Letzter Schachzug - Eva Klingler - E-Book

Letzter Schachzug E-Book

Eva Klingler

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Beschreibung

Maren Meinhardt ist zurück! Die legendäre Ahnenforscherin Maren Meinhardt ist wieder in Karlsruhe aktiv. Diesmal übernimmt sie einen Auftrag, von dem sie überzeugt ist: Das wird eine schnelle und einfache Sache. Wilhelm Holzmann ist 1933 vor den Nazis nach England abgehauen, wo er sich Woodman nannte und wohlhabend wurde. Sein Enkel David ist jetzt auf Opas Spuren in der alten Heimat unterwegs und dabei soll ihm Maren helfen. Kein Problem für die erfahrene Ahnenforscherin. Wenn da nicht plötzlich ein alter Mord und eine neugierige Putzfrau auftauchen würden, die den tapferen Widerstandskämpfer in ganz anderem Licht erscheinen lassen. Am Ende muss Maren auf dem Karlsruher Friedhof um ihr eigenes Leben fürchten … Ein spannender Krimi mit Fotos, die das Gruseln lehren könnten!

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Seitenzahl: 275

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Eva Klingler

Letzter Schachzug

Kriminalroman

verlag regionalkultur

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Dank

Montag, 1. Juli 2024

1. Juli 2024, abends

Dienstag, 2. Juli 2024

Mittwoch, 3. Juli 2024

Donnerstag, 4. Juli 2024

Freitag, 5. Juli 2024, abends

Samstag, 6. Juli 2024

Sonntag, 7. Juli 2024

Montag, 8. Juli 2024

Dienstag, 9. Juli 2024

Dienstag, 9. Juli 2024, abends

Mittwoch, 10. Juli 2024

Mittwoch, 10. Juli 2024, abends

Donnerstag, 11. Juli 2024

Freitag, 12. Juli 2024

Montag, 15. Juli 2024

Montag, 15. Juli 2024, abends

Dienstag, 16. Juli 2024

Dienstag, 16. Juli 2024, nachmittags

Mittwoch, 17. Juli 2024

Donnerstag, 18. Juli 2024

Freitag, 19. Juli 2024

Samstag, 20. Juli 2024, nachmittags

Sonntag, 21. Juli 2024, morgens

Sonntag, 21. Juli 2024, nachmittags

Montag, 22. Juli 2024

Dienstag, 23. Juli 2024

Dienstag, 23. Juli 2024

Dienstag, 23. Juli 2024, mittags

Dienstag, 23. Juli 2024, nachmittags

Dienstag, 23. Juli 2024, abends

Mittwoch, 24. Juli 2024

Mittwoch, 24. Juli 2024, nachmittags

Später an diesem Tag

Am anderen Morgen

Danksagung

Alle Personen in diesem Buch sind fiktiv. Persönliche Eigenschaften von handelnden Personen und ihre Funktionen sowie Institutionen sind Ergebnisse schriftstellerischer Fantasie.

Titel: Letzter Schachzug

Untertitel: Kriminalroman

Autor: Eva Klingler

Fotos: Klaus Eppele, soweit nicht anders angegeben; Stadtarchiv Karlsruhe 10/A Do3 Adre 1818-2014/Lesesaal (S. 27, 57, 73, 92), 8/Ze 14. (S. 44, 126)

Herstellung: verlag regionalkultur

Satz: Melina Lamadé, vr

Umschlag: Charmaine Wagenblaß, vr

Endkorrektorat:Andrea Sitzler, vr

eBook-Erstellung: Robin Koßmeier, vr

ISBN 978-3-95505-548-6

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind abrufbar über dnb.de.

Alle Rechte vorbehalten.

© 2025 verlag regionalkultur

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Ubstadt-Weiher • Heidelberg • Stuttgart • Speyer • Basel

Verlag Regionalkultur GmbH & Co. KG

Bahnhofstraße 2 • 76698 Ubstadt-Weiher

Tel. 07251 36703-0 • Fax 07251 36703-29

E-Mail [email protected]

Internet www.verlag-regionalkultur.de

Ich bedanke mich sehr herzlich bei den beiden „Informantinnen“ zur Karlsruher Leopoldstraße, die die Adressbücher akribisch ausgewertet haben!

Ingeborg Müller und Heidi Schweickert – ihr habt mir sehr geholfen!

„Denn nichts ist tatsächlich so, wie es scheint in dieser Welt.“

Platon, antiker Philosoph

„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag ...“Diese Worte von Dietrich Bonhoeffer entstanden lange nach Wilhelms Zeit in Deutschland. Und selbst wenn sie schon 1933 zu hören gewesen wären – er hätte ihren Sinn nicht verstanden. Sich zu opfern war nicht seine Sache. Kämpfen schon eher. Aber er hatte sowieso andere Sorgen, als er sich jetzt einer Horde johlender Männer in braunen Hemden gegenübersah. Sie waren in Schlägerlaune, und sie waren besoffen, denn es war heute der Geburtstag des Führers. „Nichts wie weg hier“, dachte Wilhelm. „Nichts wie weg.“ Und er rannte los.

Montag, 1. Juli 2024

Hallo Tagebuch,

ein bisschen albern ist es schon, in meinem Alter noch Tagebuch zu schreiben. Wie ein Teenager. Ich könnte meine Gedanken ebenso gut meinem Hund Goodboy anvertrauen. Der gibt, so wie du, auch keine Antwort, ist aber ebenfalls verschwiegen. Mehr als das. Ich fürchte, er vergisst alles sofort und meine Worte verschwinden irgendwo auf seinem Kontrollgang zwischen Futternapf und Schmusedecke. Nicht bei dir, Tagebuch. Anders als im richtigen Leben kann man in dir auch mal ein paar Seiten zurückblättern und zumindest in der Theorie alles ganz anders machen. Oder vielmehr: Rückwirkend sieht man, an welcher Kreuzung des Lebens man falsch abgebogen ist. Es ist Juli in Karlsruhe und das Wetter ist schlecht. Es regnet viel mitten in mein Gemüt hinein, und meine Laune ist so fad, als trüge ich einen grauen Kittel. Der kleine Hund, den ich unbedachterweise wieder aufgenommen habe und der mich unablässig mit seinen großen schwarzen Augen anstarrt, hält Spaziergänge im Nassen inzwischen für den Normalzustand. Den beiden Katzen Manfred und Berta ist es egal. Sie schlafen sowieso so gut wie immer. Auch sonst habe ich nicht viel Positives zu berichten. Es ist nach den vielen Turbulenzen der Vergangenheit eine Art Ruhe in mein Leben eingekehrt. Oder Gleichmut, um das Wort Langeweile zu vermeiden. Ich rege mich nicht mehr so schnell auf, erlebe dadurch aber auch nicht dieses unvergleichliche Glücksgefühl, wenn man sich langsam wieder beruhigt. Manchmal fühle ich mich auch ein bisschen einsam. Von all den Liebestragödien, dem Warten auf diesen ganz speziellen Anruf, der aus einem schlechten Tag einen guten macht, von all der Eifersucht und der Romantik rotweinseliger Stunden ist nicht viel übriggeblieben. Die Zeiten der Liebe kommen mir vor wie ein anderes Land, in dem ich früher lebte. Für mich hat das Modell Mann und Frau nicht funktioniert, aber auch kein anderes. Ich kenne jede Menge lesbische Frauen, die länger und glücklicher zusammen sind, als ich es mit Männern war. Aber fürs Lesbisch-Werden ist es auch zu spät. Damit muss man früher anfangen. Ich habe ein bisschen was geerbt, sonst könnte ich nicht überleben, denn die Geschäfte gehen auch nicht sehr gut. Trotzdem lebe ich jetzt in einer durchaus großen und schönen Wohnung in der Ebertstraße, in der ich sogar einen Büroraum steuerlich absetze. Es ist eine recht gute Adresse. Besser als die Südstadt und doch nicht weit von ihr entfernt. Ich habe hier nette Mitbewohner, Bäume vor der Nase und höre manchmal von weitem die Schreie der Zootiere in der Dämmerung. Für morgen hat sich tatsächlich ein Besucher angesagt, der als Kunde kommt. Ein Herr Woodman. Ich werde dir berichten, geduldiges Tagebuch. Vor allem kann ich bei dir das schreiben, was ich denke und was ich sonst sogar vor mir selbst verstecke. Wenn ich alt bin, richtig alt, lese ich mir das alles nochmal durch. Vielleicht.

David Woodman war der Typ von Mann, den ich noch nie gemocht hatte. Und bei dem ich umgekehrt auch nie Chancen als Frau gehabt hatte. So ein hochwichtiger Jungmanager, immer auf dem Sprung zum nächsten Meeting und zum übernächsten Flughafen. Nicht, dass das heute für mich noch zählte, für welche Art von Mann ich in Frage käme. Ich war jetzt Single, hatte mich abgemeldet vom Jahrmarkt der Partnerschaften. Stattdessen hatte ich beschlossen, dem Zerrbild der Alleinlebenden ohne Kinder zu entsprechen, nämlich einer schrulligen Catlady, und hatte mir einen Privatzoo zusammengestellt. Zwei große schöne Katzen und einen kleinen Hund. Alle stammen vom Tierschutz und alle sind sehr anhänglich. Ein Fernsehabend mit rechts einer Katze und links einem Hund kann kaum getoppt werden. Deshalb sah ich meinen jetzigen Besucher nur als Menschen an und nicht als Mann. Zumal er problemlos fast als mein Sohn durchgehen könnte. Er mochte um die Ende 30 sein und alles an ihm atmete Geld. Altes Geld. Geschmack. Gute Familie. Tradition. Beste Schulen. Er war blond und sauber frisiert, an seinem Finger befand sich ein Ring mit einem Wappen. Aus beruflichem Interesse spähte ich. Ein stilisierter Baum. Schwarz auf blauem Grund. Als er sprach, konnte er trotz perfektem Deutsch den leichten angelsächsischen Akzent nicht ganz verbergen. Ich tippte auf England. Irgendwie kriegt das niemand so hin wie die Engländer. Die sehen alle aus wie Prinz William. Ich sollte sehr nahe dran liegen mit meiner Vermutung.

„Mein Name ist David Woodman.“

Ich nickte. Wenn er jetzt noch „der Jüngere“ dranhängte, war ich endgültig in Downton Abbey gelandet. „Sie sind mir empfohlen worden“, sagte er und es folgte sofort eine abwehrende Handbewegung, als wollte er sagen: „Fragen Sie mich nicht, von wem. Top secret.“

Ich fragte ihn nicht. Den Gefallen tat ich ihm nicht. Ich liebe es, unberechenbar zu sein. Das ist ein Vorrecht des Älterwerdens.

„Ich wohne in London, zumindest unter der Woche, und ich werde demnächst heiraten.“

Was mochte er nun erwarten? Wo wohnte er am Wochenende und überhaupt: Was wollte er von mir? „Herzlichen Glückwunsch“, sagte ich ratlos.

Er nickte. Ein selbstsicheres Nicken, so als höre er das sehr oft. Ich fügte noch, nicht ganz ehrlich gemeint, an: „Das freut mich für Sie. Aber ... verzeihen Sie. Ich kenne Sie nicht und deshalb weiß ich nicht recht, was Sie zu mir führt. Außer Sie wollten mich zu Ihrer Hochzeit einladen.“ Ich versuchte ein scherzhaftes Glucksen.

Er formte ein dünnes Lächeln. Ich könnte wetten, er war so etwas wie Anwalt. Jetzt war das Geplänkel vorbei und er kam zur Sache. „Ich lebe in England. Wie gesagt, in London. Bei London. In London die Wohnung, auf dem Land das Anwesen. Pferde kann man schlecht in London halten, oder? Rote Ampeln zu beachten, ist nicht ihre Stärke.“

Allmählich hatte ich das Gefühl, dass eine seiner Stärken darin lag, deutschen Ahnenforscherinnen die Zeit zu stehlen.

„Tja, Herr Woodman ...“

Er hob eine blasse englische Hand. Der Ring mit dem Baum schillerte in einem badischen Sonnenstrahl. „Sie fragen sich, was ich von Ihnen möchte. Warum ich da bin?“

„Wenn Sie es schon selbst ansprechen.“

„Es ist so. Wir Woodmans verkehren in den ersten Kreisen.“ Ich hob die Augenbrauen. „In den ersten, aber nicht in den höchsten. Sie verstehen? Und in diesen Kreisen, vor allem in den hohen, also auch in den höchsten, legt man viel Wert auf family tradition, auf family trees, auf, wie sagt man auf Deutsch: Stammbäume. Auf Herkunft. Denn Geld ist in diesen Kreisen nicht alles. Arm und vornehm ist besser als reich und ordinär.“

Ich sah Kreise vor meinen Augen. Naja, Stammbäume sind auch bei Hunden sehr wichtig, wie ich von mancher Begegnung im Wald wusste. Und vor meinem geistigen Auge wuchsen meinem Klienten lange Ohren und er sah aus wie ein Cavalier King Charles Spaniel, die ja auch aus England kamen und aussahen, als tränken sie jeden Tag Tee mit Charles. Pardon, manchmal habe ich solche unangebrachten Bilder vor Augen.

„Schön, wenn man das von sich sagen kann.“ Ich versuchte ihn humorvoll anzulächeln. Er ging nicht darauf ein. „Mein Vater hatte ein größeres Unternehmen. Heimelektronik, aber auch Marketing. Und Zutrittskontrollsysteme. Er arbeitet manchmal...“ Pause. Es kam lange nichts mehr. „... für gewisse Leute“, endete er. „Heute bin ich zusammen mit einem Partner Geschäftsführer. Er ist für das Kaufmännische zuständig; ich bin Jurist. Cambridge. Ein Jahr in Yale.“

Hatte ich es mir doch gedacht. Jurist. Ein Jurist mit Hang zu Stammbäumen. Aus dem Land des makellosen Rufs. Ich sollte in England leben, dachte ich. Das wären ideale Jagdgründe für Ahnenforscherinnen wie mich.

„Ja. Meine Verlobte kann ihre Familie bis zu William dem Eroberer zurückführen. The Conqueror, Sie wissen schon. Sind damals mit ihm über den Kanal gekommen. Gut, also manches hat man sich ein wenig zusammenreimen müssen. Die kamen ja alle mit französischen Namen in England an. Sauvignon hießen sie. Das wurde viel später zu dem englischen Namen Savington. Und ich darf sagen, dass sie adlig sind. Earl Savington. Hochadel. Nicht mein Schwiegervater. Noch nicht. Sein kinderloser Onkel hält im Moment noch den Titel. Es darf immer nur einer in der Familie den offiziellen Adelstitel tragen. Nach dem Tod des kinderlosen Onkels wird er weitergegeben.“ Stolz schwang mit in seiner Stimme und auch ein klein wenig unpassende Vorfreude auf das Ableben des kinderlosen Onkels.

„Sie haben auch schon Kinder?“ Er sah mich leicht verärgert an. „Not yet. Noch nicht. Wir werden gewiss eines Tages einen Sohn haben. Leonie ist gesund. Und unsere Kind wir werden einen besonderen Platz in der britischen Gesellschaft einnehmen.“ Er machte eine kurze Pause. „Geld und alte Familie, das ist in England immer eine bewährte Mischung gewesen. Das Eine ist nichts ohne das Andere and vice versa.“

Oh, wir waren jetzt bei den Genen angelangt. Das ist ein gefährliches Thema. Für einen Ahnenforscher ist das so eine Sache mit den Genen. Wenn ich manche meiner Klienten und ihre Vorfahren anschaue, dachte ich schon manches Mal, dass die Gene ziemlich viel Humor haben.

„Da dies so ist, möchte ich Leonie, meiner Verlobten, etwas ganz Besonderes zur Hochzeit schenken. Wie soll ich sagen? Eine Dokumentation, eine Art kleines Buch, wie meine Vorfahren hier in Deutschland gelebt haben und wieso und auf welche Weise sie nach England geflüchtet sind.“ Endlich war er zur Sache gekommen. Ich nickte wissend.

Diese Art von Auftrag gab es ab und zu. „Vorfahrenumfeldforschung“ nenne ich es immer. Epigenetik heißt es offiziell. Wie haben uns die Lebensverhältnisse unserer Vorfahren geprägt und was davon schleppen wir als unsichtbaren Rucksack mit uns herum?

Streng musterte mich David. „Ich möchte das auch, damit Leonie und unsere erwünschten Kinder ihre deutsche Seite besser verstehen. Außerdem ist mein künftiger Schwiegervater selbst Historiker. Er kennt sich sehr gut aus mit ...“ Wieder die vielsagende Pause. Ich hob die Augenbrauen. „... mit gewissen Leuten. Sie verstehen.“

Ich schwieg erneut ratlos zu den „gewissen Leuten“. Da es ihm so wichtig war, würde er wohl irgendwann darüber Klartext reden. Ich fürchtete, wir sprachen von Royalty.

Unaufhaltsam fuhr er fort. „Deutsche haben in England nicht immer den besten Ruf gehabt. Fritz the Blitz.“ Er lächelte milde in sich hinein. „Deutsche gelten aber als fleißig und zuverlässig. Was den Krieg betrifft: Man würdigt, dass sich die Deutschen von heute ihrer Verantwortung stellen. Das war während des Krieges schon etwas anders. Die Flüchtlinge waren nicht gerne gesehen.“ Das sind sie in den seltensten Fällen.

„Sie sprachen kein gutes Englisch und hatten keine Manieren. Sie galten als grob und viel zu direkt.“

Ich hörte einfach nur zu. Schielte auf meine Uhr. Zeit, die Tiger zu füttern und den Zwerg auszuführen. Ob er mal zum Ende kam?

„Doch meine Familie war stolz, dass sie gute Deutsche waren, da unser Vorfahr rechtzeitig in den Widerstand gegangen und nach England ausgewandert war. Wir sprechen hier von meinem Großvater.“

Na, endlich, dachte ich.

„Grandad war schon als ganz junger Mann Waise. Die Eltern in Armut gestorben. Stammten aus dem Schwarzwald. Black Forest. Es waren einfache, aber ehrliche Menschen, die unter den Verhältnissen standen ... litten ... ist das das richtige Wort? Sie sind dann als arme Leute zum Arbeiten in der Fabrik in die Stadt gegangen. Und wieder aufs Land, weil es nichts zu essen gab. Und gestorben und er blieb alleine zurück. Er konnte nicht viel darüber sprechen. Man durfte ihn nicht fragen. Da hat ihm jeder Respekt, wie sagt man, gegeben. Nein, gezollt. Und er musste sich alleine durchkämpfen. Ich bin sehr stolz auf ihn. William Woodman war ein Held.“

Pause. Ich ließ ihn reden. Das hat sich bewährt. Die Leute, die zu mir kommen, sehen mich als etwas Ähnliches wie den Pfarrer, dem man alles anvertrauen kann. „Ein Held“, wiederholte ich, um ihn bei Laune zu halten.

„Ja. Er war lange sehr fit. Er ist auch sehr alt geworden, so dass ich ihn noch erleben konnte. Er ist 2001 gestorben. Wollte das Millennium noch mitmachen, tough old bird. Hat er geschafft. Da war er 91 Jahre alt. That’s something, isn’t it? Passiert nicht so oft, nicht wahr?“

Natürlich nicht, Mr. Woodman, dachte ich. Meine Güte, ich bin Genealogin. Familienforscherin. Ü-90-Jährige sind meine Kernkompetenz. Ich habe schon Zeitzeugen in allerletzter Minute befragt. Aufträge aus England hatte ich allerdings eher selten. Meistens saßen Amerikaner vor mir, die ihre deutschen Wurzeln ausgraben wollten und nur hoffen konnten, diese waren nicht ehemals Nachbarn von Donald Trump.

„Leider hat es mein Vater nicht so lange geschafft. Er ist letztes Jahr früh an Krebs gestorben. Traurig.“

Rasch rechnete ich nach. „Wann ist denn Ihr Vater geboren?“

„1942. Mitten im Krieg. Gegen die Deutschen. Seine eigenen Leute. Schlimm. Aber er wusste immer, wohin er gehörte. Meine Mutter und meine Großmutter waren natürlich Engländerinnen. Granny Louise kam aus Yorkshire. Haben dort Schafzucht und Ländereien gehabt. Grandad hat sie am Bahnhof kennengelernt. Zufall.“ David lächelte, ganz in die romantische Erinnerung vertieft. „Und meine eigene Mutter war eine Richards. Von den Richards aus Kent.“

Ich bemühte mich, respektvoll dreinzublicken. Ich bin von den Meinhardts aus Karlsruhe. Auch nicht schlecht.

„Dann wurde Ihr Herr Vater aber auch immerhin über 80 Jahre alt.“ „Ja, das stimmt.“ Wir sahen einander schweigend an. War er jetzt enttäuscht, dass sein Vater nicht noch älter geworden war?

„Mrs. Meinhardt, ich möchte meiner zukünftigen Frau diese erwähnte kleine Schrift übergeben, und zwar etwas über die Zeit, die mein Großvater hier in Karlsruhe verbracht hat. Was er genau von Beruf war, weiß ich nicht. Er hat wohl, so hat es mir mein Vater erzählt, nicht so gerne darüber gesprochen. Etwas beim Zug, wie hießen die damals ... bei der Bahn. Vielleicht können Sie das herausfinden. Geboren ist er 1910 in Karlsruhe, in der sogenannten Waldhornstraße. Ursprünglich kam seine Familie ja aus der Gegend von ...“ Offenbar wusste er keinen genauen Ort zu nennen oder konnte ihn nicht aussprechen und ließ eine befremdliche Pause entstehen. „Aber die Eltern, die hat er nie erwähnt. Tat ihm wohl zu weh. Sie waren, wie gesagt, gestorben. Er sprach nicht gerne über seine Zeit in Deutschland. Das kann man verstehen, wenn man bedenkt, wie es ihm ergangen war. Stiff lip. Keiner, der sich beklagt. An upright person. Ein stolzer Mensch.“

„Das können wir ja alles herausfinden, wenn es Ihnen wichtig ist“, versuchte ich ihm die Peinlichkeit zu nehmen.

„Ja, aber der bäuerliche ... branch ... wie sagt man, Zweig interessiert mich nicht so. Mich interessieren mehr die Jahre hier in Karlsruhe, denn meine Verlobte hat in einem travel guide, wie sagt man, Reiseführer über Karlsruhe gelesen und es hat ihr gefallen. Wir wollen auch einmal hierherreisen zum Besuchen. Karlsruhe war auch die letzte Adresse von meinem Vorfahren. Er hatte seinen Mitgliedsausweis der Sozialdemokratischen Partei immer dabei. Mit den vielen funny little stamps, den Marken, als Beweis, dass er den Beitrag bezahlt hat. Aber Woodmans zahlen immer.“

Das konnte ich nur hoffen.

Ich erinnerte mich an diese kleinen gezackten „Märkchen“ in Beitragsheftchen. Oder beim Einkaufen. Die gab es früher für alles Mögliche. Herrlich nostalgisch.

„Das Papier stammt aus dem Jahr 1932. Hier ist er.“

Er öffnete seine Brieftasche und holte einen Parteiausweis heraus. Ich kannte diese Ausweise, hatte sie oft gesehen. Vorsichtig wendete ich ihn in der Hand. Dicht beschriftet, voller rotweißer eingeklebter Marken, kein Foto. Die Daten: „Wilhelm Holzmann. Glsarb. Leopoldstraße 7b.“ Ich schaute genauer. Holzmann war seit 1931 Genosse gewesen. Mit 21 Jahren war er also eingetreten. Das roch nach Überzeugungstäter.

„Das war ihm sehr wichtig. Er hat ihn mir oft gezeigt, when I was a small boy. Er war zwar jetzt wohlhabend, aber man legt eine solche Gesinnung ja nicht einfach so ab. Den deutschen Reisepass hatte er nicht dabei. Ich habe ihn nie danach gefragt, um ihn nicht traurig zu machen. Wahrscheinlich, so sagte man mir, ist er bei der Einreise eingezogen worden. Oder gestohlen.“

Ich nickte. Das stimmte. Ein Reisepass war überlebensnotwendig gewesen. Und begehrt.

So weit, so gut. Ich wartete weiter ab. Das kann man von Katzen lernen. Ich lerne täglich von meinen beiden Katzen. Erst mal genau hingucken und abwarten. Es war gut, dass ich jetzt diesen Raum hier hatte, ein wenig abseits von meinem Wohnzimmer. Man benimmt sich professioneller, wenn man nicht im Wohnzimmer sitzt, wo man sich abends auch die Fußnägel schneidet.

David warf einen liebevollen Blick auf den Ausweis mit der Aufschrift „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“.

„Mein Schwiegervater ist, wie gesagt, Historiker, schreibt für eine Zeitschrift und wird zufällig bald auch nach Karlsruhe kommen, wenn er mit seinem Shakespeare-Vortrag fertig ist. Deshalb passt das gut. Wenn Sie Hilfe brauchen oder Informationen. Er ist leider verwitwet. Seine Frau war eine Barden. Von den Devon Bardens. Landadel. Ich selbst kann nicht bleiben. Ab morgen bin ich in Malaysia. Business. Ich reise dann von Asien wieder nach England zu einem sehr wichtigen Meeting. Danach muss ich wieder nach Asien. Shanghai.“

Aha. Soweit die Duftmarken, die er setzte. Vielbeschäftigt. Weltweit aktiv. Verbindungen nach richtig weit oben. Dennoch wollte ich ihn als Kunden bei Laune halten.

„Eine schöne Idee jedenfalls. Und Ihr künftiger Herr Schwiegervater möchte die Recherchen nicht selbst machen? Wenn er doch praktisch aus der Branche kommt?“

David sah mich an, als sei ich verrückt geworden.

„Er ist Professor. In Oxford. Dafür reicht seine Zeit nicht. Das hier ist ja eine private Angelegenheit und wie gesagt, es soll ein Geschenk werden, in das ich sozusagen investiere und nicht Leonies Vater. Sie können aber mit ihm rechnen. Als Hilfe. Er spricht ganz wunderbares Deutsch. Er hat in Hamburg studiert.“

„Das ist ungewöhnlich, aber danke. Sie sprechen auch sehr gut Deutsch.“

„Ja. Darauf hat man Wert gelegt. Wir wollen unsere Hochzeitsreise übrigens in die Schweiz machen und dabei Station in Karlsruhe machen. Leonie liebt Schlösser. Gibt es in Karlsruhe zufällig ein Schloss?“

Ich musste ein geschäftsschädigendes Lachen unterdrücken. Offenbar hatte nur seine Verlobte den Reiseführer genauer studiert. Ich nickte.

Doch spürte ich, dass da noch etwas kam. „Na, ich kann es Ihnen ja ebenso gut sagen.“ Jetzt zog Stolz wie eine Wolke über sein Gesicht und verschwand danach wieder. „Wir müssen sehr diskret sein. Leonie ist an der Schule, an der die Kinder sind. Sicherheitsrisiko.“

„Welche Kinder denn?“ Er räusperte sich. „Ich sage nicht mehr. Die Kinder!“ Vielsagender Blick. Ich sah ihn ratlos an. Dann schwante mir etwas. Die Kinder! George, Charlotte und Louis! Die Kinder von William und Kate. Blond und perfekte Engländer. Aber übrigens auch mit deutschen Wurzeln.

Dann holte er einen Zettel heraus. „Sie sind Ahnenforscherin. Also. Die letzte Adresse meines Uropas war, so wie es hier im Parteibuch steht ...“ Ansonsten fast perfekt Deutsch sprechend, kam das jetzt etwas unbeholfen heraus und noch einmal fiel der Name der Straße, die mich nun begleiten würde. „Leopoldstraße Nummer 7.“

Am Leopoldplatz hatte sein Opa also gewohnt. Eine Gegend, in die ich nicht oft komme. „Das war die letzte Adresse, die in diesem sozialdemokratischen Ausweis stand. Gut, dass wir den haben. Ich überlasse ihn Ihnen. Hier, aber passen Sie gut auf ihn auf. Er ist ein Zeugnis von stolzen Zeiten.“ Ich nahm das dünne, speckige Läppchen, das er mir bereits gezeigt hatte. Ich hatte diese Ausweise schon oft in der Hand gehabt. Sie haben etwas Rührendes. Die gute, alte und stolze Sozialdemokratie. Ich hätte allerdings wetten können, dass Mr. Woodman ansonsten für die Sozis nicht allzu viel übrighatte. „Wie und in welchem, wie sagt man, Umfeld hat er gelebt, wie war das Haus und die anderen Mieter und wann ist er genau ausgewandert? Wie knapp ist er seinen nationalsozialistischen Verfolgern entkommen? Wir haben ihn immer bewundert. Es ist spannend, nicht wahr?“

Gut, Mr. Woodman, das hätten wir jetzt aber. Ein einfacher Auftrag. Das musste mit etwas Geschick in wenigen Tagen herauszufinden sein. Karlsruhe hat schließlich ein Stadtarchiv und dort würde man mir helfen können. Und den Rest würde ich farbenfroh ausschmücken.

„Haben Sie ein Foto von Ihrem Großvater?“

Er nickte. „Ich dachte, es interessiert Sie am meisten, wie er aussah, als er hier in Deutschland lebte. Vielleicht können Sie es auch herumzeigen, ob sich jemand erinnert. Obwohl, die Leute sind ja bestimmt alle tot, die ihn vielleicht gekannt haben. Wir haben hier ein Jugendfoto von ihm unter seinen Sachen gefunden, als er gestorben war. Das muss etwa aus der Zeit sein. Er hatte es ...“, jetzt lächelte er etwas gerührt, „in einer box, einer Schachtel, versteckt. Zusammen mit einem roten Halstuch und einer Anstecknadel und einem Songbook mit Liedern, die ... wie sagt man ... Protestlieder waren. Ich denke, er wollte ein winziges Stück Heimat retten. Das war etwas in seiner Seele, das nur ihm gehörte. Aber er wollte, dass wir ihn so in Erinnerung behalten, wie er am Ende war. Er hat“, wieder ein Lächeln, „natürlich ein wenig zugenommen und sah später aus wie ein echter Landedelmann. Ein englischer Mann. Nur den Bart, wie sagt man, Schnauzerbart hat er behalten.“

„Haben Sie das Foto für mich?“ „Ja, natürlich.“ Er holte einen Briefumschlag heraus und legte mir eines dieser uralten Fotos aus den 1930er-Jahren vor. Es war ein Schwarz-Weiß-Foto, verblichen über die Jahre. Offenes Hemd. Am Revers seiner einfachen Anzugjacke befand sich eine Anstecknadel mit dem früheren SPD-Symbol. Ich versuchte das Gesicht zu studieren, mit dem ich mich nun einige Zeit beschäftigen würde. Ein ansehnlicher, sympathisch wirkender Mann. Offener Blick. Sportlich. Dunkelblond. Ganz kleines Schnauzbärtchen. Ein Durchschnittstyp jener Jahre. Er würde sich in England gut integriert haben. Sein Enkel glich ihm durchaus ein wenig. „Das reicht Ihnen ja, es ist aus der Zeit in Karlsruhe. In den ersten Jahren in England hatte er wahrhaftig anderes zu tun, als sich fotografieren zu lassen. Später gibt es Fotos, aber die sind ja für unser Projekt uninteressant. Wenn Sie aber wollen ...“ „Nein, nein. Erstmal nicht nötig.“ Ich blickte nochmal auf das Foto. „Flott, das kleine Bärtchen.“ David schmunzelte. Er taute langsam etwas auf. „Das hatte er aus Deutschland mitgebracht. Ein revolutionäres Zeichen. Er hat es sein Leben lang behalten. Ich glaube, es war der letzte Rest Heimat für ihn.“

„Wir sprechen also vom Jahr 1933“, sagte ich langsam. „Ich bin zwar keine Spezialistin für diese Zeit, aber ihr Großvater hat auf jeden Fall gut daran getan, rechtzeitig zu flüchten. Die SPD wurde sehr bald verboten und ihre noch aktiven Mitglieder verfolgt und inhaftiert, soweit ich weiß.“ „Sie haben also Erfahrung?“, fragte David und sah mich misstrauisch an. Das Gesetz des Marktes schlug zu. Erst hatte er mich in meiner Ruhe gestört; jetzt wollte ich den Auftrag unbedingt haben. Er würde bestimmt großzügig sein. Es ging ihm nämlich um etwas Emotionales. „Ich habe einen Familienstammbaum erstellt, für Nachkommen eines Journalisten, der in Mannheim eine illegale Zeitung herausbringen wollte ...“ Ich hörte auf, als ich mich genauer an den Fall erinnerte und dachte, dass es taktlos war, darüber zu sprechen. David wurde aufmerksam. „Was war mit ihm? What happened?“ Ich schwieg. Dann sah ich ihm gerade in die Augen. „Er wurde in Kislau interniert. Einem frühen Konzentrationslager hier in der Nähe. Sie haben ihn nicht direkt ermordet. Er ist später an Lungenentzündung gestorben. Sie haben ihn dort in Eisbäder getaucht.“

David schluckte, als die Vorstellung von Eisbädern in seine Wahrnehmung drang. Und was das alles für ihn bedeutete: Er würde nicht existieren, es gäbe ihn nicht, wäre sein Großvater nicht geflohen, sondern geblieben und vielleicht ermordet worden. Ich sah erwachende Panik in seinen Augen.

„Herr Woodman, ich werde versuchen, Ihnen eine Dokumentation zu erstellen, wie ihr Opa hier gelebt hat und wie die Zeiten waren, als er geflohen ist. Und Sie sind sicher, dass Sie nichts über seine Wurzeln im Schwarzwald wissen wollen? Vielleicht haben Sie dort noch Verwandte.“

Er fasste sich wieder und wehrte ab. „Nein, nein. Diese Leute, mit denen habe ich, glaube ich, nichts gemeinsam. Mein Schwiegervater verkehrt ...“

„Wo?“

Er verdrehte nur die Augen gen Himmel. Ich seufzte. „Ach da. Okay, aber eines können Sie Ihrer Verlobten jetzt schon sagen ...“

„Ja?“

„Sie können stolz sein auf ihren Opa. Es ist niemals leicht, sein Land unfreiwillig zu verlassen, sich über eine fremde Grenze abzusetzen und alles zurückzulassen.“

Er nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Doch dann kam doch noch etwas. „Wenn Sie Fragen haben ... ich selbst fliege heute Abend über London nach Malaysia. Office duties. Aber mein Schwiegervater Jonathan Savington wird ja hierherkommen und wird sich zwei Wochen hier ... also, er wird hier im Hotel wohnen. Er möchte auch nach Baden-Baden und nach Basel reisen.“

„Das wird ihm bestimmt gefallen“, sagte ich, froh, das düstere Thema für einen Moment zur Seite schieben zu können. „Wir leben in einer schönen Gegend.“

„Sie können mit ihm sprechen, wenn es etwas gibt. Ich schreibe seine Mobilnummer dazu.“

Ich griff in die oberste Schublade und holte einen Vertrag heraus. Er war noch ganz altmodisch, einfach aus Papier. Manche meiner Kollegen legen cool ein Tablet vor sich und tragen die Daten ein und der Kunde unterschreibt mit einem Spezialstift. Das sieht moderner aus und macht mehr Eindruck als mein Papier.

„Dann müssten wir einen Vertrag schließen. Die Stunde kostet bei mir, inklusive der Kosten für Kopien aus dem Archiv und eventuell Fremdakten aus anderen Beständen ...“ Ich zögerte. Normalerweise hatte ich eine Beißhemmung, wenn es um meinen Stundenlohn ging. Doch hier war sichtlich Geld vorhanden. Altes, gutes Geld. Und man heiratet ja im Idealfall nur einmal in die ersten Kreise. Das musste David schon etwas wert sein. „40 Euro“, sagte ich. Er zuckte nicht mit der Wimper, gab mir E-Mail-Adresse, Telefonnummer, Handynummer und Anschrift. Sofort ärgerte ich mich. Ich hätte mehr verlangen sollen.

Er unterschrieb für 30 Stunden. Gut so.

Die würden auf alle Fälle reichen für diesen kleinen und sehr einfachen Auftrag. Dachte ich!

1. Juli 2024, abends

Hallo Tagebuch,

die Katzen schlafen selig und Goodboy beobachtet sie dabei. Katzen schlafen immer, egal was ihr sogenannter Besitzer macht. Hunde wachen, bis der Halter auch schläft. Das ist der Unterschied. Meine Stimmung ist nicht viel besser geworden durch den Auftrag heute. Denn es naht der badische Sommer in Karlsruhe. Urlaubssaison. Wenn schon nicht Urlaub, dann Freibad. Und ich werde den Sommer verstreichen lassen und im Archiv sitzen müssen. Es ist seltsam mit der Arbeitsfreude bei Selbstständigen. Ohne Auftrag ist dir langweilig und du hast Existenzängste. Mit Auftrag ist man schnell genervt und sieht einen Berg von Arbeit vor sich, der jenen Bergen gleicht, die man im Leben bereits abgearbeitet hat. Der schnieke Engländer will herausfinden, wie seine Leute hier gelebt haben. Will er es wirklich wissen oder nur ein romantisches Bild gezeichnet bekommen? Vom Alltag in einem Haus während der letzten Jahre der Weimarer Republik, wo ein gutaussehender, stolzer, sichtlich blonder Vorfahr aufrecht geblieben ist gegenüber der Versuchung der Nazis. Wie so oft sieht die Realität dann ganz anders aus. Schäbiger. Gewaltsamer. Da ist einer verprügelt worden. Hat sich vor Angst in die Hose gemacht. Das Blut strömte aus der Nase und dann ist er einfach um sein Leben gerannt. Vielleicht hat mein Beruf mich irgendwie verbissen gemacht und mir Illusionen geraubt. Aber bitte: Ich habe drei Tiere, die Zoohandlung will auch leben, und ich werde eben arbeiten und dem feinen Englishman liefern, was er sehen möchte. Okay, Tagebuch?

Dienstag, 2. Juli 2024

Ich stand auf und versorgte meinen Zoo, ging mit dem Hund spazieren, traf dabei die üblichen Gassi-Geher. Goodboy ist praktisch mit keinem einzigen Hund in Karlsruhe verträglich, was mich in etwa zur einsamsten Hundebesitzerin der Stadt macht. Er ist nur so groß wie eine ausgewachsene Ratte und hat doch die Stimmlage und das Aggressionspotential eines Pitbulls. Ich kehrte – wie immer – enttäuscht nach Hause zurück. Angeblich lernt der Single ja den neuen Partner beim Hundespaziergang kennen. Das wird wohl nichts bei mir. Ein klösterliches Leben wartete auf mich. Das ließ mir Zeit, mich mit David Woodman zu beschäftigen. Ich legte den etwas seltsamen Auftrag in einen eigens dafür eingerichteten Korb, um ihn irgendwann in einen Ordner abzuheften, wo ich später auch die Ergebnisse meiner Arbeit einsortieren würde. Warum ich ihn nicht gleich in diesen Ordner legte, würde ich niemals ergründen. Der Ordner war da, der Hefter war da. Warum schiebt man manche Aufgaben immer auf, wenn man durch Lebenserfahrung haargenau weiß, dass man es irgendwann sowieso machen muss?

Ich ging zu meinem Bücherschrank und baute mich vor der Abteilung „Karlsruhe-Historisch“ auf. Hier hatte sich über die Jahre einiges angesammelt. Da gab es Bücher über die 50er- und 60er-Jahre in der Fächerstadt. Da gab es Bücher über den Friedhof und die Kaiserstraße „Heute und Gestern“, über das Schloss, über die jüdische Gemeinde, über den Hof und über badische Fotografie zu früheren Zeiten. Jahrhundertwende, davor und danach. „Licht ab“ hieß das Werk und ernste Gesichter über Stehkragen blickten mich vom Cover an. Nachdenklich blätterte ich das Buch durch. Nicht nur alte Männer in steifen Hemdkragen, auch Frauen in langen dunklen Kleidern, die man geradezu rascheln hörte, bei jeder Bewegung. Ich würde ein paar Fotos in meinen Bericht für den heiratswilligen Landedelmann einfügen. Dann konnte er sich die Welt seiner Vorfahren besser vorstellen. Ganz unten in meinem Regal lag ein au