Sagenhaftes - Alte Sagen neu erzählt Band 3 - Martina Meier (Hrsg.) - E-Book

Sagenhaftes - Alte Sagen neu erzählt Band 3 E-Book

Martina Meier (Hrsg.)

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Beschreibung

Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt von Mythen und Legenden! In diesem Buch entfalten sich packende Sagen, die auf den ersten Blick vertraut erscheinen, doch in ihrer Neuinterpretation einen frischen Glanz erhalten. Von den nebelverhangenen Bergen bis hin zu den sanften Tälern und geschichtsträchtigen Städten entführen die Geschichten in eine Zeit, in der die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fantasie noch fließend war. Erleben Sie düstere Begegnungen mit unheimlichen Gestalten, verblüffende Wendungen in alten Überlieferungen und eine Vielfalt von Figuren, die gleichermaßen furchteinflößend wie faszinierend sind: Hexen, Riesen, Wassernixen und geheimnisvolle Geister. Es sind die Geschichten, die uns noch heute zum Staunen bringen und in uns die uralte Faszination für das Unbekannte wecken. Verfasst von begeisterten Autor*Innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vereint diese Sammlung die kulturelle Vielfalt und den reichen Sagenschatz des deutschsprachigen Raums – und weit darüber hinaus! Ein Buch für alle, die die Magie alter Sagen lieben – und für jene, die sich von neuen Perspektiven überraschen lassen wollen. Ein Werk, das Tradition mit neuem Erzähltalent verbindet – spannend, atmosphärisch und zeitlos.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sagenhaftes

Alte Sagen neu erzählt - Band 3

Martina Meier (Hrsg.)

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - www.papierfresserchen.eu

© 2025 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2025.

Illustrationen Cover: © obsidian Fantasy - Adobe Stock lizenziert

ISBN: 978-3-99051-333-0- Taschenbuch

ISBN: 978-3-99051-337-8 - E-Books

*

Inhalt

Die Geisterkirche von St.-Lorenz

Spuk um Mitternacht

Fantastische Tierwelt in Basel

Der Wetzel vom Bürgerfeld

Erkenntnisse des Tramer Frierich

Von Skalden Zeiten

Eine Legende des Leprechauns

Göbekli Tepe

Wie die Milchstraße entstand

Ein mysteriöser Fall auf der Nürburg

Melusina

Der Rattenfänger von Hameln

Die Sage von der Roßtrappe

Die Schönheit der Medusa

Von dem grausamen Landrichter

Bischof Benno und der Kirchenschlüssel

Die Wundereiche im Barther Stadtforst

Die Bäume am Weg nach Jerusalem

Die Sage von Mwindo

Europa und der Stier – Oder: Zeus im Liebesrausch

Darf ich mitfahren?

Die Lehren Altenburgs

Das Monster im Gerberloch

Frau Idda

Das Grab des Riesen Hulis am Niederrhein

Zwischen Gut und Böse

Das goldene Tor

Enthauptung für Fortgeschrittene

Die Mittagshexe

Dem Heiligen Panteleimon auf der Spur

Wie der Schinderhannes die Gendarmen narrte

Unter dem Vollmond: Jolande

Das Frauchen von Stavoren

Von schlafenden Riesen und kopflosen Priestern

Antigone und Haimon

Wenn hungrigen Löwen der Appetit vergeht

Die schöne Nonne

Der Feuerreiter

Die Robbenfrau von Mikladalur

Das Glöckchen von Zürich

Der alte Wolf

Risin og Kellingin

Der Rattenfänger von Hameln

Die Stierwascher von Salzburg

Silbermond

Die Zwerge im Schlosse zu Hoya

Der Heidenschuss

Heimat erleben - Geschichten erzählen

*

Autorinnen + Autoren

Adrian Schwarzenberg

Alina Zaripov

Bernhard Finger

Bettina Pfeffer

Caroline Seeger-Herter

Christa Blenk

Christian Knieps

Christian Reinöhl

Christoph Buysch

Daniel Kütük

Doreen Pitzler

Dr. Thomas Melerowicz

Emma Summer

Florian Geiger

Hannelore Futschek

Hans Peter Flückiger

Helmut Blepp

Janny Prillwitz

Julia Weber

Karl-Heinz Richter

Kathinka Reusswig

Kay Ganahl

Léonie Kessler

Manuela Klemenz

Maxine Danisch

Michael Wiesendorf

Michaela Kläber

Mona Lisa Gnauck

Monika Arend

Nanja Holland

Nicole Gabrys

Oliver Fahn

Pamela Murtas

Paula Nick

Sabine Siebert

Vanessa Boecking

Volker Liebelt

Wolfgang Rödig

Zero Alala

*

Die Geisterkirche von St.-Lorenz

Eine Sage aus Paderborn

An einem frostigen Herbstabend des Jahres 1516, als der Wind durch die stillen Gassen der kleinen Ortschaft St.-Lorenz zog, begab sich eine alte, fromme Frau zur ortseigenen Kirche. Niemand wusste genau, warum sie diesen Weg allein wählte – manche flüsterten, sie sei auf der Suche nach Vergebung, andere sagten, sie trage ein lang gehütetes Geheimnis in sich, das nur in der Stille der Kirche offenbart werden könnte. Ihr Gesicht war von den Jahren gezeichnet und in ihren Augen stand eine Schwere, die von unerzählten Geschichten sprach.

Es war die Nacht vor Allerseelen und in der Luft lag eine seltsame Spannung, als würde der Schleier zwischen den Welten dünner werden. Die Zeit schien stillzustehen, als sie die mächtigen Türme der Kirche erblickte. Sie wirkten wie Wächter über den einsamen Hügel. Die Kirche selbst war wie ein Monument der Ewigkeit, mit ihren hohen gotischen Bögen, die sich fast drohend gegen den sternenlosen Himmel abzeichneten.

Die Fenster, einst prächtig verziert, schimmerten kaum in dem schwachen Licht der fernen Laternen. Dunkle Schatten tanzten hinter den Glasmalereien, als ob längst verstorbene Seelen dort gefangen wären. Die steinernen Wasserspeier blickten mit ihren verzerrten Fratzen auf die Frau herab, als wollten sie sie warnen, doch sie schritt unbeirrt und unbekümmert weiter.

Die Luft war winterschwer und kalt, jeder Atemzug der Frau hing wie Nebel in der Dunkelheit. In der Ferne war das leise Läuten einer Nebelglocke zu hören, ein Echo, das durch die Gassen hallte und das Gefühl verstärkte, dass diese Nacht nicht nur der Welt der Lebenden gehörte.

Die Kirche stand da, wie eh und je, in düsterem Schweigen vor ihr. Die hohen Mauern warfen bedrohliche Schatten auf den Platz, als wären sie die stillen Zeugen längst vergangener Zeiten. Die Frau, in ihren schwarzen Mantel gehüllt, hielt für einen Moment inne. Der Mantel, schwer und alt, hing lose an ihrem mageren Körper herab. Das tiefe Schwarz des Stoffes wirkte wie ein Abgrund, der jedes Licht verschluckte, das ihn berührte. Der Kragen war hochgeschlossen, mit einem zerschlissenen Band zugeknotet, das vom Gebrauch längst ausgefranst war. Der Saum des Mantels streifte den Boden, verdreckt vom Regen und Schlamm der Straßen. Die Kapuze verbarg einen Großteil ihres Gesichts, nur eine zitternde Hand, die fest die Mantelfalten umklammerte, lugte darunter hervor.

Als sie auf das Eingangsportal zuschritt, zogen Wolken vor den Mond und das schwache Licht, das zuvor die Kirche umhüllt hatte, verblasste. Die Fenster, einst bunt und lebendig, wirkten jetzt bei näherem Betrachten wie blinde Augen, ihr Glas so dunkel, dass Licht kaum durchscheinen konnte. Die Türflügel knarrten leise, als sie sie mit einem Zittern in der Hand aufstieß, so als würde die Kirche selbst einen stummen Gruß der Vorahnung aussprechen.

Gottesfürchtig zog sie sich die Kapuze ihres Mantels vom Kopf und trat zaghaft durch das gewaltige Portal. Der kalte Stein unter ihren Füßen fühlte sich wie der Pfad zu einer anderen Welt an. Sie war fest entschlossen, die Messe zu Ehren der Verstorbenen zu besuchen, doch als sie die Schwelle überschritt, erfasste sie ein tiefes Frösteln, das nicht nur von der Kälte der Nacht herrührte. Ein unbestimmtes Gefühl des Unbehagens legte sich auf ihre Schultern, schwerer als der Mantel, den sie trug.

Im Inneren der Kirche herrschte unheimliche Stille. Das entfernte Murmeln des Windes, das durch die Ritzen der Türen drang, war scheinbar das einzige Geräusch, das sie begleiten wollte. Die schweren Bänke standen leer und die Schatten der Säulen ragten wie stumme Soldaten auf. Kerzen, die längst hätten erlöschen sollen, flackerten schwach in ihren Haltern, als kämpften sie verzweifelt gegen die eindringende Finsternis. Aber diese Dunkelheit war anders – sie schien zu lauern, sich zu bewegen.

Im kraftlosen Aufbegehren dieser Kerzen schien sich der Blick der Frau zu klären. Vor wenigen Augenblicken noch hatte sie die Bänke leer geglaubt, als wäre sie die einzige Seele, die die Kirche in dieser kalten Nacht betrat. Doch mit einem Mal, als sich ihr Blick lichtete, sah sie, dass die Reihen fast vollständig besetzt waren. Die Gestalten, die dort regungslos saßen, schienen mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Ihre Gesichter blieben im Schatten verborgen, als ob das Kerzenlicht sie absichtlich mied, und eine bleierne, bedrückende Stille lag über ihnen, als wollten sie keine Bewegung wagen, um nicht die Aufmerksamkeit von etwas Unsichtbarem auf sich zu ziehen.

Am Altar stand ein Priester, gehüllt in tiefdunkle Gewänder, so schwarz wie die mondlose Nacht. Sein Gesicht war unter einer schweren Kapuze verborgen, nur sein Mund zeichnete sich als blasses, lebloses Schimmern ab. Er sprach kein Wort, seine Boshaftigkeit war fast greifbar, und die Angst selbst schien das heilige Gemäuer zu durchdringen, um sich ihm zu entziehen.

Die Frau schluckte schwer, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie setzte zögernd einen Fuß vor den anderen und begann, die Bankreihen abzugehen. Jeder Schritt hallte dumpf auf dem kalten Steinboden wider, als hätte sie den Raum für sich allein. Doch mit jeder Gestalt, die sie passierte, schlich sich ein immer stärker werdendes Gefühl der Beklemmung in ihr Herz. Es war, als ob diese reglosen Körper in den Bänken etwas verbargen, etwas, das ihr nur allzu vertraut schien. Ihre Schritte wurden langsamer und ihre Augen wanderten über die Anwesenden – leblose Figuren, erfüllt von einer unbeschreiblichen Präsenz des Grauens.

Plötzlich blieb sie abrupt stehen. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, als sie genauer hinsah. Da war ein Gesicht, das sie kannte. Es gehörte zu einem Mann aus ihrem Dorf, einem Mann, der seit Jahren tot war, begraben unter der Erde. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und ihre Hände begannen zu zittern. Sie zwang sich, weiterzugehen, doch mit jedem Schritt erkannte sie weitere Gesichter. Eine alte Frau, die einst ihre Nachbarin war. Ein junger Bursche, der vor vielen Wintern an einem Fieber gestorben war. Die Bankreihen waren gefüllt mit Toten. Alle dieser stillen Kirchgänger hatten das Reich der Lebenden längst verlassen und doch saßen sie hier, als wären sie Teil der Messe. Ihr Atem wurde flach und das Frösteln, das sie zuvor ergriffen hatte, verwandelte sich in eine lähmende Taubheit, die bis in ihre Knochen kroch.

Dann, genau in dem Moment, als die Glocke des Kirchturms mit einem dumpfen, unheilvollen Schlag die erste Stunde des Tages verkündete, erstarb jegliches Geräusch und eine unheimliche, unweltliche Lautlosigkeit stülpte sich wie ein Sargdeckel über die Kirche. Es war, als würde die Zeit selbst den Atem anhalten. Doch dann fuhr der Priester abrupt herum, seine Bewegung wurde von einem lauten Krachen begleitet, als er die Bibel mit einem gewaltsamen Knall zuschlug. Der Klang hallte durch das Gewölbe der Kirche, als wäre es ein Trommelschlag des Jenseits – ein Weckruf. Die Frau zuckte zusammen, ihre Augen starrten entsetzt zum Altar. Der Priester hatte die Kapuze zurückgeschlagen und sein gehörnter Schädel, dem eines Ziegenbocks gleich, ließ keinen Zweifel übrig – das dort war der Teufel höchstpersönlich.

In diesem Moment spürte sie es – das Unausweichliche. Langsam, wie in einem Albtraum, drehten sich alle Köpfe der düsteren Gestalten in den Bänken gleichzeitig in ihre Richtung. Hunderte kalte, tote Augenpaare richteten sich auf sie. Ihre Blicke waren leer, ohne Leben, und doch haftete in ihnen eine eindringliche Bosheit – oder war es Sehnsucht? Es war, als hätten sie auf diesen Moment gewartet. Eine eisige Angst packte die Frau, ein Gefühl, das tief aus ihrem Inneren aufstieg und sich wie kaltes Gift in ihren Adern ausbreitete.

Ohne nachzudenken, getrieben von purer Panik, wandte sie sich zur Tür. Ihre Füße schienen ihr kaum noch zu gehorchen, doch sie zwang sich, loszurennen. Hinter ihr erhoben sich die Toten langsam von ihren Bänken, ihre Bewegungen unnatürlich und träge, doch ihre Entschlossenheit war unaufhaltsam. Lautlos glitten sie durch die Bankreihen, ihre gespenstischen Hände griffen nach ihr, als ob sie versuchen wollten, sie zurück in die Dunkelheit zu ziehen, aus der sie selbst gekommen waren.

Die Frau rannte, stolperte, fing sich und rannte weiter. Ihre Schritte hallten wie Hammerschläge auf dem kalten, steinernen Boden der Kirche wider. Jeder Atemzug war schmerzhaft, denn die Kälte brannte jetzt in ihren Lungen. Die Toten folgten ihr schwebend, ihre Schatten verschmolzen mit der Finsternis, die den Raum verschlang. Sie schienen immer näher zu kommen, ihre Arme ausgestreckt, die langen, knochigen Finger berührten ihren Mantel. Ein kalter Ruck ging durch ihren Körper, als der Stoff unter ihren Berührungen zu reißen begann – Fetzen des Mantels blieben in den Händen der Verfolger zurück, als sie verzweifelt durch das große Eingangsportal stürmte. Die Toten blieben im Inneren der Kirche zurück.

Draußen war die Luft plötzlich frisch und ohne Mantel kaum zu ertragen. Ihre Brust hob und senkte sich schwer, und sie wagte erst wieder zu atmen, als die schweren Holztüren der Kirche mit einem dröhnenden Knall hinter ihr ins Schloss fielen. Sie sank auf die Knie und betete. Sie dankte Gott und allen Heiligen für ihr Entkommen, doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das, was sie in der Kirche gesehen hatte, sie niemals wirklich loslassen würde.

Am nächsten Morgen, als die Sonne in strahlendem Glanz über St.-Lorenz aufging und die frostige Luft des Herbstes mit goldenem Licht durchbrach, kehrte die Frau zur Kirche zurück. Diesmal war sie nicht allein. In Begleitung des Dorfpfarrers, der auf ihren Bericht hin nur skeptisch den Kopf geschüttelt hatte, stieg sie den Weg zum Kirchhof hinauf. Das Licht der Sonne fühlte sich trügerisch warm an, fast als wollte es die düstere Erinnerung an die vergangene Nacht fortwischen. Doch die Frau spürte, dass etwas hier zurückgeblieben war – eine Beklemmung, die der Sonnenschein nicht vertreiben konnte.

Als sie das eiserne Tor zum Kirchhof passierten, herrschte erneut eine unheimliche Stille. Aber sie war anders, greifbarer, als in der Nacht davor. Die Gräber lagen stumm da, wie sie es immer taten, und doch lastete eine merkwürdige Aura auf dem Ort, als hätten die nächtlichen Ereignisse auch außerhalb der Kirche ihre Spuren hinterlassen.

Der Pfarrer wollte gerade beruhigende Worte sprechen, als sein Blick plötzlich erstarrte. Die Frau folgte seinem stummen Entsetzen und blieb wie angewurzelt stehen.

Auf jedem der Gräber, die hier oben auf dem Kirchhof lagen, ruhte ein Stück Stoff – je ein Teil des schwarzen, zerfetzten Mantels, den die Frau in der Nacht zuvor getragen hatte. Fetzen des Stoffes lagen verstreut über die Gräber, als hätte jeder der nächtlichen Kirchgänger ein Stück von ihr mitgenommen, als letzte Erinnerung an eine lebendige, friedvolle Welt, die ihren unruhigen Seelen verwehrt blieb.

Der Anblick ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Kein Wort fiel, denn was sie sahen, sprach lauter als jede Erklärung. Die Sonne strahlte hell und klar, doch das Geschehen der Nacht blieb spürbar.

Langsam traten sie den Rückweg an, der Pfarrer schweigend und in Gedanken versunken, die Frau von einer tiefen Unruhe erfüllt. Als sie das Gräberfeld hinter sich ließen, blieb ein schwerer Schleier über dem Ort zurück, als würde die Finsternis nur auf ihre Rückkehr warten.

Und während sie die warmen Strahlen der Sonne auf ihrer Haut spürten, wussten sie dennoch, dass der kalte Griff des Bösen die Kirche von St.-Lorenz noch nicht losgelassen hatte.

Bernhard Finger,geboren 1971, ist Pferdenarr, Mittelalterfan, Hobbykoch und begeisterter Bogenschütze. In seiner Freizeit schreibt er Kurzgeschichten, darunter Gruselstorys, die auch bereits in einer bekannten Heftromanserie veröffentlicht wurden. Heute schreibt und veröffentlicht er vor allem Märchen, Fantasy und gelegentlich Science-Fiction.

*

Spuk um Mitternacht

Eine Sage aus Neubrandenburg

In Neubrandenburg geht die Sage um, dass sich noch im 19. Jahrhundert Nachtwächter, die über die Sicherheit der Stadt wachen sollten, sich um Mitternacht nicht zum Friedländer Tor wagten. Das Tor liegt nordöstlich der Stadt, wurde in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts erbaut und ist heute das am besten erhaltene Tor der Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg.

Während in der Zeit vor und nach der mitternächtlichen Stunde damals jeder das Friedländer Tor ungehindert passieren konnte, auch die Nachtwächter, zeigte sich zur Geisterstunde entweder eine weiße, schauerliche Gestalt, die den Passanten die Arme entgegenstreckte, oder eine grausige, schwarze, die, einigen Beobachtungen zufolge, ein schwarzer Eber gewesen sein soll, der um das Friedländer Tor herum sein Unwesen trieb. Städter, die in der Nähe des Tores wohnten, vernahmen nachts oft unheimliche Laute, mal ein Sirren, mal ein Stöhnen, Laute, die ihnen den Schlaf raubten.

Niemand traute sich, diesem Spuk auf den Grund gehen, bis sich eines Tages der Stadtjäger dazu berufen fühlte. Er habe keine Angst vor Geister, ließ er verlauten und machte sich eines Nachts auf den Weg, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Er ging vom äußeren der vier Tore aus ... doch kam nie an seinem Ziel, dem inneren Tor, an. Am nächsten Morgen fand man seinen Leichnam in der Mitte des Weges liegen. Hatte er sich für die Bewohner geopfert?

Der nächtliche Spuk trat jedenfalls nie wieder auf ...

Nanja Holland ist ein Kind der Sechzigerjahre und arbeitet als freie Journalistin.

*

Fantastische Tierwelt in Basel

Sagen aus Basel

In der schönen Stadt Basel an der Schweizer Grenze zu Deutschland und Frankreich und in ihrem nahen, sehr ländlichen Umland tummelten sich in alten Zeiten gar viele wunderliche Geschöpfe aller Arten und Herkünfte. Fast scheint es so, als habe sich hier zeitweise der heimliche Treffpunkt der gesamten fantastischen Tierwelt der angrenzenden Nachbarländer befunden.

Man erzählt sich zum Beispiel, dass bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg ein fliegendes Schwein regelmäßig seinen Schabernack im Quartier zwischen dem Spalenberg und dem Spalentor getrieben habe. Selbst heute noch kehre es bei seltenen Gelegenheiten an diesen Ort zurück. Wenn man also in einer klaren, windstillen Vollmondnacht kurz vor oder nach Halloween ein zischendes Sausen hört, das von ausgedehnten, tiefen Grunzlauten begleitet wird, dann sollte man in höchster Eile sämtliche Fenster und Läden schließen und mindestens zehn Minuten nicht aus dem Hause gehen. Denn – so sagen die Alten – wer das fliegende Spalentier mit eigenen Augen erblicke, dem würde der Kopf so sehr anschwellen, bis ihm die Adern auf der Stirn platzten und die Augenäpfel aus den Höhlen träten.

Auf dem Bruderholz hingegen tut man gut daran, sich im Spätherbst und Winter nicht die Augen, sondern die Ohren zuzuhalten, wenn man ganz unerwartet von den kahlen Bäumen herab einen lieblichen Vogelgesang vernimmt. Denn der wunderschöne Paradiesvogel, der das verführerische Lied trillert, sei – so heißt es – nichts anderes als ein Bote des Teufels, der einst bei einem Konzil die führenden Bischöfe so sehr verwirrte, dass sie den Heimweg nicht mehr fanden und bald darauf vor Erschöpfung starben.

Zudem soll in einigen Dörfern um Basel herum bisweilen ein riesiger, schwarzer Hund mit feuerroten Augen erscheinen, der bewegungslos auf der Straße liegt, nie einen Ton von sich gibt, aber den Passanten in engen Durchgängen standhaft den Weg versperrt. Um unversehrt an ihm vorbeizukommen, müsse man – so wird geraten – entweder laut fluchen oder mit gehobenen Armen inbrünstig beten. Außerdem dürfe man auf keinen Fall über ihn hinwegsteigen, sondern müsse sich an seinem mächtigen Körper vorbeizwängen. Berühre man ihn oder versuche man, sich schweigend über ihn hinwegzusetzen, so werde man schlimme Hautkrankheiten oder gar schwere körperliche Behinderungen davontragen.

Es ist aber ein anderes, noch viel berüchtigteres und gefährlicheres Untier, dem man in Form von zierlichen, grünen Brunnenfiguren auf Schritt und Tritt begegnet, wenn man durch die malerischen Gassen der Basler Innenstadt schlendert. Die Rede ist von dem sagenumwobenen Basilisken, einer handgroßen, beschuppten Kreatur mit Drachenschnauze, Schlangenschwanz und einem Hahnenkamm auf dem Kopf. Wenn auch seine kleinen, beflügelten Abbilder auf den Brunnen heute sehr harmlos und geradezu niedlich auf uns wirken, so konnte man dies früher von einem lebenden Exemplar ganz und gar nicht behaupten. Man erzählt sich, dieses unheimliche Tier, das halb Schlange, halb Hahn sei, habe einst in modrigen Kellern und dunklen Wasserläufen gehaust und sich bei Tage oft versteckt gehalten.

Wenn es aber ausnahmsweise einmal vor Sonnenuntergang aus seinem feuchten Wohnloch hervorgekrochen sei, um auf die Jagd zu gehen, habe es in kürzester Zeit und trotz seiner geringen Größe mehr Angst und Schrecken verbreitet als ein ausgewachsener Drache. Die Bevölkerung Basels wurde deshalb dazu angehalten, alle schwarz gefärbten Hühnereier sofort zu verbrennen, denn man glaubte, dass die Basilisken aus solchen Eiern schlüpfen würden. Nicht nur die scharfen Krallen und spitzen Zähne dieses Untiers fürchteten die Leute, sondern vor allem auch seinen stechenden Blick, mit dem es sogar hartes Gestein durchsägen konnte. Denn wehe dem, der einem Basilisken begegnete und seinen blitzenden Augen nicht ausweichen konnte, der fiel auf der Stelle tot um!

Ein besonders bösartiger Artgenosse dieser drachenähnlichen Monsterchen soll um das Jahr 1500 im Allschwiler Wald unweit der Stadt Basel sein Unwesen getrieben haben. Immer wieder kamen an diesem Ort nämlich Jäger, Pilzsammler, Waldarbeiter und Wanderer auf ganz sonderbare Weise ums Leben, ohne dass jemand genau wusste, was ihnen zugestoßen war. Man fand die Toten meist ohne sichtbare Verletzungen auf dem Rücken liegend, die Augen vor Schreck weit aufgerissen und den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.

Der Polizei und den Bestattern fiel zudem die ungewöhnlich starke Leichenstarre auf, die es oft unmöglich machte, die Glieder auch nur einen Millimeter zu bewegen. Deswegen mussten für einige der Verstorbenen, die besonders verkrümmt aufgefunden worden waren, sogar Särge nach Maß angefertigt werden.

Die Bevölkerung ahnte wohl, dass etwas Unnatürliches im Walde vor sich ging, doch die Behörden versuchten, die aufkommende Panik zu ersticken, indem sie die merkwürdigen Vorkommnisse mit allerlei unsinnigen Geschichten erklärten.

Eines Tages aber entdeckte ein altes Mütterchen beim Beerenpflücken am Waldrand eine Art kleiner Drachen mit langem Schwanz, scharfen Krallen und einem ausgeprägten Hahnenkamm auf dem Kopf, der schnaubend und krächzend aus einer nahen Höhle kroch. Die Alte erkannte das Tier sofort als einen Basilisken und versteckte sich zitternd hinter den Gebüschen, bis das unheimliche Geschöpf sich genügend entfernt hatte, sodass sie es wagen konnte, den Heimweg unbemerkt anzutreten. Im Dorfe aber erzählte sie den Leuten von ihrer schrecklichen Beobachtung.

Es begab sich nun, dass gerade damals in einem der Allschwiler Bauernhöfe zwei Zwillingsbrüder lebten, zwei schöne Burschen von herausragender Tapferkeit und großer Intelligenz, deren jugendlicher Übermut und trotzige Ungeduld aber oft ihre Taten beeinflusste. Diese beiden Männer beschlossen alsbald, dem bösartigen Tier das Handwerk zu legen. Zunächst mischten sie in einem großen Kessel Kalkstaub mit warmem Wasser, schlichen sich dann eines Abends kurz vor Sonnenuntergang in den Wald und mauerten das Loch der Basilisken-Höhle damit zu.

Erst nachdem der Kalk vollständig ausgetrocknet und ganz hart geworden war, atmeten sie erleichtert auf und begaben sich fröhlich pfeifend auf den Heimweg. Sie dachten wohl, sie hätten dem Untier so den Garaus gemacht, doch dieses war schlau und grub sich einfach eine andere Öffnung.

Einige Tage später wurde wieder eine junge Pilzsammlerin tot aufgefunden und es stellte sich heraus, dass sie ausgerechnet die hübsche Angebetete des einen Zwillingsbruders war.

Wut und Trauer aber sind mächtige Waffen der Rache, gerade wenn sie ein noch junges, verliebtes Gemüt befallen. So hatte der Basilisk die beiden Männer mit seiner hinterhältigen Tat nicht abgeschreckt, sondern eher angestachelt. Sie schlichen also eines Nachmittags wieder in den Wald und verstopften die beiden Eingänge zur Höhle mit Ästen und trockenem Laub, das sie alsbald anzündeten.

Schon Minuten später hörte man einen markerschütternden Schrei und ein heftiges Knallen bis weit über den Wald hinaus, sodass die Bauern auf ihren Feldern vor Schreck die Heugabeln fallen ließen und die Kinder sich weinend in den Schoß ihrer Mütter flüchteten.

Doch der Plan der Brüder ging nicht auf und schon wenig später fand man die nächste Leiche im Wald.

Diesmal handelte es sich um den betagten Vater der beiden, der als örtlicher Förster wirkte.

Da sahen die mutigen Zwillinge wohl ein, dass der Basilisk nicht so einfach zu besiegen sei und sie sich wohl einen geschickteren Plan aushecken müssten. Es vergingen einige Tage der Ratlosigkeit, bis der eine Bruder eines Nachts aus einem unruhigen Albtraum erwachte und plötzlich die Lösung erkannte.

Schon am nächsten Morgen zogen die beiden in aller Frühe gen Basel, um dort einen gekannten Glasmacher aufzusuchen, der im Ruf stand, die reinsten und klarsten Spiegel im ganzen Lande herzustellen.

Erst am späten Nachmittag sah man die Zwillinge wieder mit einem großen Paket gegen Allschwil marschieren, doch sie betraten nicht, wie erwartet, das Dorf, sondern nahmen den Umweg durch das nahe Waldstück. Dort stellten sie den großen Spiegel, den sie in Basel erworben hatten, vor das Loch der Höhle und versteckten sich gespannt hinter zwei dicken, dunklen Eichen. Sie mussten nicht lange warten, da streckte das grüne Monsterchen seine Nase aus der Tiefe und kroch mit schleifenden Bewegungen aus der unheilvollen Schwärze seines Lochs. Als es sich aber aufrichtete, blickte es seinem Spiegelbild direkt in die Augen und fiel wie vom Blitze getroffen tot um.

Seither weiß man in ganz Basel, dass man sich eines Basilisken am besten mit einem einfachen Spiegel entledigt.

Caroline Seeger-Herter wurde 1979 in Zürich geboren und lebt mit ihrer Familie in der Nordwestschweiz. Sie arbeitet als Sprachlehrerin und Legasthenietrainerin. Schreiben war schon früh eine Leidenschaft, dem sie mit dem Älterwerden ihrer Kinder wieder mehr Zeit widmen kann.

*

Der Wetzel vom Bürgerfeld

Eine Sage aus Lampertheim

Der alt’, dick’ Wetzel, wie ihn die Lampertheimer nennen, war ein berüchtigter Wiedergänger. Zu Lebzeiten hatte er sich jahrelang am Grund und Boden anderer Bauern bereichert, indem er nachts auf den weitläufigen Flächen des Bürgerfelds Grenzsteine zu seinen Gunsten verschoben hatte. Deshalb wurde er dazu verdammt, nach seinem Tode Nacht für Nacht über die Äcker zu streifen, die an der Straße nach Worms lagen. Handwerksburschen und andere späte Wanderer, die in der Dunkelheit von der Rheinbrücke in Richtung Lampertheim gelaufen waren, wollen ihn gesehen haben, wie er im Mondlicht irr kichernd über die Furchen gehüpft sei mit einer alten Messlatte auf dem Buckel. Ein ums andere Mal sei er dann auch auf manche dieser Leute zugekommen und ihnen heimtückisch auf den Rücken gesprungen, um sich von ihnen über die Äcker tragen zu lassen, bis sie erschöpft zusammenbrachen. Beim Köcherlinsbrunnen, der Gemarkungsgrenze, sei er dann stets verschwunden. Seine Opfer ließ er zurück, schreckensbleich und zitternd. Einigen von ihnen wurden nach einem solchen Erlebnis über Nacht die Haare weiß.

Einer dieser Unglücklichen war der Bauer Maibach. Ihn fand man eines Morgens am Feldrand. Er war halb erfroren, seine Zähne hörten nicht auf zu klappern, und er wusste nicht mehr, wer er war. Eine Besserung trat nie wieder ein. Seither hing er schlotternd in seinem alten Ohrensessel am Kamin. Er wimmerte den lieben langen Tag. Des Nachts weinte er sich in einen unruhigen Schlaf voller schrecklicher Träume. Seine panischen Schreie schallten dann durchs ganze Haus. Hannes, der junge Maibach, der sehr unter dem Zustand seines Vaters litt, beschloss, endlich dem bösen Spuk vom Wetzel, diesem verfluchten Untoten, ein Ende zu machen. Mit drei Kameraden von den Nachbarhöfen schmiedete er einen Plan. Sie meldeten sich beim Magistrat und boten an, die alten verwitterten Grenzsteine vom Bürgerfeld durch schöne neue Sandsteine zu ersetzen. Und das taten sie auch. Die alten Steine aber schleppten sie zu einem kleinen Wäldchen in der Nähe des Rheinufers. Dort hoben sie eine Grube aus und bauten eine Gruft mit dicken Wänden und nur einem kleinen Einlass in die Erde. Als alles vorbereitet war, gingen sie in einer herbstlichen Vollmondnacht entschlossenen Schrittes zum Bürgerfeld. Es dauerte nicht lange, da erklang dieses wahnsinnige Lachen vom Wetzel. Doch das konnte die Burschen nicht schrecken. Sie liefen darauf zu und schon bald standen sie dem tückischen Nachtzehrer gegenüber. Der konnte zunächst mit diesem Bauernquartett nichts anfangen, doch einen Moment später vollführte er einige wilde Hüpfer und sprang plötzlich dem Moos Fritze auf den Rücken. Aber ehe er sich richtig festklammern konnte, warfen ihn die anderen drei Kameraden mit kräftigen Stößen auf die Erde. Auch sie lachten jetzt, während sie sich schnell in Richtung Rheinufer davonmachten.

Der wütende Wetzel kam ihnen hinterher und schmiss sich dem Boxheimer Paule ins Kreuz. Wieder rissen ihn die anderen zu Boden – und die vier Freunde verschwanden flugs in dem Wäldchen.

Der schreckliche Wetzel war nun außer sich. Er stürmte kreischend in den Schatten der Bäume. In Raserei drehte er sich auf dem Weg im Kreis auf der Suche nach seinen Widersachern. Er entdeckte sie auf einer kleinen, von Birken umgebenen Lichtung. Als er aber von Zorn geschüttelt den nächstbesten Gegner ansprang, packten ihn die mutigen Bauernsöhne an Armen und Beinen und warfen ihn in die offene Grube. Ohne Zögern kamen sie hinter ihm her. Da konnte er noch so zappeln und schreien, die kannten keine Gnade. Beherzt stießen sie ihn in das Dunkel der Gruft. Sie mauerten in Windeseile den Eingang zu, auch wenn der Gefangene jetzt das Jammern anfing. Als Schlussstein setzten sie das alte Grenzzeichen der Maibachs ein. Letzter Teil ihres Gewerkes war es, die Grube zuzuschütten, sodass der Kerker des Unholds ganz unter der lehmigen Scholle verschwand.

Die Heimsuchungen durch den Wetzel hatten damit ein Ende. Er wurde nie wieder gesehen. Es gibt aber Berichte von Spaziergängern, die abends am Rhein in der Dämmerung ein irres Lachen gehört haben wollen. Hohl soll es geklungen haben, so als wüte da ein Verrückter unter der Erde.

Helmut Blepp: 1959 in Mannheim, selbstständiger Trainer & Berater.

*

Erkenntnisse des Tramer Frierich

Eine Volkssage

Einst bin ich einem Mann begegnet,

dem hat es in den Hals geregnet.

Das war des Nachts beim Bürgerfeld.

Als Geist hat er sich vorgestellt.

Er sprach, dass eines Menschen Streben

nicht taugt für ein erfülltes Leben.

Wenn er nicht auch sein Köpflein nutzt,

wird seine Rübe abgekrutzt.

Drum lasst uns stets beim Heimwärtsgeh’n

Dem Kopflosen ins Auge seh’n,

denn er hat Ahnung, was passiert,

wenn unsereins den Kopf verliert.

Helmut Blepp: 1959 in Mannheim, selbstständiger Trainer & Berater (Arbeitsrecht); lebt in Lampertheim. Vier Lyrikbände, zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften.

*

Von Skalden Zeiten

Eine Sage aus Nordischer Mythologie

Es war ein herrlich warmer Frühlingstag und ich befand mich auf einer Wanderung durch die erwachende Natur. Die Sonne schien, an den Bäumen sprossen die Blätter, die Wiesen quollen über von blühenden Blumen aller Farben. Ich atmete tief ein und setzte mich nieder am Rande eines Brunnens im Schatten einer großen Esche. An den Brunnen gelehnt, die herrliche Natur genießend, muss ich wohl eingeschlafen sein. Nur so kann ich das Folgende erklären:

Drei Affen saßen vor mir, einer verschloss seinen Mund mit der Hand, der zweite seine Augen und der dritte seine Ohren. Eine Stimme, die von weit her zu kommen schien, sagte: „Diese Geschichte ist ein Mythos. Solltest du sie dennoch für wahr befinden, so sei dir gesagt, der Brunnen, an welchem du lehnst, wird kein Wasser mehr führen, der Baum, unter dem du Schatten suchst, wird verdorren. Du sollst nicht darüber mündlich Zeugnis ablegen, weil dir niemand Glauben schenken wird. Es ist so von alters her.

Die Esche Yggdrasils duldet Unbill

Mehr als Menschen wissen:

Der Hirsch weidet oben, hohl wird die Seite,

unten nagt Nidhöggr.

Urds Brunnen fallen trocken, die Nornen gehen ohne Wasser heim.

Begossen ward die Esche, die Yggdrasils heißt,

Der geweihte Baum mit weißem Nebel.

Davon kommt der Tau, der in die Täler fällt.

Immergrün steht er über Urds Brunnen.‘

Am Rande der Wiese erschien eine Bogenschützin, die weit ausholend ihren Pfeil verschoss. Sie blickte mich an und verschwand im Nebel.

Anstelle der Bogenschützin erstand aus dem Nebel eine halb verfallene Ruine. Verschwommen wie eine Fata Morgana waberte sie am Rande der Wiese auf und ich sah, wie vor ihr der Tau auf den Gräsern blitzte. Laute Stimmen drangen aus dem Inneren, Geschrei und Gelächter dröhnten bis zu mir herüber. Gleich hinter dem Gebäude stand eine Brücke, die sich steil in den Himmel erhob.

Die körperlose Stimme sprach zu mir: „Du siehst hier Himinbiörg, die letzte Station vor der Götterheimat. Wo dieses Gebäude steht, ist des Himmels Ende. Menschlein, bist du würdig? Da, wo die Brücke Bifröst an den Himmel reicht, da ist ferner ein großer Saal, der Valaskjalf heißt. Das ist Odins Saal. Ich zeige es dir, auf dass du staunest und demütig gen Himmel blickst, wann immer du ihn erspähst. Aber sei dir gewiss: Nie bist du allein.“

Die Brücke verschwamm vor meinen Augen und an ihrer Stelle ragte nun ein riesiges Relief aus dem Boden: die Midgardschlange auf dem Weg zur Weltumrundung.

Die Stimme sprach: „Kleines Menschlein, bist du würdig, zu sehen, was den Göttern ist? Kleines Menschlein, bist du würdig, zu hören aller Götter Zwist? Jörmungandr, die Midgardschlange, ist Lokis Kind – in Jötunheim aufgezogen. Den Asen wurde durch Weissagung bekannt, dass von ihr und ihren zwei Geschwistern Fenriswolf und Hel großes Unheil ausgehen wird. Allvater Thor wollte ihnen die Macht nehmen, der Welt Böses zu tun, und so warf er die Schlange in die tiefe See, den Wolf band er mit elastischen Bändern, und Hel verbannte er in die Unterwelt. Jörmungandr aber wuchs zu ungeahnter Größe, umrundete in der tiefen See alle Länder und biss sich in den Schwanz. Sie und ihre Geschwister tragen die Last der Verantwortung für das Ende aller Zeiten. Dieses Ende, das da heißt Ragnarök, bedeutet Götterdämmerung. Die Ruine verschwand, das Steinrelief auch. An ihre Stelle trat ein riesiges steinernes Ohr, auf der Seite liegend.

Die Stimme sprach zu mir: „Siehe das Allhörende Ohr. Es ist da wie das Allsehende Auge. Sämtliche Geschichten von Asen und Einheriern, Zwergen und Riesen sind in dieses Ohr gedrungen. Höre nun du das letzte Kapitel meiner Erzählung und bewahre sie auf ewig in deinem Inneren, so wie das Allhörende Ohr hört, nie aber spricht: Zu Zeiten war es geschehen, nach Kriegen mit den Riesen, nach List und Verschwörung, dass den Göttern die Kontrolle über die Welt entglitt. Fenriswolf sprengte sein Band, Hel ward losgelassen, die Midgardschlange schüttelte sich. Es heißt in der Völuspa:

Brüder befehden sich und fällen einander,

Geschwister sieht man die Sippe brechen.

Unerhörtes ereignet sich, großer Ehbruch.

Beilalter, Schwertalter, Schilde krachen.

Windzeit, Wolfszeit, eh‘ die Welt zerstürzt.

Und da geschieht es, dass der Wolf die Sonne verschlingt, den Menschen droht großes Unheil. Der andere Wolf frisst den Mond, und die Midgardschlange gerät in Jötunzorn und steigt auf das Land. Die Schlange speit Gift aus, das Luft und Meer entzündet werden. Surtr, Muspelssohn, reitet hervor, und vor und hinter ihm lodert Feuer. Die Brücke Bifröst bricht entzwei. Loki und sein Gefolge, unter ihnen der Fenriswolf und die Schlange, reiten auf die Ebene.

Ein furchtbares Gemetzel nimmt seinen Lauf. Der Wolf verschlingt Odin, und Wirdar reißt den Wolf. Surtr schleudert sein Feuer über die Erde und verbrennt die ganze Welt. Die alte Esche, dort stand sie, dem Jötunzorn getrotzt, doch Lokis Rache brennt. Die heiße Lohe bedeckt den Himmel. Ein kleiner Fleck, verschont durch Brunnenwasser tief. Doch hilft kein Zauber. Himmel und Erde sind verbrannt. Am Ende heißt es hier:

Wirdar und Wali walten des Heiligtums,

Wenn Surtrs Lohe losch.

Nach Jahr und Tag folgt Nacht und Morgen. Aus Aschen steigt die Welt empor. Vernichtet ward, was hoch gekommen, so wird es sein, so war es einst. Bedenke gut, willst du es sagen, bedenke deiner Taten Folge. Behalt‘s bei dir und sterbe weise, weil sonst der Brunnen ewig dörrt.“

Da wurde ich wach, und der Traum war präsent. Ich beschloss, ihn aufzuschreiben.

Erläuterungen

Einige Passagen sind übernommen aus der Snorri-Edda um der Geschichte den richtigen Charakter zu verleihen.

Yggdrasil: Weltenesche, verkörpert den gesamten Kosmos.

Urds Brunnen: Ausgangspunkt der drei Nornen (Schicksalsgöttinnen), die Urd (Schicksal), Verdandi (das Werdende) und Skuld (Schuld) heißen.

Nidhöggr: ein Drache.

Jötunheim: Riesenheim, eine mythische Gegend im Osten.

Himinbiörg: Himmelsberg, der Wohnsitz des Gottes Heimdall in Asgard.

Asgard: Wohnsitz der Asen (Götter).

Midgard: Erde oder Welt.

Bifröst: Regenbogenbrücke, eine schwankende Himmelsstraße, die Midgard und Asgard verbindet.

Walaskialf (Valaskjalf) oder Walhall: Einer der Götterpaläste in Asgard, dessen Dach mit Silber gedeckt ist.

Völuspa: Die Weissagung der Seherin.

Midgardschlange: Lokis Kind, auch Jörmungandr genannt.

Hel: Tochter Lokis, Herrscherin der Unterwelt.

Fenriswolf: Lokis Sohn; allen dreien (Midgardschlange, Hel, Fenriswolf) wird geweissagt, dass sie die Welt vernichten werden.

Surtr: Ein Feuerriese und Feind der Asen, Herrscher über Muspelheim.

Muspelheim: Ein feuriges Gebiet im Süden.

Surtr: auch Muspelssohn (Feuersohn) genannt, brennt die Erde nieder.

Skalde (altnordisch): Ein höfischer Dichter im mittelalterlichen Skandinavien, vorwiegend in Norwegen und Island.

Einherier: In der nordischen Mythologie die gefallenen Krieger, die von Odin nach Walhall gebracht werden.

Wirdar (Widar, Vidar): Ein Gott der Asen.

Wali (Vali): Ein weiterer Ase (Gott), Bruder von Wirdar.

Bettina Pfeffer, 57 Jahre alt, ist Mutter einer erwachsenen Tochter und berufstätig. Schon seit ihrer Kindheit schreibt sie Gedichte und kleine Geschichten. Seit 2011 beteiligt sie sich regelmäßig an Ausschreibungen für Anthologien. Im Laufe der Jahre wurden dreizehn ihrer Werke veröffentlicht.

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Eine Legende des Leprechauns

Eine Sage aus Irland

Kennt ihr das bekannteste Wahrzeichen Irlands? Vielleicht seid ihr diesem als Leser*innen in anderen Geschichten schon einmal begegnet? Bei J. K. Rowling wäre dies vielleicht möglich. Nun fragt ihr euch bestimmt, welches Wahrzeichen ich meine, oder?

Nun, ich beziehe mich auf den Leprechaun. Er ist neben dem Kleeblatt und der Harfe das bekannteste Wahrzeichen Irlands, auch bekannt als Kobold. Der Kobold ist in den alten Legenden von Irland verwurzelt und gilt als Schuhmacher unter den Feen. Sicherlich habt ihr zumindest schon einmal gehört, dass Kobolde Goldmünzen horten und am Ende des Regenbogens verstecken? Die nun folgende Geschichte ist frei erfunden und erzählt, warum man nicht hinter dem Gold von Leprechaun her sein sollte.

---ENDE DER LESEPROBE---