Larry Brent Classic 071: Der Totensauger von Nürnberg - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 071: Der Totensauger von Nürnberg E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Larry Brent und Iwan Kunaritschew werden nach Nürnberg gerufen. Auf den Friedhöfen der Stadt werden Gräber geschändet, aus der Leichenhalle verschwinden tote Frauen. Als die beiden PSA-Agenten eintreffen, geschieht ein grausamer Doppelmord. Als Bonus: Eine Larry Brent-Leser-Story!

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Band 71

Dan Shocker

DER TOTENSAUGER VON NÜRNBERG

Erscheinungstermine von Larry Brent „Dr. Satanas Totensauger von N.“

15.07.1975 als Silber Grusel-Krimi Nr.95

März 1977 als Silber Grusel-Krimi-Neuauflage Nr. 95

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Lindner

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Illustration: www.ralph-kretschmann.de

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-871-6

Er löste seinen Mund von ihren heißen, feuchten Lippen und strich zärtlich über ihre Haare. Draußen pfiff der Wind. Sie hörten ihn nicht, waren versunken und hatten die Welt um sich herum vergessen. Leise und monoton lief der Motor, und das Heizgebläse ließ die Temperatur im Innern des Wagens nicht absinken. Thomas Linner blickte seiner Freundin tief in die Augen. „Glücklich?“, fragte er.

„Sehr“, flüsterte sie. Ihre Augen glänzten. Die Neunzehnjährige lächelte. „Allerdings …“

„Was ist allerdings?“, fragte er erschrocken.

„Allerdings wird es mir hier langsam zu ungemütlich. Du solltest dir entweder einen größeren Wagen zulegen, oder das nächste Mal ein Hotel mieten. Hier ist es verdammt eng.“ Sie seufzte und schlang lachend ihre nackten Arme um seinen Hals.

Linner kam nicht mehr dazu, etwas auf die Bemerkung zu erwidern. Die Tür wurde aufgerissen. Der junge Mann warf den Kopf herum, Anita schrie entsetzt, als der Fremde wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen stand und sie mit gierigen Augen musterte.

„Was wollen Sie hier? Machen Sie, dass Sie verschw…“ Weiter kam Linner nicht. Ein Schuss krachte. Der Fremde, ein kleiner Mann mit gierigen Augen hatte eiskalt abgedrückt. Die Kugel drang Thomas Linner ins linke Auge. Lautlos sackte der Getroffene auf die Seite.

Anita schrie auf, versuchte aus der Beifahrertür zu entkommen. Der Tote, quer über ihr liegend, hinderte sie jedoch daran. Und der Mörder drückte ein zweites Mal ab. Die Kugel drang der jungen Frau mitten in die Brust und warf sie zurück. Sie schrie wie von Sinnen, riss ihre Beine empor, trat die Leiche zur Seite und bäumte sich auf. Ein dritter Schuss! Ihr Kopf fiel zur Seite, ein dünner Blutfaden lief aus dem Einschussloch genau zwischen ihren Augen.

Der Mörder sah sich zufrieden um. Dunkelheit! Bedeckter Himmel. Weit und breit kein Mensch. Der kleine Mann mit den etwas hervorquellenden Augen und dem bleichen teigigen Gesicht leckte sich nervös über seine schmalen Lippen. Dann steckte er die Waffe in die Hosentasche, beugte sich nach vorn, griff nach den nackten Beinen der Toten und zog sie langsam aus dem Wagen. Lustvoll betrachtete er die Tote, dann riss er sie vollends zu sich, presste seine Lippen auf die noch blutende Brustwunde und saugte ihr das Blut aus.

Im Nürnberger Untersuchungsgefängnis ging ein Mann in der Zelle 27 nervös auf und ab. Sein Gesicht war bleich, seine Augen glühten wie Kohlen. Er tappte im Kreis wie ein Tier, warf sich auf das harte Bettgestell und krallte seine Fingernägel in die grün gestreifte Matratze. Dann sprang er plötzlich wie von einer Tarantel gestochen hoch. „Lasst mich hier raus!“, brüllte er und trommelte wie ein Verrückter gegen die Tür. „Ich werde wahnsinnig, versteht ihr denn nicht! Ich brauche Blut, viel Blut. Ihr bringt mich ja um!“ Seine Stimme klang mit einem Mal weinerlich und bittend. Die Anspannung, die sich auf seinen Zügen eben noch gezeigt hatte, schwand. Ein kindlicher, irrer Ausdruck war zu erkennen.

„Warum bringt ihr mir denn nicht, was ich verlange?“, stöhnte er, sich gegen die Tür lehnend. Sein Trommeln wurde schwächer. „Ich brauche mindestens einen Liter Blut.“ Um seine Lippen zuckte es. Sein Atem wurde unruhig. Der Häftling drückte seine heiße Stirn gegen die Tür und schlug mit aller Kraft gegen das Metall. Lauthals schrie er nach den Wärtern.

Die hörten den Krach. Sie machten zu zweit Nachtdienst. Der eine packte gerade ein dick belegtes Wurstbrot aus, der andere legte Patience.

Der Kartenspieler hob den Blick. „Der Klomberg macht uns mal wieder den ganzen Laden rebellisch“, knurrte der untersetzte Gefängniswärter und warf einen Blick auf die alte elektrische Uhr an der Wand. „Kurz vor elf. Um diese Zeit kriegt er meistens seinen Rappel.“ Seufzend schraubte er sich aus dem Stuhl hoch und griff nach dem Schlüsselbund. „Ich sehe mal nach. Vielleicht hat er wieder eine Eingabe verfasst.“

„Ich komme mit.“ Der andere, der ihn um zwei Köpfe überragte, trug das Haar streng gescheitelt, er war vier Jahre älter als der fünfzigjährige Horst Baier. Die beiden Männer verließen den Aufenthaltsraum. Trübe, nackte Birnen brannten auf dem Korridor. In einigen Zellen entstand Unruhe. Jemand rief: „Ruhe!“ Ein anderer: „Ich werde mich beschweren, wenn der Krach hier nicht bald abgestellt wird. Sauladen!“

Irgendwo wurde gegen die Tür getreten. Die beiden Beamten störten sich nicht daran. Ihre Schritte hallten durch den Gang. Die Zelle des Häftlings, der nach Blut verlangte, lag in der ersten Etage. Dort tobte Klomberg wie von Sinnen. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Die beiden Beamten beobachteten ihn durch das Guckloch.

Der Gefangene trat und schlug gegen die Tür. „Ihr lasst mich hier zugrunde gehen!“, brüllte er. „Ihr wisst genau, dass ich es brauche. Aber es ist euch egal. Hier, gebt das der Gefängnisleitung!“ Er streckte den Männern ein Stück Papier an das Guckloch.

Baier griff mit spitzen Fingern danach. Der Geruch von Schweiß schlug ihm entgegen. Max Klomberg atmete wie ein gejagtes Tier, stand mit hängenden Schultern leicht nach vorn gebeugt undstierte wie ein Irrer auf das Guckloch. Der beleibte Beamte entfaltete den feuchten, schmutzigen Zettel. Mit zittrigen Buchstaben stand nur darauf geschrieben: Beschafft mir sofort Blut! Aber nur von jungen, schönen Frauen!

Die beiden Männer warfen sich einen kurzen Blick zu.

Baier wandte sich an den Häftling. „Legen Sie sich jetzt bitte hin! Es ist schon spät“, sagte er mit ruhiger, fester Stimme.

„Aber mein Antrag! Sie haben meinen Antrag noch gar nicht gelesen!“

„Doch. Wir haben ihn gelesen und geben ihn weiter. Darüber können wir nicht entscheiden.“

Der hagere Begleiter an Baiers Seite konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen.

„Macht doch mal eine Ausnahme! Bitte! Ohne Blut muss ich bald sterben. Ich brauche es, um meine Kraft zu erhalten.“ Er stand jetzt ganz dicht vor dem Guckloch und presste sein Gesicht an das kühle Metall. Seine Augen flackerten in wildem Feuer.

„Halten Sie bitte Ruhe“, ermahnte der beleibte Beamte ihn. „Sie sind hier nicht alleine. Wenn Sie keine Ruhe geben, verlegen wir Sie in eine Dunkelzelle.“

„Bringt mir Blut! Noch heute Nacht. Wartet nicht zu lange!“ Der als Vampirmörder bezeichnete Klomberg fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung über sein kreideweißes Gesicht, drehte den Kopf, lief wie von Sinnen durch seine Zelle und blieb dann abrupt stehen. Seine Augen hatten etwas erfasst. Die beiden Männer vor der Zellentür hielten den Atem an und wurden Zeuge dessen, was sich in den nächsten Sekunden abspielte.

Max Klomberg stöhnte. Als würde er durch geisterhafte Kräfte ferngelenkt, hob er plötzlich beide Arme, seine Finger zitterten leicht. Das Zittern verschwand. Der Gefangene setzte sich langsam, wie eine Raubkatze die ihr Opfer ausfindig gemacht hat, in Bewegung. Er stieg auf sein Bett. Das Gestell knarrte.

Die beiden Gefängniswärter blickten sich an. „Was ist denn jetzt in ihn gefahren?“, fragte der Hagere. Er musste sich etwas bücken, und Baier verlagerte seinen Kopf etwas zur Seite, um seinem Begleiter bessere Sicht zu ermöglichen. Sie hätten es einfacher haben können, wenn sie die Tür geöffnet hätten, doch davon nahmen sie Abstand. Klombergs Zelle betraten sie nur, wenn es unumgänglich war. Dann sahen sie, was die Aufmerksamkeit des bleichen Mannes mit den hervorquellenden Augen erregt hatte. In der Ecke oberhalb des Bettes, links neben dem kleinen vergitterten Fenster, durch das das ferne Licht einer Straßenlaterne matt sickerte, bewegte sich eine fette Spinne und zogsich an einem klebrigen Faden nach oben. Klomberg wurde wieder zum Jäger. Seine Rechte schoss blitzschnell vor. Er griff nach dem Tier und hielt es sofort zwischen seinen Fingern. Er fackelte nicht lange und schob sich die Spinne zwischen die Zähne, bis nur noch die langen, gekrümmten Beine wie zuckende Fäden über seine Lippen ragten.

Der Hagere wandte sich ab, schob die Klappe vors Loch und drehte sich um. „Das haut den dicksten Eskimo vom Schlitten“, murmelte er und öffnete seinen obersten Kragenknopf.

„Der Bursche ist wahnsinnig“, knurrte Baier. „Der gehört in die Klapsmühle.“

„Er wollte doch unbedingt Frauenblut trinken“, stöhnte der Hagere. „Dann wollen wir hoffen, dass er ein Spinnenweibchen erwischt hat.“

Der Mörder löste seine blutverschmierten Lippen von der Wunde und saugte dann auch noch das Blut aus der Stirn der Toten. Plötzlich schreckte er zusammen. Ein Geräusch? Er ließ sein totes Opfer los, warf den Kopf herum und starrte in die Finsternis. Das Geräusch kam näher. Ein leises gleichmäßiges Quietschen. Der unheimliche Mörder hielt den Atem an, griff nach seiner Pistole und entsicherte sie. In der Dunkelheit vor ihm, mitten auf dem breiten Feldweg, der durch den Lindelburger Wald führte, näherte sich ein Radfahrer. Schwach leuchtete das Licht der Lampe.

Dann wurde der einsame Radfahrer auf den unbeleuchteten Wagen am Wegrand aufmerksam, er sah die offenen Türen. Der Radfahrer, ein junger Mann mit Kameraausrüstung, stutzte, als er die zwei langen Frauenbeine durch die Beifahrertür ragen sah. Dann tauchte hinter ihm ein Schatten auf. Ein Schuss krachte. Der Mann auf dem Rad spürte die Luft heiß an seinem Ohr vorbeistreichen. Instinktiv ließ er sich fallen. Gleichzeitig bellte hart und trocken ein zweiter Schuss auf. Dumpf klatschte das Projektil in einen Baumstamm, Holzsplitter spritzten wie wütende Hornissen über den Kopf des zu Tode erschrockenen Mannes hinweg.

Der Schütze löste sich hinter der Tür und lief um das Auto herum. Für den Bruchteil eines Augenblicks konnte der auf dem Boden liegende Mann das Gesicht des Fliehenden erkennen, der querfeldein lief und hinter Erdhügeln in der Dunkelheit verschwand.

Die Schritte entfernten sich, die gespenstische Kulisse blieb. Hans Medler rappelte sich auf, klopfte Erde von seiner Kleidung und ging wie in Trance auf den offenen, beleuchteten Wagen zu. Das Grauen packte den jungen Amateurfotograf, als er die blutverschmierten Sitze und die beiden Leichen sah. Er rührte nichts an, lief zu seinem Rad, ließ die Fotoausrüstung am Wegrand liegen und raste wie von Furien gehetzt den Feldweg in Richtung Straße. Die nächste Telefonzelle lag mehrere Kilometer weit entfernt. Ebenso die neue Siedlung, die genau in entgegengesetzter Richtung gebaut wurde. Dort waren nur einzelne Häuser bewohnt. Es erschien ihm zu aufwendig, dorthin zu fahren. Die Straße, die direkt nach Nürnberg führte, lag näher. Vielleicht konnte er einen Autofahrer anhalten. Der Feldweg stieß auf die asphaltierte Straße. In der Ferne näherten sich Lichter. Ein Wagen.

Medler lief dem Fahrzeug entgegen und winkte. „Stehenbleiben! Bitte, halten Sie an!“, rief er, als er sich im Bereich der Scheinwerfer befand. Er winkte wie von Sinnen. Der Fahrer verlangsamte geringfügig und der junge Mann schöpfte Hoffnung. Da schlug der Fahrer einen Bogen um ihn. Medler sah ein verängstigtes Ehepaar hinter der Frontscheibe. Eine ältere Frau drückte den Türsicherungsknopf innen herab.

„Nein!“ Medler schüttelte den Kopf. „Sie brauchen vor mir keine Angst zu haben! Ich brauche ihre Hilfe!“

Niemand hörte ihn. Der Wagen brauste vorbei. Die Rücklichter wurden kleiner. Medler presste die Lippen zusammen und warf einen nervösen Blick auf den Feldweg nahe am Waldrand, wo er gerade dem Grauen begegnetwar. Nur wenige hundert Meter von der Hauptverkehrsstraße entfernt, waren zwei Menschen ermordet und ein Mordversuch auf ihn unternommen worden. Er kniff sich in den Arm. Das alles kam ihm vor wie ein schlechter Traum. Aber es war kein Traum! Er war hellwach. Fahrig strich er sich durch die Haare. Er war verschwitzt. Seine Haare hingen ihm in die Stirn. Er machte gewiss keinen guten Eindruck, wenn er, eine knappe Stunde vor Mitternacht, in dieser abgelegenen Gegend herumlief und versuchte, einen Wagen anzuhalten. Hans Medler konnte die Leute verstehen, wenn sie nicht anhielten. Heutzutage musste man vorsichtig sein. Es passierte viel. Mit den Schreckensmeldungen, die man sonst nur in der Zeitung las, konnte man plötzlich konfrontiert werden, wie sein nächtliches Erlebnis bewies.

Aus Richtung Nürnberg näherte sich ein Wagen. Er fuhr schnell. Wieder winkte Medler, wieder vergeblich. Der Fahrer, eine allein am Steuer sitzende Frau, warf ihm nur einen schnellen Seitenblick zu. Zwei Mal wurde ebenfalls nicht angehalten. Medler spielte schon mit dem Gedanken, sich auf sein Rad zu schwingen und selbst den Weg zur nächsten Telefonzelle zu fahren. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab, den Tatort zu verlassen. Vielleicht hatte sich der Mörder in der Nähe versteckt und wartete nur darauf, seinen Unterschlupf zu verlassen. Nicht ausgeschlossen war es auch, dass er noch mal an den Tatort zurückkehrte, weil er glaubte, dass Medler möglicherweise die Flucht ergriff. Viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Manche waren unsinnig, und so ertappte er sich dabei, dass er sogar Überlegungen anstellte, die eigentlich nicht ihm, sondern der Polizei zukamen. Siedendheiß überlief es ihn. Er dachte daran, was geschah, wenn immer mehr Zeit verstrich. Er hatte die Toten entdeckt und war zufällig auf den Mörder gestoßen. Aber je länger er sich hier aufhielt, desto weniger würde man ihm abnehmen, dass er nur darauf gewartet habe, einen Wagen anzuhalten. Und er, Medler, konnte selbst in den Verdacht geraten, mit diesen Dingen etwas zu tun zu haben. Sein Herz klopfte wie rasend. Da kam wieder ein Fahrzeug. Medler stellte sich mitten auf die Straße neben sich sein Fahrrad, sodass er fast die ganze Fahrbahn einnahm. Er winkte verzweifelt. Das Fahrzeug, ein rostroter Citroen 2 CV, stoppte.

Ein junger Mann mit Vollbart stieß das Fenster auf. „Hallo, Kamerad, hast du ein paar über den Durst getrunken?“

Medler ließ sein Rad einfach fallen und lief um die Kühlerhaube des Autos herum. „Weder das eine noch das andere“, sagte er mit rauer Stimme. „Ich brauche Ihre Hilfe. Zwei Menschen wurden erschossen. Rufen Sie bitte die Polizei! Ich warte hier. Fahren Sie los, bitte! Es eilt.“

Der Bärtige kniff erschrocken die Augen zusammen. „In Ordnung. Meine Ente schafft noch seine sechzig. Mehr ist leider nicht drin.“ Mit diesen Worten ließ er die Kupplung los und gab Gas. Es schepperte und die Motorhaube wackelte, als wolle sie sich aus der Halterung lösen. Der Bärtige saß wie ein Bomberpilot hinter dem Steuer und umklammerte es mit festem Griff, als befürchtete er bei der nächsten Unebenheit ein Ausbrechen seines Fahrzeugs. Unwillkürlich musste Medler grinsen, wurde dann aber wieder ernst, als er den Blick Richtung Feldweg wandte. Das Gefühl, aus der Düsternis von den gierigen Augen des Mannes, der auf ihn geschossen hatte, beobachtet zu werden, griff wie eine kalte Hand nach ihm.

Die Polizei kam mit zwei Fahrzeugen. In dem einen saßen Uniformierte. In dem anderen drei Männer in Zivil. Einer eilte auf Medler zu. „Kommissar Eppstein!“ Der Mann war groß, hatte kluge Augen und ein sympathisches Gesicht. Sein Haar war schon etwas schütter.

„Medler“, stellte sich der Amateurfotograf vor, die ihm entgegengestreckte Hand ergreifend. „Dort hinten ist es. Es tut mir leid, dass ich Sie nicht schon früher verständigen konnte.“ Dann sprudelte alles aus Medler hervor. Er berichtete in allen Details. „Ich habe den Mörder gesehen“, sagte er schließlich. „Er ist davongelaufen. Ich muss ihn überrascht haben.“

„Wie kamen Sie hierher?“, fragte Eppstein.

„Ich bin seit Anbruch der Dunkelheit im Wald“, erklärte Medler. „Um Aufnahmen zu schießen.“ Das Wort kam ihm plötzlich komisch vor.

„Aufnahmen zu schießen? Mitten in der Nacht?“, hakte Eppstein nach.

„Das mag für einen Außenstehenden seltsam klingen. Ich bin begeisterter Fotoamateur und beteilige mich am Wettbewerb einer Fachzeitschrift, Herr Kommissar. Dort werden die besten Aufnahmen prämiert, die den Wald in seiner heutigen Form und Gestalt zeigen. Unter anderem das nächtliche Tierleben in unseren Wäldern. Ähnliches wurde bisher in dieser Form noch nie durchgeführt. Ich arbeite mit hochempfindlichem Infrarot Filmmaterial.“

Eppstein nickte nur. Inzwischen hatten sie den schaurigen Platz erreicht. Alles war unverändert. Wortlos begannen die Beamten mit ihrer Arbeit, und eine Zeit lang schien es Medler, als hätte man ihn vergessen. Er stand abseits am Weg und beobachtete die Arbeit der Beamten. Scheinwerfer wurden aufgestellt, die Kamera wurde in Position gebracht. Ein Beamter pinselte rund um die Türgriffe eine rußartige Masse und nahm Fingerabdrücke. Ein weiterer rührte einen Gipsbrei an, den er in die Fußspuren rund um das Auto goss, auch einen gut erhaltenen Abdruck am Feldrand goss er auf diese Weise aus. Alles lief routiniert ab.

Ein Projektil konnte sichergestellt werden. Eine kriminologische Untersuchung würde den Beweis erbringen, dass diese Kugeln aus der gleichen unauffindbaren Waffe stammten, mit der auch die beiden Opfer erschossen worden. Eppstein kniete neben der bis zum Hals mit einer aus einem Polizeifahrzeug geholten Plane zugedeckten jungen Frau. Der Körper der Frau war ungewöhnlich bleich. Die Wunden an Brust und Kopf zeigten blutverschmierte Lippenabdrücke. Eppstein und der Beamte an seiner Seite blickten sich an.

Der Kommissar zog eine Zigarette aus einer Schachtel und schob sie sich zwischen die Lippen, nachdem er seinem Nebenmann ebenfalls eine angeboten hatte. Die unangezündete Zigarette im Mund, knurrte Kurt Eppstein: „Das gleiche Bild, nicht wahr?“

Sein Kollege nickte. „Aber es kann nicht sein.“

Eppstein erhob sich mit ernster Miene und ging auf den Amateurfotografen zu. „Erlauben Sie mir noch eine Frage, Herr Medler.“

„Gern, Herr Kommissar. Wenn ich sie Ihnen beantworten kann.“

„Können Sie den Mann, den Sie gesehen haben, beschreiben?“

„Er war etwa eins siebzig groß.“ Medler schloss die Augen, als müsse er sich noch mal genau vorstellen, wie eigentlich alles gewesen war. „Dunkles Haar, dunkelbraun, vielleicht schwarz. Etwas schütter. Ganz genaukann ich das nicht sagen. Schließlich war es dunkel. Aber sein Gesicht! Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter, Kommissar. Ich würde den Mann unter Tausenden wiedererkennen. Schmaler, breiter Mund, ein breites Gesicht. Sehr auffällig die Augen. Stark hervortretend.“

Eppsteins Miene blieb reglos. Er nahm die Zigarette, die er vergessen hatte anzuzünden, wieder aus dem Mund. „Ich möchte Sie bitten, mit auf das Kommissariat zu kommen, Herr Medler. Dort werde ich Ihnen ein paar Fotos zeigen.“

Der Leichenwagen wurde gerufen, der eine halbe Stunde später eintraf und die Toten in Zinksärgen abholte. Hans Medler nahm in Eppsteins Dienstwagen Platz. Sein Fahrrad und die Kameraausrüstung wurden in einem Polizeiwagen mitgenommen.

Als Medler kurz nach Mitternacht in das Kommissariat kam, fühlte er sich trotz der Aufregungen nicht müde und zerschlagen. Eppstein legte ihm aus einer Mappe mehrere großformatige Bilder vor. In Begleitung des Kommissars befanden sich die beiden jüngeren Beamten, die bereits am Tatort die Spurensicherung vorgenommen hatten. Ohne zu zögern, zeigte Medler auf eine Fotografie. „Das ist er!“

Eppstein betrachtete erschrocken das Bild.

„Das breite Gesicht, die schmalen Lippen, das dunkle, leicht schüttere Haar und vor allem die hervorquellenden Augen, Kommissar“, sagte der Amateurfotograf. „Das ist er! Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Dieser Mann hat vor gut anderthalb Stunden auf mich geschossen.“

„Wenn die Sache nicht so ernst wäre, würde ich jetzt lachen, Herr Medler.“ Kurt Eppsteins Reaktion irritierte den jungen Mann, und Medler blickte einen Beamten nach dem anderen an, als wisse er nicht so recht, was er mit der Bemerkung des Kommissars anfangen solle. „Diesen Mann haben wir wegen einiger merkwürdiger Verbrechen in den letzten Wochen und Monaten festgenommen. Er sitzt seit vier Wochen in U-Haft. Hinter Schloss und Riegel. Und Sie sind wirklich sicher, ihn heute Abend am Tatort gesehen zu haben?“

„Ganz sicher!“ Medlers Stimme klang fest.

 „Das werden wir gleich haben.“ Eppstein griff zum Telefonhörer, drehte die Wahlscheibe und nagte an seiner Unterlippe. In dem alten Büroraum war es so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören. Am anderen Ende der Strippe meldete sich laut und deutlich eine markige Stimme. Eppstein sprach mit dem Gefängniswärter und fragte nach dem seltsamen Vogel in Nummer 27. „Ich hätte gerne gewusst, wie es ihm geht, Baier.“

Die Nachricht, die Eppstein empfing, schien ihn nicht ganz zufriedenzustellen. „Sehen Sie doch bitte mal nach. Ja, ich warte.“

Die Zeit verging. Den Männern im Büro kam es vor wie eine Ewigkeit. Eppstein hielt ununterbrochen den Hörer ans Ohr. Der Kommissar rauchte mit unübersehbarer Nervosität. „Ja, und wie sieht es aus?“, fragte er und hörte dann aufmerksam zu. Sein Gesichtsausdruck blieb bis auf die zusammengekniffenen Augen unverändert. „Jetzt ist er wieder ruhig? Gut, Baier. Ich komme morgen früh, nein, heute früh, zu Ihnen rein. Ich schaue mir Ihren Bericht an und Danke für’s Nachschauen! Gute Nacht!“ Er legte auf.