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Was ist ein Leben wert? Und wer ist es wert, leben zu dürfen? Diese Fragen muss Bannerführer Geron von Nadisland sich stellen, als er einen Feind gefangen nimmt, der eingesteht, grausam gemordet zu haben. Als ein schreckliches Unglück geschieht, muss er erneut über das Leben seines Feindes entscheiden … Ca. 29.000 Wörter Im Taschenbuchformat hätte dieses Buch ca. 142 Seiten
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Was ist ein Leben wert? Und wer ist es wert, leben zu dürfen?
Diese Fragen muss Bannerführer Geron von Nadisland sich stellen, als er einen Feind gefangen nimmt, der eingesteht, grausam gemordet zu haben.
Als ein schreckliches Unglück geschieht, muss er erneut über das Leben seines Feindes entscheiden …
Ca. 29.000 Wörter
Im Taschenbuchformat hätte dieses Buch ca. 142 Seiten
L(i)ebenswert
von
Sandra Gernt
Ninosh rannte.
Wie noch nie in seinem Leben, das immerhin seit dreiundzwanzig Jahren währte, musste er alles geben, um selbiges zu bewahren.
Sie waren ihm dicht auf den Fersen.
Ninosh wusste, dass er verloren war. Sein gestohlenes Pferd hatte ihn abgeworfen, als es von einem Armbrustbolzen gestreift wurde. Mindestens zwanzig Mann waren es, die ihn jagten, allesamt beritten, schwer bewaffnet und wild entschlossen, ihre Beute nicht entwischen zu lassen. Gleichgültig wo er versuchte unterzuschlüpfen, sie scheuchten ihn aus jedem Versteck hoch. Als ihn schließlich ein Knüppel hart im Rücken traf und zu Boden schickte, war er beinahe dankbar. Froh, dass es vorbei war. Vielleicht brachten sie ihn rasch um ...
„Dreckige Vjalach-Sau!“ Ninosh wurde hochgerissen, angespuckt, herumgeschubst. Er hatte gewusst, wie riskant es als Vjalacher war, über die Grenze nach Nadisland zu schleichen, aber er hatte es nun einmal versuchen müssen, da die Überlebenschancen in seinem eigenen Land noch geringer waren.
Die Grenzpatrouillen der Nadisländer bestanden aus berittenen Kleintruppen von fünf bis dreißig Mann, man wusste nie, wo sie auftauchen würden. Eine Meile weiter im Landesinneren wäre Ninosh sicher gewesen. Dort wartete Ausrüstung in einem Versteck, unauffällige Kleidung, Geld, Proviant. Sie hatten ihn vorher erwischt und die halbe Nacht hindurch bis in den Morgen hinein gejagt. Hätte Ninosh nicht einen von ihnen überwältigen und dessen Pferd stehlen können, hätte die Jagd schon viel früher geendet … Und seine Häscher wären nun weniger wütend und übermüdet.
„Wegen dir ist ein gutes Pferd verletzt! Das wirst du büßen!“ Ein Stockhieb brachte Ninosh erneut zu Fall. Und plötzlich schlugen sie von allen Seiten auf ihn ein, traten nach ihm, beschimpften und verfluchten ihn.
Es dauerte nicht lange, bis er die Kraft zum Schreien verlor. Irgendwann hörte er das Gebrüll der Soldaten nicht mehr und auch der Schmerz rückte in weite Ferne …
Geron war in Gedanken versunken, als sein Pferd plötzlich im ruhigen Schritt stockte und aufmerkte. Sofort setzte er sich aufrecht in den Sattel, seine Hand zuckte zum Reitersäbel. Es war nicht ungefährlich, allein in Grenznähe unterwegs zu sein, auch am helllichten Tage nicht. Allen Patrouillen zum Trotz schafften es immer wieder einige Vjalacher, sich einzuschleichen, um ihre Posten auszuspionieren. Wenn er ihnen in die Hände fiel …
Doch da hörte er vielstimmige, wütende Rufe und gab seinem Hengst die Sporen. Das klang, als wäre ein harter Kampf im Gange, es war seine Pflicht als Bannerführer, dort mit einzugreifen. Dafür musste auch sein Auftrag ruhen, dem Bannerführer der Nordtruppen eine geheime mündliche Botschaft zu überbringen. Wirklich dringend war sie sowieso nicht.
Ohne Schwierigkeiten konnte er dem Gebrüll folgen und den Ort des Geschehens finden. Was er dort sah, trieb ihn vor Wut und Entsetzen aus dem Sattel: Eine ganze Reitergruppe, die einen wehrlosen Mann zu Tode zu prügeln drohte! Das widersprach allen Gesetzen, mit denen sie versuchten, ihre Menschlichkeit zu wahren, trotz der Unmenschlichkeit ihrer Gegner.
„Sofort aufhören!“, schrie er, warf sich in das Getümmel und stieß die Soldaten beiseite. Sie gehörten nicht zu seinen eigenen Leuten, stellte er dabei erleichtert fest.
„Was geht hier vor?“
Er kniete neben dem Verletzten nieder, der schwach stöhnend zusammengekrümmt am Boden lag. Es schien fast, als hätten die Soldaten absichtlich vermieden, ihn am Kopf zu treffen, was ihn rasch getötet hätte. Wenn, dann wohl vermutlich, um ihn länger quälen zu können. Er hoffte, dass das Unsinn war und sie sich in ihrer Wut eher zufällig auf Rücken und Beine des Opfers konzentriert hatten.
Die Kleidung verriet, dass es ein Vjalacher war, deren Stoffe nicht die Qualität der Nadisländer erreichte. Mehr konnte Geron auf dem ersten Blick nicht über ihn herausfinden.
„Bannerführer, dieses Schwein hat unseren Hauptmann überwältigt und dessen Pferd gestohlen! Wir haben ihn etliche Stunden lang verfolgt“, stammelte einer der Soldaten, die nun alle recht kleinlaut umherstanden. Er hatte Geron, der Tarnkleidung ohne Rangabzeichen trug, vermutlich an dessen dunkelbraunen Zopf erkannt – seit drei Jahren hatte er sich nicht mehr die Haare schneiden und einen kurzen Vollbart wachsen lassen, was eigentlich regelwidrig war. Bei ihm wurde es toleriert und es war sein Erkennungsmerkmal bei den Patrouillen geworden, zumindest bei den einfachen Soldaten; die Hauptmänner kannten ihn alle persönlich. Tatsächlich befand sich kein Führungsrang unter ihnen. Kein Wunder, dass die Dinge so außer Hand geraten waren.
„Hat er den Hauptmann getötet?“, fragte Geron betont sachlich.
„N-nein, das nicht …“ Betretene Blicke, dann erklärte schließlich einer der Männer seinen Stiefeln, dass der Hauptmann des Südlagers in der Nacht einem Ruf der Natur hatte folgen müssen. Der Gefangene hatte offenbar die Gelegenheit genutzt, dem Hauptmann einen Tritt in empfindliche, zudem gerade unbekleidete Körperteile, zu verpassen und sich danach mit dessen Pferd davongemacht. Da sie kein überzähliges Pferd mithatten und den Eindringling nicht verlieren durften, hatten die Soldaten ihren Führer zurücklassen müssen. Das war nicht nur einfach demütigend für den Hauptmann, denn offensichtlich hatte dieser zuvor bei der Jagd seine unerfahrene Truppe planlos in die Irre geschickt und sich leichtsinnig von seinen Leuten entfernt. Andernfalls hätte der Gefangene sich nicht so unbekümmert an ihn heranschleichen können und wie sonst war zu erklären, dass nicht einer der Männer zurückgeblieben war, um dem Hauptmann sein eigenes Pferd zu überlassen? Ein Verstoß der strikten Regeln, der Folgen für den Rang des Hauptmannes haben würde. Allerdings konnte Nadisland es sich nicht leisten, Führungsränge zu verlieren, selbst wenn sie unfähig waren. Nicht wegen einer solch nichtigen Angelegenheit, bei der es zwar noch viele offene Fragen und Ungereimtheiten gab, doch die Antworten interessierten ihn nicht.
Seufzend traf Geron eine Entscheidung.
„Ich übernehme den Gefangenen. Ihr kehrt zu eurem Lager zurück, sofort!“
„Werden Sie den Vorfall an den Kommandanten weitergeben, Bannerführer?“, fragte einer der Soldaten zaghaft.
„Verschweigen kann ich es nicht.“ Geron betrachtete die hängenden Köpfe der jungen Männer. Keiner von ihnen war älter als siebzehn, wenn überhaupt. Der Krieg dauerte schon viel zu lang, sie waren mittlerweile gezwungen, unausgebildete Kinder zu rekrutieren.
„Helft mir, den Gefangenen auf mein Pferd zu legen. Vielleicht muss ich dem Kommandanten nicht jedes einzelne Detail erzählen, wie ihr euren Hauptmann während der Jagd verloren habt.“
„Herr, wenn Sie mein Pferd nehmen, kommen Sie besser voran, als wenn Sie nebenher laufen müssen …“, murmelte einer der Soldaten.
„Ein guter Gedanke. Es würde Zeit sparen und sich gewiss vorteilhaft auf meine Laune auswirken.“
Geron gestattete sich kein Lächeln über den Eifer der jungen Soldaten und machte auch keine weiteren Andeutungen mehr. Sie sollten ein wenig schwitzen, immerhin hatten sie sich wie wilde Tiere auf einen wehrlosen Mann gestürzt.
Es gab ein striktes Protokoll, was mit aufgegriffenen Feinden zu geschehen hatte. Dazu gehörten Versorgung der Verletzungen, Verhör durch den Kommandanten und anschließend zügiger Weitertransport zum Hauptstützpunkt. Die Lager der Grenzpatrouillen bestanden aus wenig komfortablen Zelten, die innerhalb von ein paar Minuten aufgestellt und wieder abgebrochen werden konnten. Flexibilität war wichtiger als Bequemlichkeit. Wer hier seinen Dienst versah, war strafversetzt worden, hatte sich aus Überzeugung freiwillig gemeldet oder war zu jung, um im Hauptheer zu dienen.
Geron gehörte zu den Freiwilligen. Nachdem er bei einem Gefecht von mehreren Armbrustbolzen zugleich getroffen worden war und nur mit knapper Not überlebt hatte, war ihm ehrenvolle Entlassung angeboten worden, da nicht abzusehen gewesen war, dass er jemals wieder würde laufen können. Bei diesem Gefecht hatte Geron allerdings den einzigen Menschen verloren, der ihm nach dem Tod seiner Eltern jemals etwas bedeutet hatte. Für seine freiwillige Verpflichtung nach seiner Genesung hatte man ihn zum Truppenführer befördert und in die Grenzlande geschickt. Mittlerweile hinkte er lediglich leicht auf dem rechten Bein, wenn er sich überlastet hatte. Kommandant Krazon hatte ihn rasch zum Bannerführer erhoben, mit der wenig schmeichelnden Begründung, dass er jemand als rechte Hand brauchte, der weder ein Krimineller noch zu dumm war, um sein eigenes Zelt zu finden, oder bis gestern noch Muttermilch getrunken hatte.
In den vergangenen drei Jahren hatte Geron gelernt, zu Krazon aufzublicken, einen ruhigen, besonnenen Mann Anfang des vierten Lebensjahrzehnts. Der Kommandant, der die Befehlsgewalt über alle Patrouillen und Truppenverbände im Grenzland besaß, hielt mit seinen strengen Gesetzen und Idealen die Ordnung hoch. Er verhinderte Willkürlichkeit, Brutalität gegenüber Gefangenen und Ausschreitungen unter den Soldaten.
Geron war erleichtert, als er das Lager erreichte und sein Gefangener noch immer lebte. Er saß ab, gab einem Gefreiten Anweisungen, das geliehene Pferd zum Südlager zu bringen und ließ den Feldscher rufen. Tatkräftige Hände halfen ihm, den Besinnungslosen aus dem Sattel zu heben und vorsichtig zu Boden niederzulegen. Schon tauchte der kahl geschorene Kopf des Kommandanten auf. Geron erklärte mit kurzen Worten, was es mit dem Gefangenen auf sich hatte, dass sein Auftrag unerfüllt geblieben war und dass man den Hauptmann des Südlagers disziplinieren, vor allem aber in strategischer Führung nachschulen musste.
„Weiß man, ob er allein war?“, fragte Krazon, als er sich dem jungen Mann zuwandte. Erkennen und Erschrecken malten sich auf dem wettergegerbten Antlitz ab. Krazon atmete tief durch, die dunklen Augen auf den Fremden fixiert. Plötzlich holte er aus, schlug mit der Faust zwei Mal hart in das ungeschützte Gesicht des Besinnungslosen. Geron sprang dazu, wollte ihn aufhalten, doch Krazon war bereits zurückgewichen. Im gesamten Lager herrschte Totenstille, jeder Soldat war in der Bewegung erstarrt und beobachtete fassungslos das Geschehen.
Schockiert wusste Geron nicht, wie er reagieren sollte. Krazon fasste sich als erster.
„Bindet ihn dort an den Baum. Sitzend, Arme nach hinten. Keiner rührt ihn an, auch unser Feldscher nicht. Er bekommt kein Essen, keine Versorgung, kein gar nichts! Sollte er schreien, verpasst ihm einen Knebel. Sobald er wach wird, ruft mich, damit ich ihn verhören kann.“
Er warf einen hasserfüllten Blick auf den wehrlosen Mann zu seinen Füßen, wandte sich schwer atmend ab und stürmte davon.
Geron folgte ihm sofort und hielt ihn auf.
„Kommandant! Wer ist er? Sie hassen ihn, warum?“
„Er ist ein Feind, das genügt in seinem Fall“, spie Krazon hervor, packte Geron und zog ihn mit in das Zelt, vor dem sie stehen geblieben waren.
„Sie haben noch nie einen Gefangenen derart behandeln lassen, Kommandant, die Männer brauchen eine Erklärung!“, beharrte Geron. „Also, wer ist er?“
„Ich weiß es nicht.“ Krazon ließ den Kopf hängen und zwang sich sichtlich, ruhiger zu werden. „Ich schwöre, ich weiß es ganz einfach nicht. Soweit ich weiß, ist er … nein, ich weiß eigentlich gar nichts.“
Sein Blick verriet Geron, dass er nicht mehr über diese Sache erfahren würde. Er beschloss, die Angelegenheit vorerst ruhen zu lassen und den Kommandant in ein oder zwei Stunden wieder anzusprechen, hoffend, dass dieser sich bis dahin beruhigt hatte.
„Bannerführer, er ist kein gewöhnlicher Feind. Behandeln Sie ihn nicht wie einen Menschen.“ Krazon starrte ihn aufgewühlt an.
„Wie Sie wünschen.“ Geron nickte ihm zu, bevor er langsam hinausging. Er verstand es nicht, akzeptieren musste er es trotzdem.
„Kommandant, wir können ihn nicht so liegen lassen!“, sagte Geron leise. Sie starrten vom Zelteingang aus beide auf den jungen Mann, der mehr in seinen Fesseln hing als saß, das Gesicht von den langen blonden Haarsträhnen verdeckt, aus denen das Regenwasser strömte. Geron hatte mehrfach über den Tag hinweg versucht, Krazon zum Reden zu bringen und war stets fortgeschickt worden. Vor Stunden hatte es heftig zu regnen begonnen. Der Gefangene war die meiste Zeit besinnungslos geblieben. Jedes Mal, wenn Geron nach ihm sah, reagierte der Mann weder auf Ansprache noch sachtes Schütteln mit mehr als gequältem Stöhnen und Kopfschütteln. Gelegentlich berichtete einer der Soldaten, dass er sich gerührt hätte, doch das hielt nie länger als ein oder zwei Minuten vor. Mittlerweile war es dunkel geworden, und für den Hochsommer viel zu kalt. Der Regen fühlte sich mehr nach Spätherbst an und würde die Überlebenschancen des Gefangenen weiter verschlechtern.
„Wir haben seit dem letzten Sturm kein Zelt mehr übrig. Er ist ein Feind. Wem soll ich zumuten, ihn zu sich zu nehmen?“, murmelte Krazon mit schmal zusammengepressten Lippen. „Ich bleibe dabei, keine medizinische Versorgung, keine Sonderbehandlung.“
„Also gut.“ Geron seufzte, bevor er Haltung annahm. „Bitte um Erlaubnis, den Gefangenen von seinem Leid erlösen zu dürfen, Kommandant.“
„Sie wollen ihn töten?“ Krazon zögerte.
„Herr, ohne Versorgung leidet er wie ein Hund, der Regen wird ihn zusätzlich auszehren. Sprich, er wird verrecken. Wenn nicht heute Nacht, dann morgen. Ich sehe keinen Grund für solche Grausamkeit, Feind oder nicht. Wenn er keinem Nutzen zugeführt werden kann, ist es sinnlos, dass er sich zu Tode quälen muss.“
Abwägend neigte der Kommandant den Kopf. Seltsam, es war nicht seine Art, Menschenleben zu vergeuden. Genauso wenig, wie er jemals zuvor die Beherrschung verloren hatte. Welchen Grund mochte er haben, den Gefangenen zu hassen, den er nicht einmal beim Namen zu kennen schien?
„Ich will ihn auf jeden Fall befragen“, erwiderte er schließlich.
„Dann braucht er Hilfe.“
„Sie haben ihn gerettet. Sind Sie auch bereit, für sein Überleben zu sorgen, Geron?“ Krazons Blick verriet, dass der Kommandant mehr wusste, als er nach außen zeigte, gleichgültig was er behauptet hatte. Vorsichtig nickte Geron, unsicher, ob er sich wirklich darauf einlassen wollte. Doch es stimmte, er hatte sich entschieden, das Leben dieses Mannes zu schützen. Damit war er genauso für alles Weitere verantwortlich.
Entschlossen stürzte er sich ohne weitere Worte hinaus in den Regen. Noch bevor er den Gefangenen erreicht, war er durchnässt, da half auch die Kapuze des Umhanges nichts, den er sich übergeworfen hatte. Fluchend hockte er sich neben dem jungen Mann nieder, der nun langsam den Kopf hob und ihn ansah. Um genau zu sein, er starrte mit verschleiertem Blick auf das Messer in Gerons Hand, mit dem er die Fesseln durchschneiden wollte. Die Dankbarkeit und Erleichterung verwirrten Geron – sie schienen ihm weit über das hinauszugehen, was man erwarten sollte, wenn jemand lediglich aus dem Regen herausgeholt wurde.
„Stich zu“, flüsterte der Gefangene. „Herz oder Kehle, ist mir gleich.“
„Ich – ich bin nicht hier, um dich zu töten“, murmelte Geron betroffen. Für einen Moment wünschte er, es wäre so. Der junge Mann hatte bereits einiges durchlitten und ihn würde wenig Gutes in der Hand seiner Feinde erwarten, solange Krazon bei seiner harten Linie blieb. Aber der Befehl des Kommandanten lautete nun einmal, ihn für die Befragung am Leben zu erhalten. Mit zusammengepressten Kiefern schnitt er ihn frei, vermied es dabei, in das hoffnungslose Gesicht zu schauen. Kurz schwankte er, ob er ihn zu Krazon bringen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Dass der Mann für ein paar Minuten wach war, machte ihn noch nicht bereit für ein Verhör.
„Na komm, hoch mit dir!“ Geron packte ihn unter den Armen und zog ihn hoch, wissend, dass er dabei Druck auf die schweren Prellungen ausübte. Der junge Mann schrie heiser, sackte dann wimmernd zusammen. Ächzend und fluchend schleifte Geron den erneut Besinnungslosen zu seinem Zelt, ließ ihn vor dem Eingang liegen und ging selbst hinein. Hastig entzündete er die Laterne, die an einer Zeltstange befestigt war und schuf Platz, was bei der Enge kaum möglich war, bevor er ihn holte.
Geron verschnaufte kurz. Wie sollte er diesem nassen Bündel winselndes Elend beistehen?
Erst mal raus aus dem nassen Zeug!
Er streifte sich selbst die Stiefel ab und legte den durchweichten Umhang sowie die Hose beiseite, damit sie ihn nicht störten. Sie waren von Statur und Größe ähnlich gebaut, der Gefangene war lediglich schmaler in den Schultern; Geron konnte ihm also von seinen eigenen Sachen etwas abgeben. Dazu musste er seinen unfreiwilligen Gast allerdings erst einmal ausziehen. Seufzend zerrte er an den schlammbedeckten Stiefeln, deren Leder bereits zu verhärten begonnen hatte. Sie lösten sich ebenso unwillig wie anschließend die völlig verdreckte Hose. Angewidert warf Geron den vollgesogenen Stoff in die äußerste Ecke des Zeltes. Hätte er sich doch früher ein Herz gefasst, Krazon festzunageln, statt zu warten, bis der Junge in Regenfluten und Schlammpfützen versunken war!
Als er sich wieder umwandte, blickte er in weit aufgerissene Augen, die ihn verängstigt anstarrten. Der Grund für diese Furcht wollte Geron nicht einleuchten. Glaubte der etwa, man wolle ihm die Stiefel stehlen? Vor weiteren Schlägen dürfte er jedenfalls keine Angst haben, es war doch offensichtlich, dass er nicht hier war, um gefoltert zu werden.
Ihm ist es vielleicht nicht klar. Völlig bei Sinnen ist er wohl nicht.
Kopfschüttelnd zerrte er ihn zum Sitzen hoch, was mit atemlosen Schmerzensschreien kommentiert wurde, und befreite ihn von dem Rest der durchweichten Kleidung. Nun wurde das volle Ausmaß der Verletzungen deutlich: Von Kopf bis Fuß prangten dunkle Blutergüsse in allen Größen auf der hellen Haut. Der Rücken sah noch schlimmer aus als Bauch und Brust, von den Beinen ganz zu schweigen. Es gab keine Position, in der der junge Mann schmerzfrei liegen könnte, also bettete Geron ihn wieder auf den Rücken, diesmal etwas behutsamer. Dennoch wimmerte er bei jeder Bewegung und blieb anschließend verkrampft liegen. Das Atmen bereitete ihm offenbar große Mühe und noch immer stand heillose Angst in seinen Augen.
„Was hast du?“, brummte Geron. Wie erwartet bekam er keine Antwort. Er hatte nichts, womit er ihn abtrocknen könnte und besaß lediglich eine Decke. Ihm jetzt etwas anzuziehen wäre sinnlos, darum beschloss er, ihn erst einmal so zu belassen, auch wenn er erbärmlich zitterte.