Im Lauf des Jahres 1096 brachen die meisten Ritterheere auf, um Richtung Konstantinopel vorzurücken. Man kann sich vorstellen, daß ein solches Unternehmen in dieser Größenordnung sehr kostspielig ist. Die Ritter benötigen Ausrüstung wie Kettenhemd, Helm, Schild, Schwert, Lanze, die wertmäßig das Vermögen einer einfachen Bauernfamilie bei weitem übersteigen. Ferner brauchen die Ritter ein Streitroß, ein Ersatzpferd sowie ein Reitpferd. Um die Probleme bei der Finanzierung teilweise zu beseitigen, boten sich die Klöster als Geldgeber an. Entweder kauften sie Ländereien gleich ganz oder sie nahmen diese als Pfand. Die erwirtschafteten Gewinne etwa durch Ackerbau oder Viehzucht gingen während der Darlehenszeit an die Geldgeber. Indirekt stellt das also doch eine Form der Verzinsung dar, die ja eigentlich im Christentum gar nicht gestattet ist.
Sei es wie es sei, jedenfalls verhökerten nicht wenige Grafen, Herzöge und sonstige Landesherren ihr Hab und Gut. Einige von ihnen gedachten nicht wieder in ihre Heimat zurückzukehren, andere bestanden auf einer Rückkaufsoption ihrer Ländereien.
Graf Hugo von Vermandois war ein im persönlichen Gespräch überheblich wirkender und sich eitel verhaltender Mann, was vielleicht an seiner Verwandtschaft zum König von Frankreich lag, denn er war dessen Bruder. Mit einer Armee zog er über Genua, Pisa und das Kloster Monte Cassino im Oktober 1096 in die süditalienische Küstenstadt Bari, wo er über die Adria nach Dyrrhachion in Griechenland übersetzte. Dort wurde er von einem Abgesandten von Kaiser Alexios I. empfangen und nach Konstantinopel geführt, wo der Basileus, d.h. der Kaiser, den ersten adligen Ankömmling freundlich willkommen hieß, was ernst gemeint war, denn nach den negativen Erfahrungen mit den Bauerntölpeln konnte es nur besser kommen.
Kaiser Alexios I. sah nachdenklich von seinem Palast auf die Meerenge des Bosporus hinaus, wo Handelsschiffe gerade damit beschäftigt waren, in den Hafen einzulaufen. Es handelte sich dabei um Teile einer bereitgestellten Flotte, die die Kreuzfahrer nach Kleinasien übersetzen sollten. Der Basileus hörte sich den Bericht eines Beraters an, der ihn darüber informierte, daß sich unter den Kreuzfahrern viele süditalienische Normannen befanden.
Alexios hatte die vage Befürchtung, daß sich die Kreuzfahrer ehemaliges byzantinisches Territorium selber unter den Nagel reißen könnten. In den letzten Jahren hatten insbesondere die Normannen schon zahlreiche Kriegszüge gegen das Byzantinische Reich unternommen. Als Freunde im engeren Sinne konnte man sie wahrlich nicht bezeichnen, auch wenn es beim Durchmarsch noch zu keinen Auseinandersetzungen gekommen war.
Das Beste würde wohl sein, die Anführer dazu zu bewegen, ihm den Lehnseid zu schwören, auf daß alle Gebiete, die die Kreuzfahrer erobern würden, unmittelbar wieder seiner Kontrolle zugeführt wurden. Diese Ansicht teilten auch seine Berater.
Gottfried von Bouillon zog in Begleitung seines Bruders Balduin von Bolougne sowie Balduin von Bourcq Mitte August 1096 los, durchquerte streng auf Disziplin achtend Ungarn nach der Absprache mit dem dortigen König Koloman, der freiwillig Nahrung stellte. Offenbar hatten die Ungarn wenig Interesse an neuen Reibereien mit Pilgern auf dem Weg ins Heilige Land. Ungehindert marschierte die Armee zügig vorwärts. Sie erreichte Konstantinopel kurz vor Weihnachten, am 23. Dezember, wo man vor der Stadt kampierte. Ein Bote aus der Stadt begab sich mit einer offiziellen Einladung des Kaisers in das Zelt des Gottfried von Bouillon. Es war kein geringerer als Hugo von Vermandois.
„Ich heiße Euch herzlichst willkommen und überbringe Euch die Einladung des ehrwürdigen Basileus, Alexios I. Komnenos, ihn in seinem Palast aufzusuchen. Wann immer Ihr es wünscht, werde ich Euch zu ihm führen.“
Gottfried von Bouillon hob die Augenbrauen hoch. So ganz traute er dem Frieden nicht. Die Begrüßung empfand er als ein bißchen zu freundlich, zumal ihn wunderte, daß ihm ausgerechnet ein Landsmann die Einladung brachte. Da steckte doch etwas dahinter. Den Byzantinern konnte man nicht trauen, die führten doch etwas im Schilde!
„Ich lehne diese Einladung ab“, erklärte er ohne zu zögern. „Berichtet dem Kaiser das.“
Der Graf von Vermandois blickte betreten drein, als verstehe er nicht richtig. „Ich werde ihm Eure Antwort wortwörtlich überbringen. Falls Ihr es Euch anders überlegt – zögert nicht, für Euch steht jederzeit ein Quartier bereit.“
Dann machte er auf der Stelle kehrt, um das Zelt wie ein Edelmann zu verlassen. Zurück blieben der schweigsame Gottfried sowie sein Bruder Balduin, der sich bislang dezent im Hintergrund gehalten hatte und nun in den Vordergrund trat. „Du hast richtig gehandelt, die Byzantiner planen irgendwas. Wir sollten abwarten, bis andere Adlige kommen, um zu sehen, wie die reagieren. Dann können wir uns immer noch anschließen. Wir sollten nur nicht in ein Fettnäpfchen tappen, das der werte Graf Hugo wahrscheinlich übersehen hat. Die Byzantiner wollen uns nur über den Tisch ziehen.“
„Möglich, durchaus möglich. So genau kann das niemand sagen. Fest steht, daß sie ein Bauernheer, das vor uns hier durchgezogen ist, angegriffen haben. Freilich wissen wir nicht genau, was da konkret passiert ist, aber ein bißchen Mißtrauen schadet nie.“
In den nächsten Tagen kam noch mehrmals ein kaiserlicher Bote vorbei, der eine Einladung vom Basileus brachte, der nichts unversucht ließ, um seinen vor den Toren lagernden Gast zu einem Besuch zu veranlassen. Von Mißtrauen erfüllt weigerte sich Gottfried den Palast zu betreten.
Der sich beleidigt fühlende Alexios I. reagierte darauf mit der Unterbrechung der Lebensmittelversorgung, um die Kreuzfahrer unter Druck zu setzen. Jedoch verfehlte der Plan seine Wirkung, denn nun kam es zu Plünderungen in den Vororten. „Wenn man uns das Essen vorenthält, dann müssen wir es uns eben selbst holen.“ Der sich herausgefordert fühlende Gottfried befahl sogar einen Angriff auf den Palast, der aber wegen energischer byzantinischer Gegenstöße nicht sehr weit kam.
Am 20. Januar 1097 sah Gottfried ein, daß er so nicht weiterkam und willigte ein, der Einladung des Kaisers folge zu leisten. In Begleitung seines Bruders betrat er den Palast, wo ihn mehrere Wächter in eine Halle führten. Ein würdevoll wirkender Mann kam ihm mit offenen Händen entgegen. Er trug ein bis zum Boden reichendes, seidenes, blaues Gewand, das einen gelben Streifen um den Bauch aufwies sowie einen senkrechten vom Hals bis hinunter zu den Füßen. Verzierte Stickereien machten die Kleidung eines Kaisers würdig. Auf dem Kopf trug er eine golden glitzernde, niedrige Krone, die wenig Ähnlichkeit mit einer westlichen Krone hatte. Vielmehr sah es aus wie ein Helm, denn auch die Ohren des Kaisers wurden durch goldene Schürzen bedeckt.
Zweifellos handelte es sich aber um eine Krone, was allein schon die roten Edelsteine bewiesen, mit denen sie reich besetzt war. Das Gesicht des Kaisers machte einen energischen, autoritären Eindruck, drückte jedoch auch Kooperationsbereitschaft aus. Ein Halbbart demonstrierte gezähmte Wildheit, wahrlich eine königliche Persönlichkeit. In der rechten Hand hielt er einen goldenen Kurzstab, eine Art Zepter. Sein Alter mochte wohl um die fünfzig sein. Ein Mann in den besten Jahren zum Herrschen.
Nach einer längeren Unterhaltung wurde klar, was dem Kaiser auf dem Herzen lag: er erwartete von seinem Gast, daß er einen Treueeid schwor. Gottfried von Bouillon leistete diesen Eid ohne zu zögern und wurde daraufhin mit seinen Truppen per Schiff über die Meerenge nach Kleinasien übergesetzt.
Als nächstes kam am 9. April 1097 Bohemund von Tarent an, der ohne Komplikationen zu verursachen die Einladung des Kaisers akzeptierte, während sein Neffe einstweilen das Kommando über das einen Tagesmarsch westlich lagernde Heer übernahm.
„Gegrüßet seid Ihr, Bohemund von Tarent“, begann Alexios I. mit kraftvoller Stimme. Sein Mißtrauen versteckte er gekonnt, denn ihm war wohl bewußt, wer da mit einer Armee in seinem Reich stand. Jemand, der vor wenigen Jahren schon mal Krieg gegen ihn geführt hatte. Begonnen hatte alles durch einen Einfall des Herzogs Robert Guiscard, der bis nach Makedonien vorgedrungen war. Durch die Fortschritte von dessen Feind, dem deutschen Kaiser Heinrich IV. in Roberts Heimat Italien, mußte er allerdings notgedrungen heimkehren, wobei er seinem Sohn das Kommando über das Heer überlassen hatte. Dieser Sohn hieß Bohemund von Tarent und genau der stand nun als Gast im Palast von Konstantinopel. Diese Normannen waren ein kriegslustiges Volk, die galt es so schnell wie möglich abzufertigen, bevor sie es sich anders überlegten, was ihre Friedfertigkeit anging. Sollten die doch gegen die Seldschuken kämpfen, dann konnten sie innerhalb der Grenzen von Byzanz keinen Unsinn anstellen. Aber Alexios war zu sehr Kaiser, um sich sein Mißtrauen offen ankennen zu lassen. Er sprach wie mit einem alten Freund. „Ich freue mich Euch persönlich begrüßen zu können. Das ist übrigens meine älteste Tochter Anna Komnena.“
Er wies auf ein zierliches Mädchen, das wenige Schritte schräg halblinks von ihm stand und sich nun artig leicht verbeugte.
„Es ist mir wahrlich eine Ehre Euch kennenzulernen“, erklärte sie höflich mit dem Charme einer jungen Frau, obwohl sie nicht älter als 14 Jahre sein konnte. „Vielleicht finden wir Zeit, um eingehend über Geometrie, Astronomie oder Musik zu diskutieren. Es würde mich sehr interessieren, welche Ansichten man in Eurer Heimat dazu hat.“
Astronomie? Geometrie? Bohemund von Tarent fuhr sich mit der Hand über sein glattes Kinn. Diese Begriffe hatte er schon mal gehört, klangen beide griechisch. Die Tochter des Kaisers schien trotz ihrer Jugend eine intelligente Person zu sein.
„Ihr müßt meiner Tochter verzeihen“, erklärte Alexios I. hastig. „Sie ist noch etwas ungehalten und interessiert sich sehr stark für die Naturwissenschaften. Na ja, ich habe ihr auch die besten Lehrer ganz Griechenlands zur Verfügung gestellt.
Aber reden wir über etwas anderes: ihr seid hierhergekommen, um uns im Kampf gegen die barbarischen Moslems zu helfen. Das rechne ich Euch hoch an und ihr werdet alle Unterstützung bekommen, die ihr benötigt. Natürlich wollt Ihr mir sicher den Treueeid nicht verweigern, auf daß Ihr und die Euren auch ganz offiziell unter meinem persönlichen Schutz steht?“
Bohemund räusperte sich. Daher wehte also der Wind. Der Kaiser wollte sich absichern.
„Natürlich werde ich das tun, wenn Ihr das wünscht. Es ist mir eine Ehre Euch die Treue zu geloben.“ Ohne mit der Wimper zu zucken legte er den Eid ab, dachte aber gar nicht dran ihn einzuhalten.
Anna Komnena schwärmte nach dem Aufeinandertreffen mit Bohemund von Tarent in ihren Gemächern ihrer Dienerin vor, wie außergewöhnlich jener Mann gewesen sei:
„Nun war jener Bohemund so, kurz gesagt, wie ich zuvor niemand im Land der Römer jemals gesehen habe, weder von den Barbaren noch von den Griechen. Laß mich die Erscheinung des Barbaren genauer beschreiben: seine Statur war so groß, daß er die größten im Saal inklusive der Soldaten der Leibgarde meines Vaters fast um eine Elle überragte, schmal in der Taille und Hüfte, fast wie eine Frau, dafür mit breiten Schultern, einem großen Brustkorb und mächtigen Armen, was ihn sehr männlich erscheinen ließ. Im Ganzen war sein Körper weder zu schlank noch zu massig, sondern perfekt proportioniert und, man kann sagen, in Übereinstimmung mit dem Kanon des Polykleitos gebaut ...“
Bei Polykleitos handelte es sich um einen griechischen Bildhauer aus Argos, der im 5. Jahrhundert vor Christus berühmte Bronzestatuen herstellte, was die gebildete Dienerin natürlich wußte.
„So habt Ihr ja noch nie von einem Mann geschwärmt“, fiel ihr auf.
Ein sanftes Lächeln umspielte Annas Lippen, ehe sie in ihrer Schilderung fortfuhr.
„Seine Haut war am ganzen Körper sehr weiß, heller als die meine, und in seinem Gesicht war die Weiße durch Röte gemäßigt. Sein Haar war gelblich, hing aber nicht bis auf die Hüften herab wie bei den anderen Barbaren. Offenbar ist er nicht übertrieben stolz auf seine Haare, denn er trug sie bis zu den Ohren kurz geschnitten. Ob sein Bart rötlich war oder in einer anderen Farbe, kann ich nicht sagen, da das Rasiermesser sehr eng darüber gefahren war und eine Oberfläche glatter als Kreide hinterlassen hatte ... seine blauen Augen deuteten sowohl einen hohen Sinn als auch Würde an, seine Nase und Nasenlöcher atmeten frei die Luft. Seine Brust entsprach seinen Nasenlöchern, und seine Nasenlöcher ... der Breite seiner Brust. Die Natur seiner Nasenlöcher hat dem hohen Sinn, der aus seinem Herzen sprudelt, freien Durchgang gegeben. Eine gewisse Anmut umgab diesen Mann, wurde aber teilweise getrübt durch einen allgemeinen Eindruck des Schrecklichen ... er war in Sinn und Körper so gemacht, daß Mut und Leidenschaft in ihm ihren Höhepunkt entgegen strebten und sich nach dem Krieg sehnten. Sein Witz war vielfältig und listig und in der Lage, aus jeder Notlage einen Ausweg zu finden. Im Gespräch war er gut unterrichtet, und die Antworten, die er gab, waren ganz unwiderlegbar. Dieser Mann von solch einem Format und solchem Charakter war dem Kaiser nur im Schicksal, in der Beredsamkeit und anderen Gaben der Natur unterlegen.“
Die Dienerin hörte sich die Schwärmereien schweigend an. „Dieser Mann scheint Euch ja ziemlich beeindruckt zu haben. Dabei hat er schon mal einen Feldzug gegen Byzanz geführt.“
„Wirklich?“ fragte Anna ein bißchen enttäuscht. Das Lächeln um ihren Mund verschwand.
Kurz darauf kam Raimund von Toulouse in Begleitung seiner Frau an, die Verwaltung seiner zahlreichen Grafschaften in Südfrankreich übernahm sein Sohn Bertrand. Als sein Gastgeber Alexios von ihm verlangte, einen Eid abzulegen, lehnte er das ab.
„Ich habe nicht das Kreuz genommen, um neben Gott noch einen anderen Herrn anzuerkennen oder mich in dessen Dienste zu stellen. Falls Ihr den Zug natürlich selbst kommandieren wollt, so werde ich selbstverständlich unter Eurer Führung dienen.“
Ihm war nicht entgangen, daß sich Bohemund von Tarent scheinbar prächtig mit dem Kaiser zu verstehen schien. Insgeheim fürchtete er, daß Bohemund sein Hauptrivale sein würde bei der Frage, wer das Kommando über die Kreuzritterarmee erhalten sollte.
Nach einigen Verhandlungen erklärte er sich dann aber am 26. April doch bereit, eine abgeschwächte Eidformel zu schwören.
Im Mai 1097 treffen als letzte namhafte Adlige Robert von der Normandie und sein Schwager Stephan von Blois ein, die den geforderten Lehnseid ohne Zögern leisteten. Danach trafen die letzten Kreuzfahrer, zumeist Nachzügler in kleinen Gruppen, vereinzelt auch unbekannte Adlige mit ihrem Gefolge, in Konstantinopel ein. Insgesamt hatte das Kreuzfahrerheer inzwischen etwa 7000 Ritter, 22000 Mann Fußtruppen, rund 50000 Pferde und zigtausende sonstige Leute aufzubieten. Bei letzteren handelte es sich vornehmlich um Zivilisten, teils Priester, teils Mönche, Ehefrauen von Adligen, deren Familien, Handwerker, Schmiede, fahrende Händler und sonstige Personen.
Kaiser Alexios, seit 1081 Kaiser von Byzanz, starrte von seinem Palast aus auf die Meerenge hinab, die seine Hauptstadt von Kleinasien trennte. Kleinasien, das ehemals gänzlich zu seinem Reich gehört hatte. Sogar weit darüber hinaus, Palästina, Syrien und Ägypten inbegriffen, doch das war etwas länger her. Die prunkvolle Geschichte von Byzanz dauerte inzwischen schon mehr als 600 Jahre. Um das Jahr 330 nach Christus baute der römische Kaiser Konstantin, der Große, die altgriechische Provinzstadt Byzanz aus mit dem Zweck, sie als Hauptstadt der Osthälfte des Römischen Reichs einzusetzen. Sie erhielt den Namen ihres Begründers: Konstantinopel, doch der Name Byzanz hielt sich dennoch etliche Jahrhunderte, vor allem im Westen.
Im Jahr 395 wurde das römische Reich nach dem Tod des Kaisers Theodosius I. an seine beiden Söhne aufgeteilt: Arcadius erhielt das Ostreich mit Konstantinopel als Hauptstadt, sein Bruder Honorius bekam das Westreich mit der Hauptstadt Rom.
Im 5. Jahrhundert sorgten unablässige Einfälle von Germanen und Hunnen zum Untergang von Westrom. Bereits 410 wurde Rom das erste mal von den Westgoten erobert, was trotz der tatkräftigen Unterstützung durch das Oströmische Reich nicht verhindert werden konnte.
476 ging Westrom endgültig unter.
Im 6. Jahrhundert eroberte Ostrom unter den hervorragenden Feldherrn Belisar und Narses große Teile ehemals weströmischer Provinzen zurück. Darunter befanden sich Italien, Nordafrika und Teile von Spanien. 533 etwa wurde das historische, während der punischen Kriege hart umkämpfte, Karthago eingenommen.
Um die Jahrhundertwende wendete sich das Blatt wieder. Die Langobarden, die Männer mit den langen Bärten, drangen in Italien ein und slawische Völker machten sich auf dem Balkan breit. Syrien und Ägypten – die Kornkammer des römischen Reichs – gingen an die Sassaniden verloren. Kaiser Herakleios gelang es zwar 627 diese Gebiete zurückzugewinnen, doch die Schwächung des Reichs war unübersehbar. So gelang es dem arabischen Kalifen Omar in der Schlacht am Jarmuk am 20. August 636 einen entscheidenden Sieg zu erringen, was der ungestörten Herrschaft über Syrien und Palästina entsprach.
In Konstantinopel setzte sich allmählich die griechische Sprache gegenüber der bisher verwendeten lateinischen durch und auch Verwaltung sowie Gesellschaft gingen nun eigenständigere Wege, die sich vom römischen Reich abhoben. Die Ausprägung des Byzantinischen Reichs begann.
Die Hauptstadt Konstantinopel wurde während dieser Zeit drei mal erfolglos belagert:
626, 674 und 717. Die Stadt am Bosporus schien uneinnehmbar zu sein, was vielleicht auch am griechischen Feuer lag, jener Geheimwaffe, die man nur in Byzanz kannte. Es handelte sich dabei um eine spezielle Substanz, die einmal entzündet, mit Wasser nicht mehr gelöscht werden konnte. Bestens geeignet, um gegnerische Schiffe abzufackeln, Belagerungsgerät in Brand zu setzen oder feindliche Fußtruppen zu rösten.
Doch nicht überall lief es so gut. Es gelang nur mit Mühe Kleinasien gegen die arabischen Überfälle zu halten, auf dem Balkan stand man in ständigen Abwehrkämpfen gegen einfallende Slawen. 698 ging Nordafrika an die Araber verloren.
In den folgenden beiden Jahrhunderten erholte sich das Byzantinische Reich wieder etwas. Das verloren gegangene Kreta wurde unter Nikephoros II. Phokas den Arabern entrissen, Johannes I. Tzimiskes drängte nach Palästina und Syrien vor.
907 wehrte man einen Angriff der Rus zur See auf Konstantinopel ab. Die Rus waren ein Volk aus dem Norden, das diesen Namen wegen der überwiegend blonden Haare seiner Anhänger trägt. Weitere Angriffe 911 und 940 wurden ebenfalls erfolgreich abgewehrt. 944 wurde Edessa von den Arabern befreit. 987 heiratete die Schwester von Kaiser Basileios II. den russischen Großfürsten Wladimir, was die allmähliche Ausbreitung des orthodoxen Glaubens im Byzantinischen Reich zur Folge hatte. Basileios II. gelang es das donaubulgarische Reich zu unterwerfen, was ihm den Beinamen Bulgaroktonos einbrachte – Bulgarentöter. 1018 wurde Donaubulgarien eine byzantinische Provinz.
In der Schlacht von Mantzikert im Jahre 1071 folgte ein herber Rückschlag: Kaiser Romanos IV. Diogenes (1068-1071) verlor gegen die Seldschuken unter Alp Arslan, weil der byzantinische Adel geflohen war, um den Oberkommandierenden Mando Andonico Ducas auf den Kaiserthron zu setzen. Ein klassischer Fall des Verrats in der höchsten Not, denn Romanos geriet in Gefangenschaft. Der Kern Anatoliens ging dadurch verloren und hier entstand das Sultanat Ikonion.
In der Folge gingen die Städte Nikaia, Smyrna, Jerusalem und Antiochia verloren, da die militärische Macht von Byzanz einfach nicht mehr ausreichte, um alle Grenzen gleichzeitig abzusichern.
Die östlichen Provinzen des Byzantinischen Reichs waren auf den westlichen Teil Kleinasiens geschrumpft. Von hier zur Hauptstadt war es nur ein Katzensprung. Kein König auf der Welt freut sich darüber, wenn sein Palast in Grenznähe steht, in akuter Bedrohung eines feindlichen Überraschungsangriffs. Zwar lag Konstantinopel strategisch in einer günstigen Position, von drei Seiten von Wasser umgeben, im Süden vom Marmarameer, im Osten vom Bosporus sowie im Norden vom Chrysokeras, einer Meereszunge, die sich ins Hinterland wölbt. Die Landseite war durch meterhohe Mauern mit zahllosen Türmen geschützt.
Riesige, unterirdische Zisternen waren imstande, die Einwohner der Stadt auch bei einer längeren Belagerung mit Wasser zu versorgen. Die Größe einer solchen Zisterne, von der es mehrere gab, reichte zur Speicherung von bis zu achtzig Millionen Litern Wasser aus. Bei einer Bevölkerungszahl von 100.000 Menschen inklusive Soldaten hätte man also mehr als zwei Jahre durchhalten können! Selbst dann hätte man noch genügend in den anderen, teilweise auch kleineren Zisternen. Man sieht also, daß sich eine Belagerung von Konstantinopel gleichbedeutend mit einer Niederlage für den Angreifer entwickelt haben dürfte. Trotzdem bedeutete der Verlust von Anatolien eine Schwächung des byzantinischen Reichs, lagen dort doch recht lukrative Gebiete, die es zurückzugewinnen galt.
Das erste Angriffsziel der Kreuzfahrer nach Absprache mit Alexios war Nikaia. Die Stadt, am Ostufer des Askanischen Sees gelegen, war erst 1081 an die Rumseldschuken gefallen, die sie zur Hauptstadt gemacht hatten. Die Rumseldschuken hatten ein vom Großseldschukischen Reich getrenntes Reich gegründet – auf ehemals byzantinischem Territorium. Zu allem Übel verlief hier auch die wichtige von Konstantinopel über Nikomedeia nach Dorylaion führende Handelsstraße, deren Kontrolle anzustreben war.
Am 6. Mai 1097 kam das Heer der Kreuzfahrer vor der Stadt an, die man sogleich belagerte, da die starken Befestigungen, die wie zum Hohn noch aus der Zeit byzantinischer Herrschaft stammten, einen Direktangriff unmöglich machten.