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Wenn der Winter Einzug hält, entfaltet sich eine ganz besondere Magie. Klirrende Kälte, leise fallender Schnee und die wohlige Wärme drinnen laden dazu ein, innezuhalten und die kleinen Wunder der kalten Jahreszeit zu entdecken. Mit unserem Winterlesebuch „Leben pur – Wintergefühl“ möchten wir Sie auf eine literarische Reise durch frostige Tage und gemütliche Abende mitnehmen. Ob mit einer heißen Schokolade vor dem Kamin, eingemummelt unter einer Decke oder nach einem erfrischenden Spaziergang durch die Winterlandschaft – unsere abwechslungsreichen Kurzgeschichten und Gedichte lassen die Winterzeit auf besondere Weise erstrahlen. Geschichten, die wie Schneeflocken so vielfältig sind, mal sanft und leise, mal packend und voller Überraschungen. Tauchen Sie ein in die zauberhafte Welt des Winters und genießen Sie die stillen Momente, in denen die Magie des Lebens besonders spürbar wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Leben pur Wintergefühle
Martina Meier (Hrsg.)
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Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2025 – Herzsprung-Verlag GbR
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2021.
Illustrationen Cover: © olegganko - Adobe Stock lizenziert,
ISBN: 978-3-99051-350-7 - Taschenbuch
ISBN: 9978-3-99051-351-4 - E-Book
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Kälte rockt
Winterfreud und Winterleid …
Lichterfest
Dezembertag
Ein Wintermorgen voller Freude
Miniaturen
Kalt
Der Garten jenseits der großen Esche
Winterlicht
Das Silberschiff
Zauber des Raureifs
Wintersonnen-Illusionen
Weihnachtswunder
Weiß wie früher
Die Engel Chroniken:Das Mount-Everest-Abenteuer
Sommerlied
Die Nacht der verlorenen Worte
Wintereinbruch
Schachmatt
Spuren
Im Schnee
Februarsonne
Ganz unverkrampft
Exodus La Bresse
Des Winters Lied
Honeymoon im Schnee
Winterbatterie
Marthas Winterfeeling
Erinnerungen an Paula
Eisig
Stella und die Weihnachtsüberraschung
Zehn kleine Glühweintassen
Erwachsensein kann man auch später noch
Raureifrose
Safety first – aller Anfang ist langsam
Flieg, Flöckchen, flieg!
Winterfreuden
Gefangen im Wintertraum
Das schönste Geschenk
Familienzusammenführung
Was für ein Winter
Weihnachten
Einfach megacool
Leben nur
Das kleine Wassertröpfchen
Dicke Freunde
Wunderweiße Nacht
Der Geschichtenerzähler
Winterabend
Die wundersamen Weihnachtsschneeflocken
Wintereinbruch
Winterdetektive
Schneetreiben
Der Wintermantel
Naturtalent
Yuki und der Schnee
Wintermärchen
Und das wegen ein paar … winterlicher Love-Troubles
Christrose
Schnee, Schnee, Schnee
Ein zauberhafter Moment
Auf der Schlittschuhbahn
Der Schlüssel zum kleinen Glück9
Stippvisite im Schwimmbad
Die ersten kleinen Wintervorboten
Kalte Weihnachten
Winter-Slam im Stadtteil-Kino
Auf Abwegen – Unterwegs im Eichkopf
Minusgrade
Wintergefühle der Kindheit
Stille Nacht, einsame Nacht
Schneetauglich
Winterliche Eindrücke
Winterfreude
Der Winterexpress
Jeder wird gebraucht
Liebesjagd im Schnee
Lebender Schnee
Fieber-Idylle – vorweihnachtlich
Letzter Wintertag
Heimat erleben - Geschichten erzählen
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Andrea Tillmanns
Andreas Herkert-Rademacher
Andreas Rucks
Anna Christin Stahl
Babette Engels
Barbara Neymeyr
Beate Rola
Bernhard Finger
Birgit Clüsserath
Chantal Wobito
Charlie Hagist
Christa Blenk
Christian Günther
Christian Knieps
Christine M. Bigley
Christina Reinemann
Claudia Engelhardt
Denise Schäfer
Dorothea Möller
Doreen Pitzler
Dustin Sobek
Edda Gutsche
Elisabeth Behrendt
Emma Summer
Eva Joan
Florian Geiger
Gila Trojman
Hartmut Gelhaar
Hedwig Schulz-Gade
Helga Licher
Helmut Blepp
Hanna Walder
Ingrid Baumgart-Fütterer
Ingrid Hägele
Ines Reimer
Jennifer Warwel
Jochen Stüsser-Simpson
Jörg Harder
Juliane Barth
Lily N. Hope
Luna Day
Marcel Friedli-Schwarz
Marlene Ingendahl
Matthias Liebelt
Mirja Seim
Monika Konopka
Nicole Gabrys
Oliver Fahn
Olyvia Noak-Christ
Pamela Murtas
Petra Kesse
Simon Harper
Sieglinde Seiler
Susanne Weinsanto
Thordis Ziemons
Ulla Tesch
Ulli Krebs
Vanessa Boecking
Volkmar Trepte
Volker Liebelt
Wolfgang Rinn
Wolfgang Rödig
Zero Alala
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Schlittenfahren, rote Wangen
und nicht vor der Kälte bangen
Blauer Himmel, weißer Schnee,
dem Sommer sag ich gern: „Ade!“
Schneeballschlacht bis in den Morgen,
Winter bringt uns keine Sorgen.
Vögel füttern, Auto kratzen
und dabei mit Nachbarn schwatzen!
Städte wie mit Zuckerguss,
erster Schnee ein Hochgenuss!
Mützen, Schal und warme Socken
lassen Kälte doppelt rocken!
Freu mich auf den Winterwald,
schau nach oben, Schnee kommt bald!
Kalte, wunderbare Luft
und in der Stube Kerzenduft!
Dörte Müller,geboren 1967, schreibt und illustriert Bücher für Kinder. Sie erinnert sich gerne an die Winter ihrer Kindheit im Harz. Jetzt lebt sie im Rheinland und findet, dass der Winter viel zu lang ist.
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Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als jedes Jahr im Winter die Wiesen und Felder mit einer dicken Schneeschicht bedeckt waren? Als es in unseren Stuben noch keinen Fernseher und kein Telefon gab und die Kinder unbeaufsichtigt bis in die Abendstunden draußen herumtoben konnten?
Immer wenn sich der Winter ankündigte und die erste dünne Schneedecke die Felder um unsere Siedlung herum bedeckte, standen meine Geschwister und ich voller Ungeduld mit leuchtenden Augen am Fenster und warteten. Gräben und Teiche waren mit einer dicken Eisdecke überzogen. Neugierig probierten wir, ob uns das Eis tragen würde. Und so mancher holte sich dabei nasse Füße.
Und wenn der herabfallende Schnee unseren Garten in einen weißen Märchenwald verwandelt hatte, gab es für uns kein Halten mehr. Rasch wurden die Schlitten aus dem Keller geholt und unsere kleine Siedlungsstraße wurde zu einer Rodelbahn. Jauchzend vor Freude fuhren wir mit unseren Holzschlitten die abschüssige Straße hinunter. Schneller, immer schneller …
Wir bauten riesige Schneemänner, die wie eine Armee Soldaten unsere Siedlung bewachten. Die Kohlen für die Augen haben wir heimlich aus dem Keller unserer Eltern stibitzt. Irgendwann, wenn die Füße vor Kälte schmerzten und die dicken, handgestrickten Socken keine Wärme mehr spendeten, machten wir uns auf den Weg nach Hause.
Mutter stand an der Haustür und schaute lächelnd zu, wie wir bibbernd vor Kälte die angewärmten Pantoffeln aus dem Backofen des alten Kohleofens nahmen und hineinschlüpften. Die einzige Hose, die ich besaß, war völlig durchnässt und steif gefroren. Wie meine Mutter diese Hose bis zum nächsten Schultag wieder trocken bekam, war mir stets ein Rätsel. Und während wir in eine warme Decke gehüllt am Ofen saßen, brachte Mutter uns frisch gebackene Mandelplätzchen und heißen Früchtetee.
Wenn sich draußen langsam die Dunkelheit ausbreitete und in den umliegenden Häusern die Lichter angezündet wurden, begann die schönste Stunde des Tages. Während wir in kleinen Schlucken den heißen, honigsüßen Tee tranken, erzählte Mutter Geschichten von früher. Und in der Nacht, während der klirrende Frost bizarre Figuren aus Eis an die Fenster zauberte, träumten wir von rasanten Schlittenfahrten und riesigen Höhlen aus Schnee. Unter den dicken Federbetten spürten wir die bitterkalten Nächte nicht. Geheizt wurden nur die Küche und manchmal auch die gute Stube. In den Schlafzimmern dagegen war es eisig kalt. Wenn wir am Morgen aus unserem wohlig warmen Bett krochen, hatte der Winter über Nacht wunderschöne Eisblumen an den Fensterscheiben erblühen lassen. Staunend standen wir Kinder davor und versuchten mit unserem warmen Atem, die Blüten zum Schmelzen zu bringen. Nie wieder habe ich dieses Gefühl der Behaglichkeit und Vertrautheit erlebt.
Doch für meine Eltern war diese Zeit nicht nur schön. Oft fehlte das Geld … Im Keller stapelten sich Gläser mit eingemachtem Obst und Gemüse. Auch wenn es nur wenige Zutaten gab, uns Kindern hat immer geschmeckt, was auf den Tisch kam. Heute vermisse ich diese Tage sehr. Ich möchte noch einmal die Schneeflocken mit dem Mund auffangen, mit den Nachbarskindern eine Schneeballschlacht machen und schließlich mit klammen Füßen aus den nassen Stiefeln schlüpfen. Omas Kohleofen, der noch immer in ihrer Küche steht, erinnert mich an diese Geborgenheit, die wir als Kinder erleben durften. Wie gerne möchte ich noch einmal dieses ganz besondere Gefühl spüren und beim Schein der Kerzen den Geschichten meiner Mutter lauschen. Doch ich werde ihn nicht mehr finden – diesen Zauber meiner Kindheit.
Die Eisblumen an den Fenstern blühen heute nicht mehr ...
Die Autorin Helga Licher schreibt seit Jahren Kolumnen, Artikel und Geschichten für verschiedene Zeitschriften. Sie lebt mit ihrer Familie in einer beschaulichen Kleinstadt im Osnabrücker Land, dort findet sie die Ideen für ihre Geschichten.
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Hinter den Hügeln im Süden der Stadt geht langsam die Sonne unter. Der Himmel färbt sich rot und die letzten Sonnenstrahlen erhellen die Erde. Es ist ein wunderschöner Anblick, als ob man in eine Postkartenlandschaft abtaucht. Oder wie man es von den Gemälden aus der Renaissance kennt. Ein blutroter Himmel, der in vielen Facetten schimmert und darunter der helle Sand, der beinahe unscheinbar aussieht.
Aus meinem Küchenfenster kann ich das Spektakel jeden Abend sehen. Die Verfärbung des Himmels erinnert mich an meine Heimat, die viele Kilometer entfernt ist. Weit weg. Und dort verfärbt sich der Himmel nicht blutrot oder weinrot, sondern grün in allen seinen Schattierungen. Ein unglaublicher Anblick. Viele Europäer fahren extra nach Skandinavien, um einmal die Nordlichter zu bewundern. Als Kind konnte ich es nicht verstehen, sah ich sie doch jeden Winter. Jahr für Jahr verfärbte sich der Himmel. Und nach dem Farbspektakel am Himmel kam die Dunkelheit. Wenn die Sonne es kaum über den Horizont schaffte und jedes Tageslicht ausblieb.
Ich weiß noch genau, dass ich mich oft gefragt habe, warum ich im Dunkeln in die Schule muss. Nachts schläft man doch, so sah ich es im Fernsehen – und bei uns war es immer Nacht. Jeden Morgen und jeden Abend. Umso mehr freuten wir uns, wenn im Frühjahr die ersten Lichtstrahlen wieder auf den Boden fielen und dem Schnee und der Kälte Einhalt geboten.
Mit diesen extremen Jahreszeiten, einer dicken Winterjacke und einer Wollmütze bin ich groß geworden. Genauso wie mit der Selbstverständlichkeit, dass die Schule online stattfand, wenn es mal wieder unmöglich war, den Weg zur Schule zurückzulegen. Meine Eltern hatten vier Huskys, die uns immer gute Dienste erwiesen und mich auch im kältesten Winter sicher zur Schule brachten, aber an einigen Tagen war selbst dies zu gefährlich, wenn Schneestürme drohten oder über Nacht zu viel Neuschnee gefallen war.
Jahreszeiten oder Schnee waren meinem Mann vollkommen fremd, als er in meinen Ort kam, um die Nordlichter zu sehen. Einmal nur wollte er diesem Spektakel beiwohnen. Geblieben ist er drei Jahre. Drei Jahre, in denen wir in meinem Heimatort Führungen für Touristen organisierten, lebten und uns kennenlernten. Es war der Anfang unserer Beziehung. Und es war wundervoll. Er war so anders als alle Männer, die ich bisher kennengelernt hatte. Er kam aus dem fernen Nahen Osten – bis heute weiß ich nicht, warum es Naher Osten heißt, wo meine Eltern doch Hunderte von Kilometern entfernt wohnen. Selbst Kanada ist näher an meiner Heimat und das wird nicht als nah bezeichnet. Aber ich schweife ab.
Wir lernten uns kennen und verliebten uns. Als er nach drei Jahren in seine Heimat zurück wollte, wollte ich unbedingt mit. Raus aus der Kälte. Weg vom Weihnachtsmann. Rein ins Leben, das mir so bunt und weltoffen von den Bildern aus seiner Heimat entgegenstrahlte. „Naher Osten“, ging es mir damals immer wieder durch den Kopf, „das ist doch gar nicht so weit.“ Doch als ich dann am Flughafen stand und in der Hand mein Ticket nach Dubai hielt, da wurde mir doch mulmig zumute. Mein Mann war schon drei Tage vorher geflogen, er wollte sich um ein Haus kümmern, damit ich einen sorglosen Start in meiner neuen Heimat haben würde. Ich hatte ihm verschwiegen, dass ich mein kleines Haus in direkter Nachbarschaft zum Weihnachtsmannhaus nicht verkauft hatte, wie er es gefordert hatte. Es sollte meine Zuflucht bleiben, ich wollte mir ein kleines Stück Unabhängigkeit erhalten. Das ist nun vier Jahre her.
Heute findet das Santa Lucia Fest in meiner Heimat. Der Tag, dem ich meinen Namen verdanke. Lucia. Licht. Als Kind hasste ich es, wenn an Santa Lucia die Menschen meinen Namen feierten, so kurz vor Weihnachten. Ausgerechnet an dem Tag, an denen unser Ort in Dunkelheit versank, feierte man das Licht. Für mich passte das nicht zusammen. Doch heute vermisse ich es. Vermisse die Kinder, die mit Kerzen durch die Straßen laufen und Lieder singen. In den letzten vier Jahren habe ich gelernt, dass man immer das vermisst, was man nicht hat. Die Dunkelheit, die Kälte, den Schnee und eben auch die Bräuche und Traditionen, mit denen man aufgewachsen ist.
Und so hole ich einen Teil meiner alten Heimat in meine neue. Heute ist Santa Lucia und das feiern wir! Auch wenn der Abend noch hell ist und die Nacht klar sein wird. Wir werden Kerzen im Garten aufstellen, ein Lagerfeuer machen, Grog – natürlich alkoholfrei – trinken und Süßigkeiten essen, so wie ich es aus meiner Heimat kenne. Mein Mann sagte immer: „Feste sind zum Feiern da“, und so sind wir auch die einzige Familie, die in Dubai einen künstlichen Weihnachtsbaum aufstellt, Weihnachtskugeln in den Vorgarten hängt und eine christliche Andacht verliest. Im ersten Jahr waren unsere Nachbarn, die fast alle dem muslimischen Glauben angehören, verwundert. Aber ihre Kinder liebten uns, denn es gab Geschenke. Kleine Gaben für jedes Kind. Und schon im zweiten Jahr kamen zahlreiche Nachbarn mit ihren Kindern zu uns ins Haus, um mit uns zu feiern. Und da ich neben dem Weihnachtsmann groß geworden bin, lud ich in diesem Jahr zum Schreiben von Wunschzetteln ein. Für meine muslimischen Nachbarn etwas ganz Neues, aber ich wusste, dass die Geschenke an Weihnachten fein säuberlich verpackt unter unserem Weihnachtsbaum liegen würden und ich in viele strahlende Kinderaugen schauen würde.
Doch heute würden wir erst mal mich und meinen Namenstag feiern. Die ersten Nachbarn hatten schon Kerzen in ihren Gärten aufgestellt. Laternen wurden gebastelt und eine Freundin von mir hatte einen Gang durch das Viertel organisiert, bei dem die Kinder das Lucia-Lied singen sollten. Ein kleines Stück Heimat in einem weit entfernten Land.
Und so stehe ich heute, an meinem Namenstag, in der Küche und backe Korvapuusti, Zimtschnecken, und Ohuet Piparkakut. Mein Mann liebt Korvapuusti, also knete ich Milch, Hefe, Ei, Zucker, Mehl, Butter und ein bisschen Kardamom und Salz zu einem Teig und stelle ihn auf die Fensterbank. Hefeteig muss gehen, hat meine Mutter immer gesagt, und die musste es wissen, denn sie hat viele Jahre für den Weihnachtsmann in der Weihnachtsbäckerei gebacken. Alle die vielen Leckereien, die es in unserem Ort zu Weihnachten immer gab, kamen von ihr. Leider hat sie dieses Talent nicht an mich weitergegeben und so beschränke ich mich auf zwei kleine Spezialitäten aus meiner Heimat, die ich den Kindern anbiete.
Die Zimtschnecken bekommen natürlich noch eine Füllung, die ich aus Butter, Zucker und Zimt zusammenrühre. Auf eine Glasur verzichte ich, es wird sonst zu süß – und eines habe ich in den Jahren, in denen ich bereits in Dubai lebe, gelernt, Menschen aus dem arabischen Raum haben ein anderes Verständnis von Süßigkeiten und Süßem als Europäer. Aber meine Korvapuusti werden von allen immer gerne gegessen und es macht mir Freude, diesen Teil meiner Heimat weiterzugeben.
Neben den inzwischen sehr beliebten Zimtschnecken backe ich dieses Jahr noch Ohuet Piparkakut, die ich als Kind immer gemocht habe. Es wird eine Premiere, alleine habe ich diese Plätzchen noch nie gebacken. Aber dadurch, dass der Teig für die Korvapuusti immer wieder warm auf der Fensterbank stehen muss, um in aller Ruhe zu gehen, möchte ich die Zeit nutzen und eine zweite Spezialität backen. Es ist ja immerhin mein Tag und da möchte ich mich wohlfühlen, umgeben von Leckereien aus meiner Kindheit. Also nehme ich eine neue Schüssel und verrühre Butter, Zucker, Sahne, Natron und Zuckerrübensirup. Danach gebe ich noch Gewürze hinzu, Zimt darf natürlich nicht fehlen, genauso wenig wie Nelken, Ingwer und Pfeffer. Und da dieser Teig nicht so lange warten muss, bis er mich wiedersieht, rolle ich ihn aus, nehme meine Plätzchenausstecher und mache mich an die Arbeit. Am Ende werde ich alles auf einem großen Teller zusammen platzieren, es wird wunderschön aussehen.
Neben diesen zwei Leckereien aus dem Land des Weihnachtsmanns, wie meine Nachbarn und Freunde mein Heimatland immer nennen, bereite ich noch eine Köstlichkeit aus der Heimat meines Mannes zu. Eine süße Köstlichkeit, ein Dessert, wie er immer wieder betont. Aber ein Dessert mit Mozzarella ist kein Dessert. Trotzdem mache ich mich daran, Hakimis zuzubereiten. Hakimis, so nannte ich das Dessert, benannt nach meinem Mann Hakim. Den richtigen Namen konnte ich mir nicht merken und ihn noch weniger aussprechen. Als Vorspeise würde ich es noch durchgehen lassen und eines musste man dem Gericht – ich weigere mich, es Dessert zu nennen – lassen, lecker ist es. Und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich Hakimi zum ersten Mal gegessen habe. Es war bei unserem dritten Date. Mein Mann wollte mich verzaubern und mich in seine kulinarische Küche entführen, also kochte er mithilfe seiner Mama über eine Videokonferenz dieses Dessert. Und wer die Kochkünste meines Mannes kennt, der weiß, dass ich froh sein konnte, dass es überhaupt essbar war. Doch entgegen aller meiner Erwartungen war es verdammt lecker. Also bat ich ihn, mir das Rezept aufzuschreiben, da ich es gerne nachkochen wollte. Und siehe da, es war einfach, schnell und lecker. Und es passt hervorragend zu Zimtschnecken, wie ich finde. Aber das ist ja Geschmackssache. Und für alle, die es nicht so süß mögen und lieber Käse als Nachspeise bevorzugen, ist es das ideale Dessert. Deswegen passt es perfekt zu dem heutigen Abend.
Immerhin wird das Lichterfest, wie Santa Lucia auch heißt, auch in den arabischen Ländern gefeiert. Nur wird hier nicht das Licht gefeiert, denn davon gibt es hier weiß Gott genug. Hier feiern sie die Wintersonnenwende, den kürzesten Tag im Jahr. Wobei das für mich alles etwas relativ ist, denn während bei uns im Winter die Sonne nie aufgeht und die Temperaturen kaum den Schmelzpunkt erreichen, kann ich mich vor Sonne und T-Shirt-Wetter am Persischen Golf kaum schützen. Und dabei spielt es keine Rolle, ob ich von Sommer oder Winter spreche. Den einzigen Unterschied macht im Sommer das leise Surren der Klimaanlage, damit man es überhaupt aushält. Umso zufriedener bin ich, dass ich jedes Jahr im Winter feiere, wo die Temperaturen es zulassen, dass wir mit unseren Freunden zusammen draußen sitzen und grillen. Und so sehr ich meine Heimat liebe und so gerne ich in der Werkstatt des Weihnachtsmannes mitgeholfen habe, so sehr freue ich mich nun darüber, dass ich endlich die Möglichkeit habe, an meinem Jahrestag die Sonne zu genießen. Das Licht zu feiern und es auch am Tage zu erblicken. Abends wird es dunkel genug, sodass wir im Kerzenschein zusammensitzen. Ein bisschen Skandinavien im Arabischen Emirat.
Aus meinem Küchenfenster kann ich an der Straßenecke die ersten Laternen und Kerzen erkennen. Meine Freundin hat Wort gehalten. Sogar Lieder in meiner Muttersprache haben sie einstudiert, um mich zu überraschen, um mir eine Freude zu machen. Die ersten zwei Jahre hatte ich gezweifelt, ob ich jemals ankommen würde, ob die Emirate jemals mein Zuhause werden könnten. Alles war so fremd, die Menschen, die Kultur, die Sprache. Aber egal, wie fremd alles wirkte, und egal, wie schwierig es war, meine neuen Freunde haben mir immer das Gefühl gegeben, dass ich dazu gehöre, dass wir eine Familie sind.
Und heute merke ich, dass dieses Gefühl unglaublich stark ist. So sehr ich meine Familie an diesem besonderen Tag vermisse, so sehr freue ich mich gleichzeitig über diese wunderbare neue Familie. Außerdem weiß ich ja, dass wir Weihnachten beim Weihnachtsmann verbringen werden. Von der Wüste in den Schnee, von einer Familie zur anderen Familie.
Ja, ich bin angekommen und vielleicht gewöhne ich mich mit der Zeit auch daran, Weihnachten Sandburgen zu bauen, aber bis dahin wird es wohl noch etwas dauern. Heute erfreue ich mich erst einmal an dem Geschenk meiner Freundin und daran, dass Kinder durch die Straßen ziehen und Santa Lucia feiern – mitten in der Wüste. Insgeheim frage ich mich, ob ich damit eine neue Tradition begonnen habe. Werden nun jedes Jahr im Dezember Kinder durch die Straßen Dubais ziehen und Santa Lucia feiern?
Christina Reinemann wurde 1982 in Kassel geboren. Sie studierte Geschichte, Psychologie und Chemie an der Universität Oldenburg. Im Jahre 2023 erschienen ihre Kurzgeschichten „Ich“, „Zartbitter bis herb“ und „Der Antrag“ in einer Anthropologie.
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Da, plötzlich fällt der Schnee,
nach trügerischen Tagen,
aus blassem Himmel, leise,
wie vergessenes Sagen,
und bleibt auf feuchter
Erde wie ein Bett.
Ein Bett, das unberührt
in weißer Helligkeit
die Liebesnächte spürt,
die sich darin verträumen.
Edda Gutscheist freischaffende Autorin und Publizistin und widmet sich der sogenannten kleinen Form. Ihre Gedichte, Kurzgeschichten und Märchen wurden sowohl als Einzeltitel als auch in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht. 2018 ist ihr zweiter Lyrikband „Die Heide hat lila Augen“ erschienen. Edda Gutsche hat mehrere Preise gewonnen, darunter den „Opus Magnus Discovery Award“ in den USA für ein englischsprachiges Romanmanuskript. Sie ist auch journalistisch tätig und hat insbesondere zu kulturhistorischen Themen diverse Artikel, Buchbeiträge und Bücher auf Deutsch und Polnisch verfasst.
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Es war ein Wintermorgen, der mich immer an meine Kindheit zurückdenken ließ. Ich war etwa zehn Jahre alt, unser kleines Haus lag am Rand eines dichten Waldes. Der erste Schnee des Jahres hatte die Landschaft in eine weiche, weiße Decke gehüllt, die Sonne schien durch die Bäume, was die Schneeflocken wie Diamanten funkeln ließ.
Meine Geschwister und ich waren schon früh aufgestanden, um das erste Schneegestöber zu genießen. Wir hatten uns dick eingepackt – mit warmen Mänteln, Mützen, Schals und Handschuhen – und stürmten nach draußen. Der Schnee knirschte unter unseren Stiefeln und jeder Schritt hinterließ eine kleine Spur in der glitzernden Landschaft.
Der Höhepunkt unseres Winters war immer die Rodelpartie auf dem Hügel hinter dem Haus. Wir schleppten unsere Schlitten den steilen Hang hinauf, wobei wir vor Aufregung und Kälte rote Nasen hatten. Oben angekommen, saßen wir uns auf unsere Schlitten und warteten darauf, dass es endlich losging. Der Abstieg war immer ein wildes, fröhliches Abenteuer. Wir sausten den Hügel hinunter, der Wind blies uns ins Gesicht, und unser Lachen hallte durch die Luft.
An einem besonders sonnigen Morgen schneite es so heftig, dass der ganze Wald in eine traumhafte Winterlandschaft verwandelt wurde. Wir beschlossen, den Teich in der Nähe zu besuchen, der inzwischen zugefroren war. Mit Schlittschuhen an den Füßen glitten wir über das glatte Eis. Es war ein fantastisches Gefühl, über das Eis zu gleiten, als ob wir fliegen würden. Wir führten kleine Kunststücke auf, versuchten uns an Pirouetten und lachten über die wackeligen Versuche, die wir immer wieder machten.
Die ganze Zeit über war das Wetter perfekt: frisch, klar und kalt, aber angenehm. Wenn wir nach den Abenteuern draußen nach Hause kamen, roch es in der Küche nach frisch gebackenem Keksen und heißem Kakao. Wir setzten uns um den Tisch, tranken unseren Kakao und die warme Küche schien uns wie ein behagliches Nest nach den kalten Stunden im Freien.
Diese Wintertage waren für mich ein Symbol für Freude und Geborgenheit. Es waren die einfachen Momente – das Lachen im Schnee, das Glitzern der Sonne auf dem Eis und die Wärme der Familie bei einer Tasse Kakao – die diese Zeit so besonders machten. Die Erinnerungen an diese Tage sind wie ein warmer Lichtstrahl, der mich durch die kalte Jahreszeit begleitet und mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Wenn der erste Schnee fällt und die Welt wieder in eine weiße Decke gehüllt wird, denke ich gerne an diese unbeschwerten Wintertage zurück und lasse die Erinnerungen an diese glücklichen Stunden in meinem Herzen aufleben.
Emma Summer
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raues Wintermeer –
Sommererinnerungen
rollen an Land
frühmorgens –
kalte Gischtdusche
auf der Mole
fahles Morgenlicht
die Brandung atmet mit mir –
winterschwer
Winter in Yukon –
dreiundsechzig Grad minus
kein Laut von draußen
Eisblumenfenster –
Zeit als weißes Rauschen
nichts geschieht
wintermüde –
das Jahr klingt
leise aus
Eva Joan: geboren 1960 in Augsburg, lebt in Gronau an der Leine. Seit 2001 gab es zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologie, Zeitschriften, auf Haiku-Internetseiten und sieben Publikationen im Selbstverlag. Ihre Hobbys sind Lesen, Schreiben, Musik hören, Yoga und Stricken.
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Durchgefroren von der eisigen Kälte des Tages trat Sören in die warme Stube und setzte sich auf seinen Stuhl, auf dem er immer saß. Draußen waren es deutliche Minustemperaturen, in denen er den ganzen Tag über gearbeitet hatte. Sören war für das Asphaltieren der Autobahn zuständig. Eigentlich ein gutes Zeichen für die Autofahrer, dass er schon asphaltierte. Denn bald konnten sie die Autobahn wieder normal nutzen und mussten nicht elendig lange im Stau stehen.
Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Obwohl er sogar am Wochenende arbeitete, im Schichtdienst und in der Kälte, wurde er ausgehupt und beinahe täglich angefahren – dabei wollte er den Autofahrern doch nur helfen!
Die Stiefel standen vor Sören auf dem Boden und ihm war immer noch kalt. Die Kälte hatte sich in seinem Inneren festgesetzt. Eine Kälte, die nicht so leicht zu vertreiben war, selbst wenn man sich direkt in eine heiße Badewanne legen würde. Das würde Sören auch gleich machen, doch für den Moment wollte er nur einen heißen Tee. Seine Frau Annelore brachte ihm eine Tasse und stellte sie vor ihm auf den Tisch. Dazu stellte sie die Kanne mit dem heißen Tee auf das Heizstövchen und setzte sich auf ihren Stuhl.
Er nahm den Löffel und ließ einen Zuckerbrocken in die Tasse gleiten. Er griff zur Kanne und goss den dampfenden Tee ein, der eine rötlich, leicht braune Farbe hatte. Nun hielt er für eine kurze Zeit inne. Auch seine Frau schwieg und lauschte dem Knistern des brechenden Zuckers, der den Tee am Boden der Tasse süßte. Sören griff zum Sahnelöffel und hob eine kleine, gar feine Haube aus der Schale. Langsam senkte er die kleine, weiße Haube an den Rand des Tees und ließ die Sahne hineingleiten. Jedes Mal war es ein besonderes Schauspiel, wie die Sahne zu einem Bild verfloss, das immer einzigartig war. Beide sahen wie gebannt zu und erst als die Sahne verteilt war, nahm Sören die Tasse auf und blies den Dampf von der Oberfläche. Jetzt probierte er den heißen Tee. Erst den reinen Tee, dann die Sahne und zum Schluss die letzte süße Schicht zur Abrundung des Schlucks.
Sören spürte, wie er unter seiner kalten Haut langsam an Wärme gewann. Nach und nach kehrte das Leben in ihn zurück. Es kribbelte zuerst in seinem Bauch, dann in seinen Beinen. Ihm ging es mit jedem Schluck besser. Den Kampf gegen die Kälte hatte er einen weiteren Tag gewonnen. Die Rücksichtslosigkeit der Autofahrer hatte er ebenfalls überlebt. Nun blieb ihm der Rest des Abends, um sich zusammen mit seiner Frau des Lebens zu erfreuen, bevor es am nächsten Morgen in aller Frühe wieder aus dem Haus ging. Raus auf die Autobahn, raus in die Kälte. An einem Sonntag, an dem es keine Aussicht auf bessere Temperaturen gab. Und an dem die Autofahrer besonders rücksichtslos fahren würden. Doch das war Sören in diesem Moment, in dem er das Spiel der Sahne im Tee beobachtete, ganz egal.
Christian Knieps,geboren 1980, lebt und arbeitet in Bonn, schreibt Romane, Theaterstücke, Novellen und Kurzgeschichte. Zuletzt: „Tynn. Magischer Roman“. Mehr Infos zu den Veröffentlichungen auf christianknieps.net.
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Das ist ein Gartenstuhl, auf dem niemand sitzt, denn es ist Winter und der Garten ist von gefrorenem Schnee gepudert, weil die Nacht klirrend kalt war. Neben dem Stuhl liegt ein Stapel Zeitungen ohne jede Botschaft an uns, denn wir sind nur die Beobachter.
Natürlich wissen wir, dass die Frau immer schon ganz früh am Morgen hier gesessen hat. Sie hat es sich stets auf diesem Stuhl bequem gemacht, wenn sie die Hitze der Nacht ausschwitzen oder sich bei Raureif abkühlen wollte. Und dabei rauchte sie, füllte den Aschenbecher auf dem Beistelltisch mit Filterkippen, während sie wartete und ihre rot lackierten Fingernägel polierte oder ihr Haar richtete. Sie wusste genau, wann sie zum Gartenzaun gehen musste. Der Mann war pünktlich. Jeden Tag brachte er die Zeitung, unterhielt sich dann ein wenig mit ihr, machte kleine Witze, bevor er weiterging und sie wieder ihren Platz am Tisch einnahm, wo sie rauchend die Neuigkeiten las, bis es Zeit war, die Kinder zu wecken. Tagsüber dachte sie manchmal an den Zusteller, nachts träumte sie von ihrem verstorbenen Mann.
Wir wussten, wie es kommen musste. Sie verliebten sich. Diese Frau mit Schlafstörungen und dieser Zeitungszusteller lebten nun unter einem Dach. Die Kinder nahmen das zur Kenntnis. Sie verfolgten, wie er das Haus renovierte, neue Böden verlegte, Wasserrohre austauschte und Wände frisch verputzte. Sie staunten, weil mehr Fleisch auf den Tisch kam und vor dem Essen gebetet wurde. Im Schuppen war das Holz gestapelt.
Dieses Leben ging nicht lange gut.
In ruhigen Stunden bemerkte sie, dass sein Humor nur aufgesetzt war und ihr Herz nicht mehr erreichte. Und er musste sich eingestehen, dass sie nicht diejenige war, die ihn aus seiner Traurigkeit erlösen konnte.
Es folgte ein Frühling der Sprachlosigkeit. Die Kinder gewöhnten sich an, zu flüstern. Wir lauschten ihren bangen Gesprächen, weil sogar wir uns wünschten, dass dieses schweigende Haus uns wieder etwas zu erzählen hätte.
Der Sommer mit seinen glühenden Winden ließ uns alle ermatten. Selbst der große Baum bot keinen Schatten, und die Fäden ruhten in unseren Händen. Die Welt schien stillzustehen. Nur die Kinder spielten leise im Garten.
Dann kam der stürmische Herbst mit verzweifeltem Geschrei, mit Vorwürfen im Zorn, mit zugeschlagenen Türen und verwehenden Flüchen, sodass die Kinder aneinandergeklammert zitterten in der Höhle unter ihrer Bettdecke.
Und an einem trüben Wintertag erschlug er sie und bereitete ihr ein Lager im Lehmboden des Kartoffelkellers, der nun endlich seinen Estrich erhielt. Wir, die wir von klein auf im Norden gewandert sind, schauderten in Betrachtung seiner mühseligen Arbeit, die er weinend und seufzend vollbrachte. Den Nachbarn erzählte er, sie habe ihn verlassen. Für die Kinder war sie verreist, doch die ahnten, wohin, und flüsterten sich Befürchtungen zu.
Im Frühjahr blieb der Garten unbestellt. Wir mussten mit ansehen, wie zwischen den Steinplatten, auf denen der Gartenstuhl stand, Unkraut ins Licht wuchs. Aufgeweichte Zigarettenfilter schwammen in einer braunen Brühe. Die Zeitungen waren feucht und rochen muffig. Einsilbig spielten die Kinder in blindem Einverständnis in dieser sich heranschleichenden Wildnis. Der Mann trug weiter Zeitungen aus und verbrachte ansonsten die meiste Zeit im Bett. Das Essen kam jetzt aus Dosen. Gebetet wurde schon lange nicht mehr.
Eines Tages brachte der Postbote einen wichtigen Brief vom Amt. Unbefangen betrat er den Garten durch die kleine Tür im Jägerzaun und stieß auf die Kinder.
„Hallo“, rief er fröhlich. „Ich habe Post für euren Papa.“
„Der schläft“, sagten die Kinder im Chor.
„Und eure Mama?“
Die Kinder sahen sich lange an. Dann nickten sie sich zu.
„Die Mama ist im Himmel.“
„Das tut mir sehr leid“, sagte der Postbote betroffen. „Aber wer passt denn dann auf euch auf?“
Wieder war zu beobachten, wie die Kinder mit sich rangen. Sie schauten sich lange in die Augen, bis sie schließlich zu einer Entscheidung kamen.
„Geh mal mit“, forderten sie den netten Postboten auf. Sie drehten sich um und liefen Richtung Haus.
Aufgrund ihres seltsamen Verhaltens neugierig geworden, folgte er ihnen, und als sie vor dem Kartoffelkeller anhielten, wiesen sie wortlos auf den Eingang. Sich vorsichtig unter dem niedrigen Türstock beugend, betrat er den wenig einladenden Anbau. Durch ein fensterloses Kellerloch fiel genug Licht, um alles zu erkennen. Die Sandsteinwände trieben Wasser und waren von Schimmel bedeckt. Es roch nach Moder und Fäulnis. Der Boden lag aufgeworfen vor ihm und war in bröselnde Schlacken gebrochen, durch die der braune Lehm zu erkennen war.
Zu wenig Bindung im Material, stellte er sachkundig fest. Wurde vom Frost zerstört. Stümperhafte Arbeit. Er schüttelte den Kopf und wollte sich schon zum Gehen wenden, da fiel ihm etwas zwischen den Steinbrocken auf. Er bückte sich hinunter zu dem kleinen Objekt. Es waren Knöchelchen, verziert mit einem roten Fingernagel.
Der Postbote rief umgehend die Polizei. Das ganze Dorf stand tagelang kopf, während das Lokalblatt den unglücklichen Finder zum Helden ausrief.
Der Zeitungszusteller bekam nach so langer Zeit Ruhe in einem vergitterten Sternenbau. Die Kinder leben jetzt bei einer Oma, die sie Aufpasserin nennen.
Nur wir wandeln nach wie vor durch diesen Garten. Er ist zum Urwald geworden. Zarte Kleider verfangen sich im Gestrüpp. Ungeschützte Haut wird blutig gerissen und verheilt schlecht. Uns ficht das nicht an.
Da steht der alte Gartenstuhl, vom Schnee befreit und nach wie vor einladend. Seine Gegenwart ist verwoben mit der Vergangenheit, und die Zukunft wird uns nicht überraschen, denn im Aschenbecher auf dem Beistelltisch brennt eine Zigarette herunter. Der Stapel Zeitungen ist angewachsen. Obenauf liegt die heutige Ausgabe.
Helmut Blepp: geboren 1959 in Mannheim, selbstständiger Trainer & Berater (Arbeitsrecht); lebt in Lampertheim; vier Lyrikbände, zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften; Mitglied Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e. V., Joachim Ringelnatz-Verein e. V., Gruppe 48 e. V.
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Zaghaftes Licht
Traut sich nicht
In den Winterwind.
Eisig herrscht er,
Frostig fährt er,
Bärbeißig, bockig, blind,
Durch die nackten Bäume,
Durch die kalten Räume
Zwischen Häusern,
Zwischen Menschen,
Vermummt und vermauert,
In Polyester-Festung kauernd,
Wetterabweisend,
Kontaktabweisend,
Auf den falschen Kanälen
Liebe heischend.
Wie einfach schiene nun
Es der Wintersonne gleich zu tun,
Zu lächeln ein zaghaftes Licht,
Doch auch wir trauen uns nicht.
Kristin Hogk, geboren 1978 in Salzwedel. Schon als Kind bereitete es ihr Vergnügen, oft auch Erleichterung, Gedichte und kurze Texte zu verfassen. Aus Liebe zur Sprache absolvierte sie ein Studium zur Diplomübersetzerin. Heute arbeitet sie als Sprachlehrerin. Daneben schreibt sie Gedichte, Kurzgeschichten und Rezensionen, die sie vorrangig digital veröffentlicht. Im August 2021 begann sie ein Fernstudium zur Autorin.
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In der abgelegenen Hafenstadt Snezhnygrad, versteckt im eisigen Herzen Nordrusslands, wo die dunklen Kiefernwälder sich bis ans frostige Ufer erstreckten und die Meere unter schweren Eisschollen verborgen lagen, lebten der Fischer Ivan und sein Sohn Alexej. Gemeinsam stellten sie sich den eisigen Winternächten, um für ein reich gedecktes Weihnachtsfest zu sorgen. Ihr schlichtes Holzhaus stand fest verwurzelt am Rand des Hafens, dessen stille Gewässer im Sternenglanz funkelten wie ein verstreutes Diamantenmeer.
An einem besonders kalten Abend, als die Glocken der alten Dorfkirche zur Mitternachtsmesse läuteten, erblickte Alexej ein geheimnisvolles Leuchten am Horizont. Es näherte sich langsam, und bald nahm daraus ein prachtvolles Schiff Gestalt an, das im Mondlicht zu schimmern begann. Es wirkte, als sei es ganz aus purem, glitzerndem Silber gefertigt, das in der klirrenden Nacht strahlte.
Die Segel, gewoben aus eisblauen Stoffen, flatterten leise im Wind, fingen das Mondlicht ein und warfen es in funkelnden Mustern zurück. An der Spitze des Schiffes thronte eine majestätische Galionsfigur, ein Frostgeist in weißen Pelzen gekleidet, deren Ränder reich mit glänzenden Eiskristallen verziert waren.
Überwältigt von der Erscheinung erinnerte sich Alexej an die Legenden der Frostgeister, die ihm sein Großvater in den langen Winternächten erzählt hatte. Diese Geschichten sprachen von mächtigen Wesen, die in der Weihnachtszeit aus ihrem eisigen Reich herabstiegen, um den Mutigen und Reinen ihr Wohlwollen zu zeigen. Ohne zu zögern, ergriff Alexej die Hand seines Vaters und zog ihn eilig zum Hafen hinunter.
Als sie den Kai erreichten, funkelte das silberne Schiff im geisterhaften Schein des Mondlichts – eine Vision aus Eis und Silber. Angst ergriff Ivans Herz, als er in die leuchtenden Augen seines Sohnes blickte. Der frostige Wind trug das Knirschen des Eises und das ferne Läuten der Kirchenglocken herüber.
„Vater“, sagte Alexej leise, „siehst du das Schiff? Es ist das Zeichen der Frostgeister, von denen Großvater sprach. Es ruft nach mir. Ich muss an Bord gehen.“
Ivan runzelte die Stirn und legte seine warme Hand auf die Schulter seines Sohnes. „Mein Junge, fürchtest du nicht, was jenseits des Hafens lauert? Die Frostgeister sind mächtig, ihre Prüfungen streng. Was, wenn du nicht zurückkehrst?“
Alexej blickte seinem Vater fest in die Augen. „Ich fürchte mich nicht, Vater. Die Frostgeister prüfen nur jene, die guten Herzens sind. Wenn ich würdig bin, werde ich ihre Geheimnisse entdecken und mit einem Geschenk heimkehren. Und wenn nicht, dann soll der Frost mich in die Arme des Winters tragen.“
Ivan seufzte schwer, zog seinen Sohn an sich und umarmte ihn fest. „Du hast das Herz eines Helden, Alexej. Möge Väterchen Frost dich beschützen. Kehre mir heil zurück.“
Als Alexej das Deck des silbernen Schiffes betrat, glitten die Segel leise im eisigen Wind und das Holz knarrte sanft unter seinen Füßen. Vor ihm erstreckte sich die See, deren Oberfläche im bleichen Mondschein flackerte. Sie war eine glitzernde Eiswüste, die bizarre Formen annahm. Über ihm spielten die Polarlichter ihr stilles Schauspiel, malten mit lebhaften Pinselstrichen aus Grün und Violett den Himmel um und enthüllten in der Stille der Polarnacht ihre tiefsten Geheimnisse.
Der eisige Wind trug das leise Grollen ferner Gletscher zu ihm herüber, während geisterhafte Eisbrocken wie verlassene Inseln vorbeizogen. Unter der spiegelglatten Wasseroberfläche glitzerten Fische, deren Schuppen in der Dunkelheit funkelten. Neugierige Seehunde mit ihren dichten Pelzen umkreisten das Schiff, als wären sie dessen treue Beschützer. Tiefer in der Dunkelheit des Ozeans schälten sich Seeschlangen aus dem Schatten, ihre Körper glänzten und schlängelten sich durch das eisige Wasser, während sie Alexej mit einer stummen Ehrfurcht beobachteten.
In der Ferne erhob sich ein majestätischer Palast aus Eis und Schnee, der im kalten Sternenlicht zu glitzern begann, als wären seine Zinnen und Türme aus Tausenden winzigen Diamanten geschnitzt. An den Türmen hingen schwere Eiszapfen, die im Glanz der Nordlichter in betörenden Farben strahlten. Zarte, filigrane Brücken aus kristallklarem Eis verbanden die Türme miteinander, so leicht und luftig, als würden sie schweben und nicht von der Schwerkraft gehalten. Das Silberschiff legte an einem Strand an. Vor ihm erstreckte sich ein labyrinthartiges Netz aus massiven Eiswänden, deren Oberflächen mit zarten, kristallinen Frostmustern überzogen waren.
Kaum hatte Alexej einen Fuß in das Labyrinth gesetzt, verschluckte die Dunkelheit das flackernde Licht der Sterne. Die eisige Luft schnitt messerscharf durch seine Kleidung und der Wind heulte geisterhaft durch die verschlungenen Gänge, die sich vor ihm erstreckten. Jeder seiner Schritte hallte unheimlich zwischen den Eiswänden wider.
Als er eine enge Biegung nahm, trat er unvermittelt auf eine weite, offene Fläche. Der Mond brach durch die Wolkendecke und beleuchtete das Herz des Labyrinths – eine klare, von Eis umschlossene Lichtung. Ohne Vorwarnung tauchten Schatten aus dem Nebel auf: Ein Rudel Schneelöwen, majestätisch und bedrohlich, stand reglos und beobachtete jeden seiner Schritte. Der Anführer, ein gewaltiger Löwe mit einer Mähne, die im Mondlicht wie frisch gefallener Schnee glänzte, trat vor. „Wer wagt es, das Reich des Eises zu betreten?“, donnerte seine Stimme durch das Labyrinth.
Mit festem Blick und klarer Stimme antwortete Alexej: „Ich bin Alexej, auf der Suche nach der Thronhalle der Schneekönigin. Ich komme mit reinem Herzen und mutigem Geist.“
Der Löwe fixierte ihn mit durchdringenden Augen, bevor er schließlich zur Seite trat. „Dann mag der Pfad dich zu deiner Wahrheit führen.“
Mit einem respektvollen Nicken schritt Alexej vorbei. Er durchquerte das letzte Stück des eisigen Labyrinths und trat in den schimmernden Thronsaal, wo die Schneekönigin bereits auf ihn wartete. Ihr Gewand war aus einem Gewebe von Schneeflocken gefertigt, während ein Diadem aus flimmernden Nordlichtern ihr Haupt krönte.
„Willkommen, Alexej“, sprach sie. „Du hast den Ruf des Nordwinds vernommen und bist mutig meinem silbernen Pfad gefolgt. Was treibt einen jungen Menschen wie dich dazu, die Sicherheit seines Zuhauses zu verlassen und sich den Unwägbarkeiten des ewigen Eises zu stellen?“
„Eure Majestät, es ist der Geist meines Volkes, der in mir brennt. Ein Verlangen nach Wissen und Wahrheit, das mein Großvater in mir geweckt hat. Ich kam nicht nur, um Eure Herausforderungen zu bestehen, sondern auch, um zu verstehen, was jenseits der Grenzen unserer Vorstellungskraft liegt.“
Die Schneekönigin neigte leicht den Kopf, ihre Augen funkelten interessiert. „Und was hast du auf deinem Weg hierher gelernt, Alexej? Was hat dich der Frost gelehrt?“
„Dass der Mut wahrhaftig ist, wenn er auf die Probe gestellt wird, und dass die Einsamkeit des Nordens nicht Kälte, sondern Klarheit bringt. Dass jede Herausforderung ein Geschenk ist, das uns lehrt, wer wir wirklich sind.“
„Wohl gesprochen“, erwiderte die Königin und ein Lächeln umspielte ihre eisigen Lippen. „Deine Worte zeigen eine Weisheit, die selten ist in jemandem deines Alters. Doch sage mir, Alexej, fürchtest du nicht den Verlust dessen, was du liebst, während du den Geheimnissen der Welt nachjagst?“
Alexej blickte kurz zum Boden, dann wieder direkt in die leuchtenden Augen der Königin. „Die Liebe zu meinem Vater und unserem Volk wächst mit jeder bestandenen Prüfung. Die Angst vor Verlust begleitet mich zwar, doch sie wird niemals die Hoffnung oder den Glauben an das Gute überdecken.“
Die Schneekönigin stand auf, trat majestätisch aus dem Licht des Nordlichts hervor und näherte sich ihm. „Dein Herz ist mutig und rein, Alexej. Solche Seelen sind selten und kostbar im ewigen Eis.“ Sie streckte ihre Hand aus und reichte ihm eine funkelnde Silbermünze. „Nimm dies als Zeichen unserer Begegnung. Es soll dir und deinen Lieben Glück und Schutz bringen, solange der Winter währt.“
Alexej nahm die Münze an und spürte die Kühle des Metalls. „Ich danke Euch, Eure Majestät, für Eure Worte und Euer Geschenk. Ich werde beides in Ehren halten.“
„Gehe nun“, sagte die Schneekönigin, „mit der Gewissheit, dass die Wege des Winters immer offen stehen für jene, die wahrhaftig mutig sind. Mein Palast wird dich willkommen heißen, sollte der Wind dich wieder zu mir führen.“
Als das silberne Schiff durch den dichten Nebel des Nordmeeres schnitt und Alexej die ersten goldenen Lichter von Snezhnygrad am Horizont erblickte, fühlte er sich erleichtert. Eine Träne der Dankbarkeit rann über seine Wange, als das Schiff wie ein Schatten in den heimatlichen Hafen glitt.
Als Alexej zurückkehrte, fand er Snezhnygrad festlich erleuchtet vor. Glitzernde Eiszapfen und leuchtende Schneeflocken zierten die Tannenbäume entlang der Gassen, Girlanden aus Beeren und Zweigen schmückten die Dächer. Kinder spielten ausgelassen auf dem gefrorenen Platz, ihre Lieder erfüllten die klare Luft. Die Dorfbewohner hatten den Hafen in ein Winterwunderland verwandelt, um die Fischer willkommen zu heißen.
Ivan stand unweit vom Kai. In seiner Vorstellung malte er sich die stürmischen Gewässer aus, die sein Sohn hatte durchqueren müssen. „Hoffentlich ist Väterchen Frost bei dir gewesen, mein Junge“, murmelte er leise. Sein Herz machte einen Sprung vor Freude, als er Alexej sicher und gesund vom Schiff steigen sah. Er lief zu ihm und umarmte ihn. „Willkommen zurück, mein Junge! Was für ein Abenteuer hast du erlebt?“, fragte er, während Tränen des Glücks in seinen Augen schimmerten.
Alexej, umringt von den staunenden Dorfbewohnern, enthüllte die Geschichte seiner unglaublichen Reise und der wundersamen Begegnung mit der Schneekönigin, die ihm eine silberne Münze als Zeichen ihres Segens überreicht hatte. „Diese Münze wird uns vor Armut schützen. Die Schneekönigin hat versprochen, dass unsere Netze bis zum nächsten Weihnachtsfest voll von Fischen sein werden.“
Über Nacht schien sich das Versprechen der Schneekönigin zu erfüllen, denn die Netze der Fischer waren praller gefüllt als je zuvor. Mit jedem Fang holten sie reichlich Heringe, Dorsche und Lachse aus dem eiskalten Wasser, sodass bald die Vorratskammern im Dorf überquollen. Die Bewohner von Snezhnygrad feierten die Heilige Nacht mit einem Überfluss an festlichen Speisen, während fröhliche Lieder und ausgelassene Tänze die klare Nachtluft erfüllten.
Alexej ging zum Hafen. Die Sterne funkelten über ihm und der Mond warf sein bleiches Licht auf die schneebedeckten Dächer von Snezhnygrad. Er stand allein am Rand des Wassers und blickte auf das silberne Schiff, das sich langsam im aufsteigenden Nebel des frühen Morgens auflöste.
In diesem Moment trat Ivan zu ihm und legte seine Hand auf die Schulter seines Sohnes. „Du bist zurückgekehrt, aber du scheinst verändert“, bemerkte er.
Alexej nickte langsam und blickte immer noch auf die Stelle, wo das Schiff verschwunden war. Er betrachtete die Silbermünze, die im Mondlicht glänzte. „Ich habe mehr als nur Fische und Geschichten mitgebracht, Vater“, begann er. „Ich habe Teile von mir im Eis zurückgelassen und andere Teile neu entdeckt.“ Er drehte die Münze zwischen seinen Fingern und fuhr fort: „Ich habe gelernt, dass jeder von uns mehr ist als das, was wir sehen. Und manchmal müssen wir uns verlieren, um unseren wahren Weg zu finden.“
„Das ist der Lauf der Welt, mein Sohn“, sagte Ivan. „Jede Reise verändert uns und jede Rückkehr ist ein Neubeginn.“
Sie standen eine Weile schweigend da, umgeben von der Stille des erwachenden Tages. Dann, mit einem letzten Blick auf das Meer, kehrten Vater und Sohn zurück in das Dorf.
Volker Liebelt,Jahrgang 1966, lebt in dem idyllischen Öhringen, einer Stadt, die seine Inspiration und Heimat gleichermaßen ist. Sein Schreibstil zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, lebendige Bilder und Emotionen zu erzeugen, die die Leser tief in die Handlung eintauchen lassen. Die Liebe zur Natur und die Faszination für das Übernatürliche sind wiederkehrende Themen in seinen Geschichten, die oft von märchenhaften Orten und wundersamen Begegnungen geprägt sind.
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Ein eisigkalter Wintermorgen vor Weihnachten!
Beim Öffnen der Rollläden fällt der erste Blick
auf ein kleines Wunder, das sich Raureif nennt.
Die Wintersonne scheint verhalten durch einen
nebeligen Film auf die zauberhafte Landschaft,
denn jeder Morgen hat seine eigenen Gesetze.
Einen überraschenden und betörenden Anblick
bietet dieses morgendliche Gesamtkunstwerk,
das die Natur im Dezember für uns bestellt hat.
Mit dem zarten zauberhaften Weiß verwandelt
der Reif die Nässe der Tannennadeln und Äste,
feiert zum Auftakt im Winter eines seiner Feste.
Der Raureif hat sich mit dem Blütenweiß seiner
duftigen Eiskristalle auf eine Rosenblüte gesetzt,
deren geschmücktes Rot ein letztes Mal leuchtet.
Kontrastvoll hebt sich das kräftige Himmelsblau
vom funkelnden Weiß der Winterlandschaft ab.
Festlich wirkt sie auf mich, wie in Watte verpackt.
Ein sonst gar unscheinbarer Maschendrahtzaun
zieht unweigerlich Blicke der Passanten auf sich.
Ihm setzte der Raureif die Krone des Winters auf.
Von feinen Raureifkristallen sind Kanten, Ecken
und Bäume überzogen, bis sie die Sonne küsst.
Weiß glitzernd werden sie uns zur Augenweide.
Sieglinde Seilerwurde 1950 in Wolframs-Eschenbach geboren. Sie ist Dipl. Verwaltungswirt (FH) und lebt mit ihrem Ehemann in Crailsheim. Seit ihrer Jugend schreibt sie Gedichte. Später kamen Aphorismen, Märchen und Prosatexte hinzu. Ferner fotografiert sie gerne. Bislang hat sie bereits über 200 Gedichte im Internet und diversen Anthologien veröffentlicht.
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Rosi kommt am 30. Dezember gegen 14.00 Uhr im Hotel an. Während sie aus dem Taxi steigt, fällt ihr Blick auf ein großes Thermometer an der Apotheke gegenüber. 8 Grad plus! Die Sonne scheint. Der von einer leichten Schneedecke überzogene Ort glitzert.
Dem Auspacken folgen ein Wellness-Paket und ein leichtes Abendessen. Rosi schläft himmlisch. Leise rieselnder Schnee begleitet ihr ausgiebiges Frühstück am nächsten Morgen. Dann bricht die Sonne durch. Rosi beschließt, das Mittagessen ausfallen zu lassen und die wunderbare Winterstimmung zu genießen. Rosi liebt Schnee, jedenfalls in Verbindung mit Sonne.
Am späten Vormittag zieht sie ihre neuen Winterschuhe und den hellen Anorak mit künstlichem Pelzkragen an. Darunter trägt sie einen modischen Skianzug in Rot. Rot steht ihr gut. Sie hat ihn erst vor ein paar Tagen gekauft. Größe 38. Dafür hat sie den ganzen Dezember über gehungert, kein einziges Weihnachtsplätzchen hat sie gegessen.
Über zwei Stunden führt Rosi ihr todschickes Winter-Outfit unter dicker werdenden und auf ihrer Nase herumtanzenden Schneeflocken spazieren. Es sind nicht viele Menschen unterwegs. Rosi mag das, so hat sie das Gefühl, alle anderen verpassen etwas. Die Stimmung ist märchenhaft.
Gegen 14.30 Uhr hört es auf zu schneien. Gut gelaunt fährt Rosi mit dem Lift nach oben. Aber nicht, um Ski zu laufen, dafür ist der Anzug viel zu elegant. Rosi ergattert einen Liegestuhl vor einer angesagten Skihütte in der Sonne. Sie setzt ihre Designer-Sonnenbrille auf, bestellt einen Kir royal und rekelt sich in ihrem Liegestuhl. Rosi träumt vor sich hin, bis plötzlich ein Schatten auf sie fällt. Sie blinzelt und formuliert in Vorfreude die Bemerkung: „Geh mir ein wenig aus der Sonne.“ Sie wollte das schon immer mal sagen. Dionysos, vor seiner Tonne liegend, soll den Satz zu Alexander dem Großen gesagt haben, als dieser ihm einen Wunsch gewährte. Warum das so war, weiß sie nicht mehr, aber das war ja auch egal. Dazu kommt es allerdings nicht, denn durch das Gegenlicht lächelt ein Gesicht mit Aureole auf sie herab und will sich neben sie setzen.
Und da ist sie, die Belohnung, sich in vier harten Wochen in diesen großartigen Skianzug hineingehungert zu haben. Rosi schiebt ihre Brille ein wenig weiter hoch, zwinkert erneut und bittet das himmlische Wesen mit einer Handbewegung, denn sagen kann sie vor Aufregung nichts, Platz zu nehmen. Der Mann sieht aus wie Ralph Fiennes in seiner besten Zeit, also in der des Englischen Patienten – vor dem Flugzeugabsturz. Ralph Fiennes’ weißes Lächeln im gebräunten Gesicht vertieft sich, während er es sich in dem Korbsessel neben ihr bequem macht.
„Danke, ich bin übrigens Ralph, sagt er nun und Rosi traut ihren Ohren nicht.“
„Mit f oder ph“, fragt sie aufgeregt.
Ralph blickt sie an und sagt amüsiert: „Mit ph, ist das wichtig?“
„Nein, gut. Ich bin Rosi“, sagt sie, lehnt sich wieder zurück und nimmt genussvoll einen Schluck vom Champagner-Cocktail.
Kurz darauf fällt ihr siedend heiß ein, dass sie um 17.15 Uhr einen Termin beim Friseur hat. Glatte Haare passen besser zum neuen Silvesterkleid und Föhnen ist nicht Rosis Stärke. Ein Blick auf die Uhr macht ihr klar, dass ihr noch eine knappe Stunde bleibt. Sie bedauert nun den Friseurtermin. Auf der anderen Seite – vielleicht kommt Ralph auch zum Ball. Sie würde mit einem stilvollen Brushing, dem roten Seidenkleid und den schicken Pumps allen anderen die Schau stehlen.
„Bleiben Sie länger?“, will Ralph wissen.
„Bis zum 2., aber jetzt muss ich leider gehen. Ich habe noch einen Termin.“
„Schade, ich hatte mich gerade an Ihren Anblick gewöhnt. Aber dann sehen wir uns vielleicht beim Ball heute Abend.