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Liane Reinold ist eine hübsche junge Frau, die bereits früh ihre Eltern verlor. Sie wuchs zunächst bei einer Tante ihrer Mutter in der Schweiz auf. Nun lebt sie in Deutschland bei Graf Joachim Rastenau, einem Freund ihres Vaters, der sich liebevoll um die Waise kümmert. Voll Dankbarkeit erwidert Liane die Zuneigung, doch die Gefühle für ihren Vormund werden missverstanden und Lianes Schicksal wird erneut auf eine schwere Probe gestellt...-
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Seitenzahl: 403
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Hedwig Courths-Mahler
Saga
Liane Reinold
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1919, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726950434
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Liane Reinold umarmte den Eintretenden stürmisch und sah ihn mit töchterlicher Zärtlichkeit an.
»Onkel Joachim – lieber Onkel Joachim. Endlich kommst du wieder einmal nach Hause zu deiner Liane! Wie lange bist du diesmal wieder fortgeblieben!«
Onkel Joachim sah zärtlich auf sie herab und nahm sie in seine Arme.
»Meine kleine Liane, so groß war deine Sehnsucht nach mir?«
Frau Doktor Bartels hatte dieser Begrüßung mit einem seltsam hämischen Lächeln zugesehen und ging nun aus dem Zimmer.
Liane sah mit feuchten Augen zu dem Onkel auf.
»Diesmal ist mir die Trennung von dir noch schwerer gewesen als sonst. Wie froh bin ich, daß ich dich wiederhabe. Du bist mir doch der liebste Mensch – der einzige, der zu mir gehört und der mich liebhat. Du bist mir teurer als ein Vater. Ich hätte meinen richtigen Vater nicht mehr lieben können als dich, wenn ich ihn gekannt hätte und er noch am Leben wäre.«
Eine tiefe Bewegung überflog das edelgebildete Gesicht des etwa fünfzigjährigen Herrn. Er machte einen aristokratischen Eindruck. Seine Gestalt war noch jugendlich schlank, das volle dunkle Haar nur an den Schläfen leicht angegraut. Ein glattrasiertes Gesicht und lebhaft strahlende Augen ließen ihn jünger erscheinen, zumal seine Bewegungen rasch und elastisch waren.
»Wie schön, Liane, daß du mich wie einen Vater liebst. Laß mich immer in deinem Herzen diese Stelle einnehmen. Ich liebe dich auch, wie nur ein Vater sein Kind lieben kann.«
Liane führte ihn in reizendem Eifer zu einem Lehnstuhl am Fenster. Er mußte sich niederlassen, sie setzte sich auf die Armlehne und umfaßte seine Schulter.
»Wie lange bleibst du diesmal zu Haus, Onkel Joachim? Wieder nur wenige Tage?«
Es zuckte in seinen Augen ein unsicherer Schein.
»Zehn Tage kann ich bleiben, Kind, dann rufen mich meine Geschäfte wieder fort.«
»Ach, die dummen Geschäfte! Zehn Tage nur? Die werden schnell vergehen. Und dann bin ich wieder lange allein. Ein volles Vierteljahr warst du diesmal fort, seit Anfang Februar. Ich muß deinen Geschäften böse sein, weil sie dich mir so sehr viel entziehen.«
Er drückte ihre schlanken schönen Hände an seine Wangen und schloß die Augen, als müsse er die lieben Worte der weichen jungen Stimme in sich hineintrinken und sie in sich ausklingen lassen.
Dann richtete er sich auf und zwang sich zu einem leichten, lachenden Ton.
»Schimpf nicht auf die Geschäfte, Kind! War es denn so schlimm allein? Hat dich Frau Doktor Bartels nicht gut unterhalten, so daß dich die Langeweile plagte?«
Liane sah vor sich hin und seufzte leise.
»Langeweile kenne ich nicht, Onkel Joachim, obwohl mir ein richtiger Lebenszweck fehlt. Ich schaffe mir aber schon Arbeit. Zu meinem Vergnügen übersetze ich meine Lieblingsbücher in fremde Sprachen, die mir geläufig sind. Weißt du, wenn ich erst mehr Übung habe, möchte ich mich ganz ernsthaft mit Übersetzungen befassen, das macht mir Freude. Dann habe ich doch auch Theater und Konzerte, Spaziergänge – und mich selbst. Ja, ich bin mir gar nicht die uninteressanteste Gesellschaft und kann mir viel Unterhaltendes erzählen. Lieber bin ich mit mir allein, das will ich dir offen sagen, als mit Frau Doktor zusammen. Ich muß dir einmal gestehen, daß sie mir mit jedem Tag unausstehlicher wird.«
Die letzten Worte stieß sie mit großer Heftigkeit hervor.
Betroffen sah er zu ihr auf. »Du magst sie nicht? Ist sie nicht nett und freundlich zu dir?«
Liane zog die Schultern wie im Frost zusammen und strich sich über die Stirn.
»Ich habe mich zwingen wollen, Sympathie für sie zu empfinden und wollte dir keine Sorgen machen, aber ich habe sie von Anfang an nicht leiden mögen. Sie war gewiß freundlich, zu freundlich im Anfang. Aber diese Freundlichkeit schien mir nicht echt, und ihre aufdringlich vertrauliche Art widerstrebt mir. Seit deinem letzten Hiersein aber hat sie mir gegenüber ein sehr sonderbares Wesen zur Schau getragen. In ihrem Wesen liegt jetzt immer etwas, das mich quält und beunruhigt. Sie führt oft so seltsame Reden, macht häßliche frivole Scherze, die ich nur halb verstehe, und wenn ich sie bitte, das zu unterlassen, dann sagt sie, ich soll mich nicht so prüde aufspielen, das glaube mir doch kein Mensch. Ich kann ihre Art nicht anders bezeichnen als dreist vertraulich. Jedenfalls verletzt sie mich damit, und ich habe das peinliche Gefühl, daß mich der Umgang mit dieser Frau vor mir selbst erniedrigt, ohne daß ich recht weiß, warum.«
Erregt und besorgt sah er in ihr schönes, liebes Gesicht.
»Du erschreckst mich, Kind!«
Sie streichelte seine Hand.
»Das habe ich gewußt, deshalb habe ich dir auch bisher verschwiegen, was mich quälte.«
Er zog seine Stirn wie im Schmerz zusammen. Eine kleine dreieckige Falte erschien zwischen den Augen.
»Ich kenne ja freilich Frau Doktor nicht sehr genau. Sie wurde mir aber empfohlen als tüchtige Hausdame, und ich glaubte, du fühltest dich unter ihrem Schutz wohl. Nie habe ich dir dieses Unbehagen angemerkt.«
Sie schmiegte ihre Wange an die seine.
»Wenn du da bist, Onkel Joachim, dann vergesse ich es. Und wie gesagt, sie ist erst seit deinem letzten Hiersein so unangenehm verändert.«
»Du hättest mir das alles schreiben können.«
»Das wollte ich nicht, es hätte dich nur beunruhigt, ohne daß du mir hättest helfen können. Und außerdem – Frau Doktor kontrolliert meine Briefe. Ich bin neulich dazugekommen, wie sie ein Schreiben von mir an dich, das auf meinem Schreibtisch lag, halb geöffnet hatte. Sie glaubte, ich sei ausgegangen und erschrak, als ich plötzlich neben ihr stand und ihr den Brief entrüstet aus den Händen nahm. Als ich ihr zornig sagte, daß ich mir das verbitte, lachte sie nur höhnisch und meinte nur unverschämt: ›Als Ihre Beschützerin muß ich doch kontrollieren, an wen Sie Liebesbriefe schreiben!‹«
»Unglaublich!« stieß Graf Joachim Rastenau hervor.
»Es war natürlich eine Ausrede, Onkel Joachim, denn der Brief trug deine, ihr wohlbekannte Adresse. Wie gewöhnlich sollte er an deinen Berliner Bankier gehen, der dir die Briefe nachschickt, weil er immer weiß, wo du dich gerade befindest auf deinen Reisen. Also jedenfalls hatte sie kein Recht, anzunehmen, daß es ein Liebesbrief sei. An wen soll ich auch so etwas schreiben? Sie weiß doch, daß ich keinen jungen Herrn kenne. Und seit dieser Zeit ist sie mir direkt verächtlich geworden. Ich mag sie nicht mehr um mich haben. Und sie merkt das und schlägt zuweilen einen gehässigen, drohenden Ton an, der mir allerdings noch lieber ist als ihre frivolen Vertraulichkeiten.«
Graf Rastenau sprang auf und ging einige Male erregt im Zimmer auf und ab.
Sie sah ihm unruhig nach.
»Hätte ich es dir nicht sagen sollen, Onkel Joachim?«
Er trat zu ihr und streichelte weich über ihr goldig schimmerndes Haar.
»Daß du nicht Vater und Mutter hast, mein armes Kind!« brach es in schmerzlicher Erregung über seine Lippen und seine Augen sahen gramvoll auf sie nieder.
Sie schmiegte sich an ihn.
»Ich hab’ ja dich, Onkel Joachim.«
»Aber ich muß dich so viel allein lassen – kann meine Hände nicht immer über dich halten, wie ich möchte. Deshalb ließ ich dich so lange in der Pension. Dort wußte ich dich gut aufgehoben inmitten fröhlicher Gefährtinnen.«
Liane lächelte.
»Einmal mußte ich aber doch das Pensionat verlassen, Onkel Joachim. Ich war doch beinahe zwanzig Jahre alt, als ich es vor Jahresfrist verließ und endlich zu dir kommen durfte.«
Er drückte ihr Köpfchen an sich.
»Mein Liebling! Leider hast du auch jetzt nicht viel von mir. Und was du mir über Frau Doktor sagst, beunruhigt mich sehr.«
»Das wußte ich, deshalb schwieg ich so lange. Du bist ja besorgt um mich wie ein Vater. Am liebsten hätte ich dir gar nichts gesagt, aber heute drängte es mich fast gegen meinen Willen dazu.«
»Gottlob! Diese Frau scheint mir nicht einwandfrei als Beschützerin einer jungen Dame, mag sie auch als Hausdame, wie mir gerühmt wurde, Tüchtiges leisten. Was du mir gesagt hast, bestimmt mich, sie zu entlassen. Wir werden einen besseren Ersatz für sie finden. Und sofort will ich Schritte tun, eine andere Dame zu engagieren und diesmal vorsichtiger sein.«
Mit großer Innigkeit umfaßte sie ihn.
»Ach, nun ist mir ein Stein vom Herzen, das kannst du mir glauben.«
Er küßte sie zärtlich.
So standen sie innig umschlungen, als sich leise die Tür öffnete und Frau Doktor Bartels eintrat. Sie war eine große, stattliche Dame mit auffallend schleichenden Bewegungen und kalten, etwas vorstehenden Augen, in denen es zuweilen, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, falsch und hinterlistig aufzuckte. Um ihren Mund mit den vollen, dicken Lippen lag ein Ausdruck, der verriet, daß sie niedriger Empfindungen fähig war. Das alles verbarg sie aber meist unter einer öligen Würde, die auf Menschen, die sie nicht näher kannten, echt wirkte. Sie wurde bei ihrem Eintritt nicht gleich bemerkt und sah wieder mit einem häßlichen Lächeln auf die beiden Menschen. Dann räusperte sie sich vernehmlich.
Liane für erschrocken aus Onkel Joachims Armen auf, weil sie ihren Eintritt nicht bemerkt hatte und sich mit ihm allein glaubte. Dies Erschrecken deutete sich Frau Doktor Bartels auf ihre Art.
»Verzeihung, wenn ich störe«, sagte sie mit ihrer ölig würdevollen Art, »ich wollte nur fragen, ob ich das Mittagessen anrichten lassen darf.«
Graf Rastenau wandte sich nach ihr um, und heute fiel es ihm auf, daß in ihrem Gesicht etwas Lauerndes lag.
»Bitte, lassen Sie anrichten«, sagte er mit der ruhigen Vornehmheit seines Wesens.
Liane sah mit einem unbehaglichen Gefühl, daß Frau Doktor ihr hinter dem Rücken Onkel Joachims einen höhnisch verächtlichen Blick zuwarf.
»Nun, Fräulein Liane, jetzt sind Sie wohl wieder besserer Laune, da der Herr Onkel wieder heimgekehrt ist?« fragte sie mit einem seltsamen Ausdruck. Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich dem Grafen zu und fuhr fort: »Fräulein Liane hat Sie sehnsuchtsvoll erwartet, Herr Graf. Es ist rührend, wie sie an Ihnen hängt.«
Graf Rastenau war gegen diese Frau mißtrauisch geworden und sah sie durchdringend an. Anfangs war sie ihm gegenüber äußerst liebenswürdig, beinah etwas aufdringlich gewesen. Es hatte ihm fast den Eindruck gemacht, als sei sie nicht abgeneigt, sich um ihn zu bemühen. Und das war wirklich so gewesen. Für unmöglich hatte sie es nicht gehalten, den fünfzigjährigen Junggesellen zum heiligen Ehestand zu bekehren. Vermögend schien er auch zu sein, oder seine Geschäfte, die ihn so viel vom Hause wegführten, brachten ihm viel ein. Jedenfalls hielt es Frau Doktor Bartels für lohnend, sich um seine Gunst zu bewerben. Aber dann mochte sie wohl plötzlich eingesehen haben, daß ihre Bemühungen vergeblich waren. Während seiner letzten Anwesenheit im Februar hatte sie mit einem Mal ihr Benehmen ihm gegenüber geändert. Die neckische Liebenswürdigkeit, mit der sie sich jugendlich aufspielte, wich der öligen Würde und einer kühlen Zurückhaltung. Und genau von demselben Zeitpunkt an legte sie Liane gegenüber ein feindliches Wesen an den Tag.
»Das weiß ich, Frau Doktor, und es beruht auf Gegenseitigkeit. Also bitte, lassen Sie anrichten«, sagte der Graf reserviert.
»Gewiß, ich bitte um Entschuldigung, wenn ich gestört haben sollte«, erwiderte sie mokant.
»Sie haben nicht gestört«, antwortete er.
Liane wandte sich, gequält von dem lauernden Blick dieser Frau, ab, dem Fenster zu. Frau Doktor verließ mit ihren schleichenden Bewegungen, die so sehr im Widerspruch standen zu ihrer großen, kräftigen Gestalt, das Zimmer.
Graf Rastenau wandte sich seiner Pflegetochter Liane wieder zu. Er war nicht ihr Onkel, sondern wurde nur von Kind auf so von ihr genannt.
»Diese Frau Doktor ist wirklich sehr unangenehm. So lange ich glaubte, sie sei dir ein Schutz und Hort, habe ich mich bemüht, sie sympathisch zu finden. Heute mißlang mir das vollständig. Aber nun sei nicht mehr verstimmt, Liane. Es war ein Mißgriff von mir, sie zu engagieren. Sie wird entlassen und du bekommst eine andere Ehrendame. Die Stimmung wollen wir uns dadurch nicht trüben lassen, sondern die wenigen Tage, die ich bei dir sein kann, recht von Herzen genießen.«
Liane schob mit aufleuchtenden Augen und im kindlichen Vertrauen ihre Hand unter seinen Arm.
»Ja, das wollen wir, Onkel Joachim. Verzeih, wenn ich mich ein wenig verstimmen ließ. Es war töricht von mir. Keine Minute deiner Anwesenheit will ich mir verderben lassen.«
Sie ließen sich plaudernd an einem kleinen Tischchen in dem um eine Stufe erhöhten Erkerausbau nieder. Das Zimmer, in dem sie sich befanden, war das Wohnzimmer und, wie die ganze Wohnung, mit behaglicher Eleganz ausgestattet.
Diese Wohnung befand sich in einem westlichen Vorort Berlins in einem herrschaftlichen, mit allem Komfort ausgestatteten Mietshaus. Sie bestand aus sechs Zimmern mit Zubehör. Von diesen Zimmern hatte Graf Joachim Rastenau das kleinste für sich als Schlafzimmer reserviert, weil er, wie er meinte, doch nur wenig zu Hause war. Ein zweites Zimmer war für Frau Doktor Bartels bestimmt. Dann folgte ein Speisezimmer, ein hübscher kleiner Salon und das Wohnzimmer. Neben diesem befand sich Lianes Schlaf- und Ankleidezimmer, ganz in Weiß und Hellblau gehalten, voll Duft und Helligkeit. Es war der rechte Rahmen für ihre blonde, lichte Schönheit und entschieden von allen Räumen am kostbarsten ausgestattet.
Als Liane vor Jahresfrist aus der Pension kam und von Onkel Joachim in diese Räume geführt wurde, hatte sie sich entzückt umgesehen und sich nur darüber beschwert, daß er selbst in dem kleinsten Raum untergebracht war.
»Das solltest du nicht, Onkel Joachim, für mich hätte doch auch dies kleine Zimmerchen genügt.«
Aber er hatte lächelnd den Kopf geschüttelt.
»Du weißt doch, Kind, daß ich die meiste Zeit auf Reisen und immer nur wenige Tage zu Hause bin. Da genügt mir dieses kleine Zimmer. Die Wohnung ist in der Hauptsache dein Reich, und es soll mich freuen, wenn sie dir gefällt.«
So war es geblieben, wie er es bestimmt hatte.
Welcher Art die Geschäfte waren, die Onkel Joachim fast immer von ihr entfernt hielten, ahnte Liane nicht. Wenn sie einmal darauf zu sprechen kommen wollte, wußte er geschickt auszuweichen.
Er hatte ihr erzählt, ihr Vater sei einst sein Regimentskamerad und bester Freund gewesen. Sie hatte ihren Vater nie gekannt, auch ihre Mutter nicht. Diese war bald nach dem Vater gestorben, als Liane kaum ein Jahr zählte. Sie hatte nichts von Schmerzen gefühlt, als ihre Eltern starben, weil sie noch zu jung gewesen war.
Aber Onkel Joachim gab es immer in ihrem Leben wie einen treuen Schutzgeist.
Er hatte ihr erzählt, daß er sie vom Totenbett der Mutter auf seinen Armen fortgetragen und sie, als die Mutter beerdigt war, selbst nach der Schweiz zu einer Tante ihrer Mutter, einer Schweizerin, gebracht hatte.
Und bei Tante Lott war sie in einem freundlichen Haus in einem kleinen Städtchen geblieben, bis zu ihrem zwölften Jahr. Da war Tante Lott gestorben.
Ihre ersten Erinnerungen zeigten Liane immer dies freundliche Häuschen, das alte liebe Faltengesicht Tante Lotts, und eine elegante, vornehme Erscheinung – Onkel Joachim.
Er war jedes Jahr einige Male zu Besuch gekommen in Tante Lotts kleines Haus, das in der gigantischen Alpenwelt noch viel kleiner erschien. Und immer waren es für Liane köstliche Festtage gewesen, wenn er kam.
Er hatte sie dann kaum von seiner Seite gelassen, sich von ihr alles aus ihrem friedlichen Kinderleben erzählen lassen, und seine Augen hatten voll Liebe und Güte in die ihren geleuchtet. Er schenkte ihr herrliche Spielsachen und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Dann hatte wohl Tante Lott ein wenig gescholten.
»Sie verwöhnen das Kind, lieber Graf, es sehnt sich die ganze Zeit nach Ihnen und zählt die Tage, bis Sie wiederkommen«, hatte sie einmal gesagt.
Worauf Onkel Joachim erwiderte:
»Diese Gewißheit ist ja mein einziger Trost, Tante Lott, da ich Liane nicht bei mir haben darf.«
»Warum nimmst du mich nicht mit dir, Onkel Joachim?« hatte Liane gefragt.
Da hatte er sie traurig angesehen.
»Weil ich keine Heimat für dich habe, mein kleiner Liebling.«
»Ei, willst du deine alte Tante Lott allein lassen, Liane? Ich hab’ doch gemeint, du hast mich auch ein wenig lieb. Nun will das Mädli nichts von ihrer Tante Lott wissen«, hatte die alte Dame scheinbar gekränkt gescholten.
Liane hatte sie umarmt.
»Doch, Tante Lott, ich hab’ dich auch lieb. Und Onkel Joachim müßte uns beide mit sich nehmen.«
»Ach, du dummes kleines Mädli, der Onkel Joachim reist immer in der Welt herum, mal hier, mal da. Was soll er da wohl mit uns zwei Frauensleut’ anfangen.«
Nach diesen Worten hatte Onkel Joachim Tante Lotts Hand gedrückt.
»Gute Tante Lott – Dank für die Hilfe«, hatte er gesagt.
Liane konnte das nicht recht verstehen, aber so viel wußte sie nun doch, daß es ein Zusammenleben mit dem zärtlich geliebten Onkel Joachim nicht geben würde.
Und sie hatte sich darein gefügt und sich von einem Mal auf das andere gefreut, bis er wieder zu Besuch kam. Genau so freute sie sich heute noch, wenn er heim kam.
Als sie zwölf Jahre alt war, starb Tante Lott. Und in ihrer letzten klaren Stunde setzte sie eine Depesche auf an Graf Rastenau, die ihn an ihr Sterbebett rief. Und dann schenkte sie Liane ein Elfenbeinmedaillon mit einer geschnitzten Rose darauf. In diesem Medaillon war ein Bildchen – ein schöner, junger Frauenkopf.
»Das ist deine Mutter, Liane. Sie hat mir Bild und Medaillon geschenkt, als sie mich verließ und nach Deutschland ging, als Gesellschafterin einer jungen deutschen Aristokratin. Dort hat sie deinen Vater kennengelernt, der Offizier war. Halt das Bild in Ehren – und werde so ein liebes gutes Menschenkind wie es dein Mütterlein war, du gleichst ihr sehr.«
Und sie starb, ehe Graf Rastenau eintraf.
So lieb hatte er sie getröstet und doch selbst sehr traurig und bedrückt ausgesehen.
Sie hatte sich an ihn geschmiegt.
»Laß mich mit dir gehen«, hatte sie gebettelt.
Und in dem Moment hatte er das Medaillon, das an einem schwarzen Band um ihren Hals hing, geöffnet. Als er das liebliche Frauenbild sah, war ein gramvoller Ausdruck in seine Augen getreten. Krampfhaft hatte er sie an sich gepreßt und sie wieder und wieder geküßt.
»Es geht nicht, mein Liebling – vielleicht später, wenn du groß bist. Jetzt mußt du ins Pensionat und mußt viel lernen. Dort findest du fröhliche Gefährtinnen, und ich besuche dich, sooft ich kann. Du bist mein liebes vernünftiges Kind, das mir keine Sorgen macht.«
Nein – Sorgen wollte sie dem geliebten Onkel gewiß nicht machen. Aber sie hatte doch gesagt:
»Ich will keine fröhlichen Gefährtinnen, ich will nur dich.«
Er war jedoch fest geblieben und hatte sie in ein vornehmes Genfer Pensionat gebracht, dessen Vorsteherin Madame Schöpfing war.
Liane gewöhnte sich dort bald ein und ihre heitere und sonnige Natur hatte auch Gefallen gefunden an der Gesellschaft ihrer jungen fröhlichen Pensionatsgenossinnen. Aber ihres Herzens Sehnsucht galt doch immer Onkel Joachim.
Endlich war denn auch ihr heißer Wunsch in Erfüllung gegangen. An ihrem neunzehnten Geburtstag schrieb er ihr, sie möge nur noch ein halbes Jahr warten, dann werde er sie heimholen – nach Berlin.
Ach, war ihr dieses letzte halbe Jahr lang geworden. Aber endlich war es doch vergangen und noch einige Wochen darüber. Dann kam Onkel Joachim und holte sie ab. Er führte sie in das hübsche, behagliche Heim, wo sie von Frau Doktor Bartels empfangen wurde. Diese gefiel ihr gleich nicht so recht, aber das ging alles unter in ihrer Freude, bei Onkel Joachim zu sein. Die Freude hielt freilich nicht lange an. Nach wenigen Tagen mußte er schon wieder abreisen und ließ sie mit Frau Doktor Bartels allein. Sie sah ihn im Grunde nicht öfter und länger als früher. Jedes Vierteljahr kam er nur auf acht bis zehn Tage heim. Aber dann gehörte ihr auch jede Stunde, jede Minute seiner Zeit. Und in die kurzen Tage ihres Beisammenseins drängte sich dann alles, was sie einander Liebes zu tun und zu sagen hatten.
Nie ging er in diesen Tagen mit ihr aus. Es fiel Liane nicht auf, daß er es vermied. Er sagte ihr, da er so viel draußen in der Welt sein müsse, wäre es ihm eine Erholung, ganz stillfriedlich mit ihr zu Hause zu sitzen. Sie könne ja mit Frau Doktor ausgehen, so viel sie wolle.
Liane war bisher nie dazu gekommen, sich Gedanken über die Art des Verhältnisses zu machen, in dem sie zu Onkel Joachim stand. Es erschien ihr so selbstverständlich, daß sie alles von ihm bekam und alles von ihm nahm, als ob er wirklich ihr Vater wäre.
Nur in dem letzten Vierteljahr, seit seinem letzten Hiersein, war zuweilen bei Frau Doktor Bartels seltsamen Reden blitzartig ein unruhiges Gefühl aufgetaucht in ihrer Seele.
Einmal hatte diese geäußert:
»Es ist doch ein recht seltsames Verhältnis zwischen Ihnen und Graf Rastenau. Wie er nur dazu kommt, sich so fürsorglich einer bürgerlichen Waise anzunehmen! Sie sind ja freilich ein sehr schönes Mädchen, und er muß Sie unsinnig lieb haben, daß er Ihnen solche Opfer bringt.«
Vor wenigen Tagen hatte sie wieder eine Bemerkung fallen lassen, die in Liane eine beklemmende Unruhe auslöste und einen direkt frivolen Beigeschmack hatte.
Da hatte Liane sie entrüstet zurückgewiesen und sie dringend ersucht, derartige ihr unverständliche Reden zu unterlassen.
Frau Doktor hatte sie mit wahrhaft gehässigen Blicken gemessen und höhnisch geantwortet:
»Tun Sie doch nur nicht so stolz und prüde. Das ist ja gar nicht Ihr Ernst. Wenn Sie wirklich stolz wären, dann dürften Sie sich doch nicht von Graf Rastenau aushalten lassen, mit dem Sie doch in keiner Weise verwandt sind. Mir können Sie keinen Sand mehr in die Augen streuen. Ich weiß jetzt sehr genau, wer Sie sind und was ich von Ihnen zu halten habe.«
In ihrer Herzensunschuld ahnte Liane nicht, was Frau Doktor Bartels damit hatte sagen wollen. In ihr blieb nur ein unangenehmes Gefühl zurück und die Frage, ob es wohl ein Unrecht sei, von Onkel Joachim alles Gute anzunehmen, als ob sie in Wahrheit sein liebes Kind wäre.
Dies bedrückte sie bis heute, und sie hatte sich vorgenommen, offen mit Onkel Joachim darüber zu sprechen, wenn er wiederkam.
Nun er aber vor ihr saß in seiner liebevoll väterlichen Art, da schalt sie sich selbst kleinlich und töricht.
»Ich würde ihn nur betrüben damit«, dachte sie und schwieg. Alle Sorgen waren unter seiner treuen, liebevollen Fürsorge schlafen gegangen. Sie plauderte froh und heiter mit ihm und war glücklich in der Sicherheit, von ihm beschützt zu werden.
Auch fiel ihr nun ein Stein vom Herzen, weil Frau Doktor Bartels entlassen werden sollte.
Es war einige Tage später. Graf Rastenau hatte soeben mit Liane und Frau Doktor Bartels das Mittagessen eingenommen, als er zu Liane sagte:
»Liebes Kind, du läßt mich, bitte, einige Minuten mit Frau Doktor allein, ich habe etwas mit ihr zu besprechen.«
Liane erhob sich sogleich. Sie wußte, was kommen würde und war froh, nicht Zeuge sein zu müssen, wenn Onkel Joachim Frau Doktor ihre Entlassung ankündigte. Mit einem kurzen Gruß entfernte sie sich.
»Ich komme später hinüber in deinen Salon, Liane!« rief ihr der Graf nach.
Sie nickte ihm lächelnd zu und verschwand.
Eine Weile sah er sinnend hinter der schlanken Gestalt her. Liane hatte sich zu einer holden, lieblichen Schönheit entfaltet, und die Grazie und Anmut ihres Wesens entzückten ihn täglich aufs neue. Es erfüllte ihn mit zärtlichem, väterlichem Stolz, daß sie wie eine herrliche Blume erblüht war.
Wie weh es ihm tat, nur so selten bei ihr sein zu können, wußte nur er allein. Am liebsten hätte er sie nie von seiner Seite gelassen.
»Sie wünschen mir etwas zu sagen, Herr Graf?«
Mit ihrer Frage riß ihn Frau Doktor Bartels aus seinen Gedanken. Er richtete sich straff empor. Der weiche, gütige Ausdruck verschwand von seinem Gesicht. Es nahm einen strengen, entschlossenen Zug an.
In diesen Tagen hatte er, durch Lianes Worte angeregt, die Frau scharf und kritisch beobachtet. Und das Ergebnis seiner Beobachtungen war der feste Wille, sie zu entlassen.
»Allerdings, Frau Doktor. Ich will Ihnen mitteilen, daß ich leider gezwungen bin, Sie zu entlassen. Da wir heute den ersten Mai haben, ist es ein geeigneter Kündigungstermin. Ich muß Sie bitten, am ersten Juni mein Haus zu verlassen.«
Frau Doktor Bartels hatte sich jäh verfärbt. Ihr Gesicht bekam einen bösen, hämischen Ausdruck.
»Oh – Fräulein Liane hat mich wohl bei Ihnen verklatscht, Herr Graf?« fuhr es ihr zornig heraus.
Mit großen kalten Blicken sah er sie an.
»Fräulein Liane klatscht nicht. Das überläßt sie ungebildeten Leuten.«
»Nun, Sie selbst sind doch bisher mit mir zufrieden gewesen. Nur Fräulein Liane behagte es nicht, daß ich ihr ein wenig auf die Finger sehe. Deshalb verlangt sie von Ihnen, daß Sie mich entlassen sollen. Das weiß ich sehr wohl. Sie selbst haben sicher nichts an mir auszusetzen. Sie müssen mir doch zugeben, daß ich außerordentlich diskret gewesen bin und den seltsamen Verhältnissen, die in diesem Haus herrschen, Rechnung getragen habe, obwohl auch ich mancherlei daran auszusetzen hatte.«
Er ließ seine kritischen Augen nicht von ihrem häßlich entstellten Gesicht.
»Ich verstehe Sie nicht! Was meinen Sie für seltsame Verhältnisse?« fragte er scharf.
Sie zögerte eine Weile und sah ihn an, als taxiere sie, wie weit sie gehen dürfe ihm gegenüber. Endlich sagte sie mit einem sonderbaren Ausdruck:
»Das ist wohl nicht schwer zu erraten. Sie wissen doch sicher besser als ich, daß Sie sozusagen ein Doppelleben führen.«
Er zuckte zusammen und erblaßte. Und sie wußte, daß sie ins Schwarze getroffen hatte, obwohl er sich gleich wieder in der Gewalt hatte.
»Ein Doppelleben? Wollen Sie mir nicht erklären, was Sie damit meinen?« fragte er mit unterdrückter Erregung.
Gerade seine Erregung gab ihr die Gewißheit, daß sie Trümpfe in der Hand hatte. Jetzt gab es für sie keine Zurückhaltung mehr, sie deckte ihre Karten auf. Gerade, weil sie sich im Anfang gewisse Hoffnungen auf diesen Mann gemacht hatte, die sie als vergeblich hatte erkennen müssen, lockte es ihre niedrige Natur, ihn zu demütigen, wie er sie durch die Entlassung demütigte.
»Soll ich wirklich deutlicher werden?« fragte sie drohend.
Seine Gestalt straffte sich, seine Augen blitzten. Er fühlte eine nahende Gefahr, und das rief seine Energie und seine Entschlossenheit wach.
»Ich muß sogar dringend darum bitten«, erwiderte er schroff.
Kampfbereit richtete sie sich empor.
»Nun wohl! Als Sie mich vor etwa Jahresfrist engagierten, sagten Sie mir, daß Sie meiner als Hausdame und als Ehrendame für Ihre ›Pflegetochter‹ bedürften. Ich kam hierher, und Sie empfingen mich in ›Ihrer Wohnung‹. Sie bedeuteten mir, daß Sie Ihre Pflegetochter in wenigen Tagen hierherbringen würden. Ich hatte natürlich keine Ahnung, daß hier nicht alles klipp und klar war. Sonst hätte ich diese Stellung nicht angenommen. Zwar fiel mir gleich zu Anfang mancherlei auf. Ich fragte mich, wie ein Graf Rastenau zu einer bürgerlichen Pflegetochter kam und warum er gar so zärtlich zu ihr war. Und es erschien mir seltsam, daß Sie stets auf Reisen waren und nur selten einige Tage hier verlebten, ohne jemals mit Fräulein Liane das Haus zu verlassen. Aber ich schwieg und erlaubte mir keine Kritik. Damals glaubte ich noch an die Pflegetochter.«
Graf Rastenau zuckte wieder leise zusammen, aber er faßte sich schnell.
»Weiter«, gebot er rauh.
»Als Sie jedoch das letztemal hier waren – Anfang Februar –, erhielt ich von einer befreundeten Dame die Nachricht, daß sie auf der Durchreise Berlin berühre und sich freuen würde, mit mir auf ein Stündchen bei Josty zusammenzutreffen. Ich sagte zu. Diese Dame war Frau Schuldirektor Schwarze aus Thüringen.«
Sie machte eine Kunstpause. Diesmal hatte sich Graf Rastenau in der Gewalt. Kein Zug in seinem Gesicht verriet irgendwelche Erregung.
»Und weiter?« fragte er fast ironisch.
Sie sah, daß die Adern an seiner Stirn anschwollen und ließ sich nicht mehr irremachen. Sie rückte sich breit in ihrem Sessel zurück, als wolle sie behaglich ein interessantes Schauspiel genießen.
»Ich traf also meine Freundin bei Josty. Wir saßen am Fenster und schauten hinaus. Und da gingen Sie vorüber, Herr Graf. Meine Freundin richtete sich lebhaft auf und stieß mich an. ›Sieh – der Herr, der hier eben vorübergeht, ist Graf Joachim Rastenau,‹ sagte sie. Ich blickte sie fragend an. Sie wußte nicht, daß ich als Hausdame bei Ihnen angestellt war. Mir liegt nichts daran, meine Bekannten wissen zu lassen, daß ich mir in abhängiger Stellung noch etwas verdienen muß, weil ich sonst nicht auskomme mit meiner kleinen Rente. ›Kennst du denn Graf Rastenau?‹ fragte ich vorsichtig, ohne zu verraten, daß ich Sie sehr gut kenne. Meine Freundin nichte eifrig. ›Natürlich kenne ich ihn. Den kennt doch in unserem Städtchen jedes Kind. Er ist der reiche Majoratsherr Graf Rastenau, der außer Schloß Rastenau noch vier oder fünf große Güter besitzt. Drei davon liegen in unserer nächsten Umgebung. Er ist zuweilen hier mit seinem Automobil, und auch in dem benachbarten Thüringer Luftkurort habe ich ihn schon oft gesehen, wenn wir dorthin einen Ausflug machten!‹ Ich stutzte natürlich, Herr Graf, und ließ mir von meiner Freundin alles erzählen, was sie von dem Majoratsherrn Graf Rastenau wußte, ohne ihr zu verraten, wie gut ich ihn kannte – und unter was für ganz anderen Umständen. Und da erfuhr ich zu meiner großen Überraschung, daß Graf Joachim Rastenau durchaus nicht Junggeselle war, wie ich hatte annehmen müssen und wie Fräulein Liane, so viel ich wußte, auch glaubte, sondern daß er verheiratet ist und eine sechzehnjährige Tochter hat. Ich erfuhr, daß Sie nicht den größten Teil des Jahres auf Reisen sind, sondern auf Schloß Rastenau wohnen und nur zuweilen von dort verreisen – nach Ihrem ›Heim‹ in Berlin, von dem natürlich dort kein Mensch eine Ahnung hat. So, Herr Graf, nun wissen Sie, was ich mit Ihrem Doppelleben bezeichnen will.« Aufatmend und befriedigt schwieg Frau Doktor Bartels still.
Graf Rastenau hatte Zeit gehabt, sich zu fassen. Diese Entdeckung kam ihm unerwünscht und unerwartet. Aber er hatte doch stets mit einer solchen Entdeckung rechnen müssen. Immer hatte er daran gedacht, daß ein Zufall sie herbeiführen könne und war nun schnell gewappnet.
Mit eisiger Ruhe richtete er sich auf und sah fast spöttisch in die lauernden Augen dieser gefährlichen Frau.
»Nun – und was weiter?« fragte er mit ironischer Überlegenheit.
Sie war durch diese Ruhe verwirrt. Was sie ihn kostete, wußte sie zum Glück nicht. Sie ahnte auch nicht, daß jeder Nerv in ihm fieberte, und wie er alle Sinne anspannte, um dem Schlag zu begegnen, zu dem das Schicksal eben ausgeholt hatte.
Etwas weniger zuversichtlich fuhr Frau Doktor Bartels fort:
»Sie können sich doch denken, Herr Graf, daß mir der Bericht meiner Freundin sehr interessant war. Mit einem Mal wußte ich nun, was es mit Ihren seltsamen Reisen für eine Bewandtnis hatte.«
Er behielt äußerlich seine ironische Ruhe.
»Darüber hatten Sie sich wohl schon sehr den Kopf zerbrochen?« spottete er, erkennend, daß sein Spott sie immer unsicherer machte.
»Natürlich denkt man über so etwas nach. Ich merkte doch, daß ich düpiert worden war.«
Er zuckte die Achseln.
»Ich wüßte nicht, daß ich verpflichtet wäre, Ihnen über meine Familienverhältnisse Aufschluß zu geben. Und es handelt sich doch hier lediglich um Familienangelegenheiten, die niemand etwas angehen als die Beteiligten. Da Sie aber an diesen Dingen, wie mir scheint, und zwar ganz unberechtigterweise, allerlei auszusetzen zu haben scheinen, so begrüßen Sie es ja sicher als eine Erlösung, daß ich Sie entlasse.«
Jetzt zuckte Frau Doktor Bartels zusammen. Mit ihrer Enthüllung hatte sie gehofft, das Heft in die Hand zu bekommen und Bedingungen stellen zu können. In dieser Hoffnung sah sie sich nun durch das scheinbar wirkungslose Verpuffen ihres Angriffs betrogen.
»Sie wollen mich also wirklich entlassen, Herr Graf?« fragte sie heiser.
»Ich bedauere, dazu gezwungen zu sein«, erwiderte er bestimmt. Denn gerade diese Unterredung hatte ihm zur Genüge gezeigt, daß diese Frau nicht die geeignete Beschützerin Lianes sein konnte.
Sie erhob sich mit gehässig flimmernden Augen. »Undank ist der Welt Lohn!« sagte sie wütend.
Er erhob sich gleichfalls.
»Bin ich Ihnen irgendwelchen Dank schuldig?« fragte er mit der vornehmen Sicherheit des Weltmannes.
»Nun, ich denke doch zum mindesten dafür, daß ich Fräulein Liane nichts davon erzählte, daß Sie eine Gemahlin und eine Tochter haben, die nicht sehr viel jünger ist, als Fräulein Liane selbst.«
Ganz unmerklich zuckte es in seinen Augen auf. Aber er verlor seine Überlegenheit nicht. Er sah jetzt ein, daß er Liane dies Geheimnis doch nicht länger vorenthalten konnte. Frau Doktor würde sicher ihre Niederlage rächen wollen und würde vor allen Dingen Liane mit ihren Entdeckungen nicht länger verschonen. Deshalb war es besser, er selbst klärte sie schleunigst auf.
Mit einem kühlen, überlegenen Blick sagte er ruhig und bestimmt:
»Sie hätten es ihr ruhig erzählen können. Anscheinend vermuten Sie Geheimnisse, wo keine sind. Fräulein Liane weiß das alles. Es ist ihr bekannt, daß ich verheiratet bin und eine Tochter habe. Sie brauchen sich also nicht erst zu bemühen.«
Fassungslos sah sie ihn an. Dann stieß sie empört hervor:
»Das ist stark!«
Er wußte nicht recht, was sie mit diesem Ausruf meinte. Und er hatte keine Lust, länger mit ihr zu debattieren. Deshalb sagte er kurz:
»Es scheint mir nun für beide Teile ersprießlicher, wenn Sie Ihren Aufenthalt hier im Haus nach Möglichkeit abkürzen. Fräulein Liane wird sich mit den beiden Dienstboten behelfen, bis eine Nachfolgerin für Sie engagiert ist. Für Gehalt und Verpflegung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist komme ich auf.«
Sie warf, wütend, daß all ihr Pfeile wirkungslos abprallten, den Kopf zurück. Wie gut sie getroffen hatte, ahnte sie nicht.
»Also gut, sobald ich ein geeignetes Unterkommen gefunden habe, verlasse ich dies Haus«, sagte sie schroff und ging hinaus. Aber sie nahm sich vor, mindestens so lange zu bleiben, bis er wieder abgereist war, denn sie wollte, wenigstens an Liane ihre Rache zu kühlen versuchen. Und das konnte sie nur tun, wenn der Graf nicht als Beschützer neben ihr stand.
Hätte Graf Joachim Rastenau nur eine leise Ahnung gehabt, welchen niedrigen Verdacht Frau Doktor Bartels in ihrer Seele trug, er wäre außer sich gewesen und hätte keinesfalls Liane auch nur noch eine Stunde mit ihr allein gelassen. Er glaubte aber, der Verdacht dieser Frau ziele nach einer ganz anderen Richtung.
Er war, als sie ihn verlassen hatte, mit düsterer, gespannter Miene eine Weile im Zimmer auf und ab gegangen. Jetzt, da er allein war, hatte er die ruhige Maske fallen lassen. Auf einmal blieb er stehen und preßte die Hände vor das zuckende Antlitz. Tief und schwer, einem Stöhnen gleich, kam der Atem aus seiner Brust. Aber dann richtete er sich auf, und in seinem blassen Gesicht prägte sich eine eiserne Entschlossenheit aus.
Es muß durchgehalten werden. Kein Mensch darf die Wahrheit ahnen. In meinem Herzen muß dies Geheimnis vergraben bleiben. Liane muß jetzt wissen, was ihr diese Frau verraten könnte – nur durch mich soll sie es erfahren. Es wird sie ohnedies hart genug treffen, dachte er.
Und endlich ging er mit schnellen, entschlossenen Schritten hinüber in Lianes Salon. Diese hatte wartend am Fenster gesessen und wollte gerade anfangen, ein wenig zu musizieren. Als er eintrat, wandte sie sich schnell von dem Flügel ab und hing sich zutraulich an seinen Arm.
»Ist das Unangenehme überstanden, Onkel Joachim?« fragte sie.
Er nickte ihr zu.
»Ja, Kind, ich habe Frau Doktor Bartels gekündigt. Sie wird so bald wie möglich das Haus verlassen.«
Liane seufzte auf. Ihr schönes Gesicht, aus dem die braunen Augen in so lieblich stolzer Reinheit strahlten, wandte sich dem väterlichen Beschützer zu. Um den feinen Kopf waren die starken, goldblonden Flechten, die ihr herrlichster Schmuck waren, in schlichter Weise gelegt. Sie wußte nicht, wie entzückend sie aussah, und gerade das machte den stärksten Zauber ihres Wesens aus.
»Wie nahm sie die Kündigung auf, Onkel Joachim?« fragte sie.
Er sah grübelnd vor sich hin, weil er nicht wußte, wie er mit seiner Eröffnung beginnen sollte.
»Sie war ziemlich beleidigt.«
»Das kann ich mir denken.«
»Man muß sich aber nicht daran kehren. Da sie unseren Anforderungen nicht entsprach, mußte ich sie entlassen. Du wirst vielleicht einige Zeit mit den beiden Dienstboten allein bleiben müssen, bis ich einen besseren Ersatz gefunden habe. Das muß natürlich so schnell wie möglich geschehen, ich muß dich unter guter Hut wissen.«
»Oh, lieber bleibe ich allein, als in ihrer Gesellschaft.«
»Ich glaube es dir. Sie ist ein niedriger Charakter, das hat sie mir heute offenbart. Aber allein darfst du nicht bleiben. Ich will alles daran setzen, schnell eine passende Dame zu finden.«
Liane nickte.
»Nun denk nicht mehr daran. Ganz blaß und verstimmt siehst du aus, Onkel Joachim. Das will ich gar nicht sehen. Was kann ich tun, dich froh zu machen?«
Er wollte noch eine Frist haben.
»Sing mir ein Lied, Liane«, bat er.
Sie setzte sich bereitwillig an den Flügel, und nach kurzem Nachdenken begann sie ein Vorspiel. Dann fiel ihre Stimme ein – eine von den vollen weichen Frauenstimmen, die einen so warmen, dunklen Klang haben, der zu Herzen geht und von Herzen kommt.
Sie sang zwei Lieder ihres Lieblingskomponisten Grieg. Zuerst »Mein Schwan, mein stiller, wie glänzt dein Gefieder«, und dann das heitere Lied: »Agnes, mein reizender Schmetterling«.
Der Sturm in Graf Joachims Seele ebbte ab unter diesen Klängen. Er wurde ruhiger und sah nun einen Weg vor sich, den er gehen konnte.
Schelmisch sah sie sich nach ihm um. »Ist’s nun besser?«
Er nickte. »Ja, kleine Zauberin. Darf ich in deinem Salon eine Zigarette rauchen?«
Sie sprang auf. »Hier steht schon alles bereit. Ich weiß doch, daß du nach Tisch gern rauchst.«
»Stört es dich auch nicht?«
Sie setzte sich ihm gegenüber und lächelte.
»In der Pension haben wir auch zuweilen heimlich Zigaretten geraucht – allerdings wohl nur, weil es Madame Schöpfing verboten hatte. Aber man kommt dann doch auf den Geschmack.«
»Dann leiste mir Gesellschaft.«
»Gern.«
Er bediente erst sie in seiner vornehm ritterlichen Art, dann sich selbst. Und nun wollte er mit seiner Beichte beginnen. Liane kam ihm ahnungslos selbst zu Hilfe.
»Weißt du, Onkel Joachim, daß heute Tante Lotts Todestag ist?«
Er sah sie nachdenklich an.
»Nein, Liane, das hatte ich vergessen. Die gute alte Tante Lott – wäre sie doch am Leben geblieben. Du hattest es so gut bei ihr.«
Sie faßte seine Hand und legte ihre Wange darauf.
»Bei dir habe ich es doch besser. Ich dachte vorhin an Tante Lotts Sterbestunde, in der sie mir dies Medaillon gab mit dem Bild meiner Mutter. Ihr zu Ehren habe ich es umgebunden.«
Er sah auf das Medaillon.
»Vorhin trugst du es noch nicht.«
Sie faßte spielend nach dem Elfenbeinmedaillon.
»Nein, ich dachte erst an Tante Lotts Todestag, als ich allein war. Ich habe mir meiner Mutter Bild betrachtet. Mir scheint, ich bin ihr sehr ähnlich geworden.«
»Sehr, Liane. Manchmal überrascht mich diese Ähnlichkeit. Du armes Kind hast deine Mutter viel zu früh verloren.«
Sie schmiegte sich an ihn.
»Ich habe ja dich, Onkel Joachim.«
Das klang so rührend lieb, daß seine Augen sich feuchteten.
»Die Mutter kann dir niemand ersetzen, Liane.«
Sie seufzte leicht auf.
»Ich war noch zu jung, als ich sie verlor, und habe den Verlust in seiner ganzen Größe nie empfunden. Und wenn du mir auch die Mutter nicht ersetzen konntest, den Vater hast du mir voll und ganz ersetzt.«
Bewegt zog er sie an sich.
»Hast du den Vater nie vermißt?«
»Nein, du ließest es nie dazu kommen.«
Er atmete tief auf.
»Es war mein innigstes Bestreben, ihn dir zu ersetzen.«
»Denke dir«, sagte sie versonnen, »von meinem Vater kann ich mir keine Vorstellung machen, nur von meiner Mutter.«
»Das macht wohl, weil du von ihr ein Bildchen hast und von deinem Vater nicht.«
Sie nickte. »Das mag sein. Aber ich glaube noch mehr deshalb, weil deine Persönlichkeit mich das Andenken an meinen Vater fast vergessen ließ. Du hattest ihn sehr lieb, nicht wahr?«
Er strich ihr leise über ihr Haar.
»So lieb – wie mich selbst.«
»Ihr wart beide Offiziere eines Regiments?«
»Ja, wir waren unzertrennlich, und einer trat stets für den anderen ein – in allen Lebenslagen.«
»So hätte wohl mein Vater auch in gleicher Weise für dein Kind gesorgt, wenn du eins hinterlassen hättest, wie du es für mich tust?«
»Ja, Liane, das hätte er sicher getan.«
Sie dachte bei dieser Frage an die quälenden Worte von Frau Doktor Bartels, als sie von der unbegreiflichen Fürsorge Onkel Joachims für sie sprach. Nun atmete sie erleichtert auf.
»Nicht wahr, deshalb darf ich auch alles Gute unbedenklich von dir annehmen, es braucht mich nicht zu bedrücken?«
Erschrocken faßte er ihre Hände.
»Aber Liane, welch ein törichter Gedanke! Machst du mich nicht glücklich, weil du mich für dich sorgen läßt, wie für ein eigenes Kind?«
»Ich möchte dir nur meine Dankbarkeit noch mehr beweisen.«
»Das tust du doch mit jedem Atemzug.«
»Ja, aber ich möchte etwas recht Schweres tun, um meinen Dank abzutragen.«
»Sprich nicht davon, du bist mir keinen Dank schuldig.«
Sie lächelte reizend und sah ihn mit den goldbraunen Sonnenaugen schelmisch an.
»Das weiß ich besser.«
Er sah sie lange an. Wie schön und hold sie war. Ein tiefer Seufzer entfloh seiner Brust. »Du wirst deiner Mutter wirklich von Tag zu Tag ähnlicher.«
»Oh, das freut mich sehr. Tante Lott hat es mir auf dem Sterbebett gesagt, ich soll wie meine Mutter werden. Sie sei lieb und gut gewesen.«
»Wie ein Engel, Kind. Bleib ihr immer ähnlich an Leib und Seele«, sagte er bewegt.
Liane wurde ernst. »Warum ist meine Mutter so jung gestorben?«
Er starrte vor sich hin.
»Weil die Engel im Himmel der Erde diese Schwester nicht lassen wollten. Sie war so gut, viel zu gut für diese Welt. Es herrschte damals eine bösartige Influenza. Deine Mutter bekam eine schwere Lungenentzündung und starb nach wenigen Tagen.«
»Vielleicht hätte sie die Krankheit überstanden, wenn sie den echten Willen zum Leben gehabt hätte. Ich denke mir, die Sehnsucht hat sie meinem Vater nachgezogen. Du sagtest mir doch einmal, sie habe ihn über alles geliebt.«
Er nickte. Seine Augen glänzten feucht.
»Ja – sie hat ihn sehr geliebt.«
Liane sah ihn an. Wenn Onkel Joachim von ihrer Mutter sprach, dann hatte sie immer das Gefühl, als müsse auch er sie sehr geliebt haben. Nie hatte sie danach gefragt. Aber heute brannte ihr die Frage aus den Augen. Sie faßte seinen Arm.
»Onkel Joachim, ich möchte wissen, weshalb du dich nicht verheiratet hast.«
Es ging wie ein Ruck durch seine Gestalt. Da war die Gelegenheit, ihr sein Geständnis zu machen. Er faßte ihre beiden Hände.
»Weißt du denn so sicher, daß ich nicht verheiratet bin? Ich habe das doch nie behauptet.«
Sie zuckte betroffen zusammen und sah in seine fieberhaft glänzenden Augen.
»Onkel Joachim?« fragte sie bang.
Er holte tief Atem.
»Würde es dir weh tun, Liane, wenn ich dir sagte, daß ich verheiratet bin?«
Sie wurde ein wenig blaß, und ihr Atem stockte.
»Weh tun? Ich weiß nicht. Aber das ist ja nur ein Scherz von dir«, sagte sie hastig.
»Wenn es aber ernst wäre, Kind?«
Sie schüttelte wie in ängstlicher Abwehr den Kopf.
»Ach nein – wo hättest du denn deine Frau? Sie ist ja nicht hier. Du willst mich necken. Das hättest du mir doch nicht verheimlicht.«
Wie ein Stöhnen kam es über seine Lippen.
»Manchmal gibt es einen Zwang zu Heimlichkeiten, meine kleine Liane. Wie nun, wenn solch ein Zwang mich verhindert hätte, dir zu sagen, daß ich verheiratet bin?«
Sie sprang plötzlich auf und trat dicht vor ihn hin. Ihre Augen blickten wie erloschen in die seinen.
»Onkel Joachim, du machst so ernste Augen, als sei das wahr. Sag mir – sag mir schnell. Ist das wahr? Bist du verheiratet?« fragte sie mit tonloser Stimme.
Er zog sie neben sich nieder und legte wie schützend den Arm um sie.
»Ruhig, ruhig, mein liebes Kind! Ich hätte es dir gern für immer verschwiegen, um dich nicht zu beunruhigen. Dieser Umstand übt ja auf unser beiderseitiges Verhältnis gar keinen Einfluß aus. Aber nun bin ich doch gezwungen, es dir zu sagen. Ein Zufall hat es bei meinem letzten Hiersein Frau Doktor Bartels verraten und ich fürchte, sie bringt es dir in schonungsloser Weise zur Kenntnis. Sie spielte es mir gegenüber ziemlich unverschämt als Trumpf aus, und um ihr den Triumph nicht zu gönnen, daß sie mich erschreckt hat, habe ich mir sogar den Anschein gegeben, als wüßtest du es längst. Es lag eine heimliche Drohung in ihren Worten, und die wollte ich abwehren. Von keinem anderen Menschen sollst du es hören, als von mir. Also ja, mein liebes Kind, ich bin verheiratet.«
Sie sah ihn mit erloschenen Augen an und barg dann ihr Gesicht an seiner Schulter.
»Seit wann, Onkel Joachim?« fragte sie leise.
»Seit langen Jahren schon, Liane. Als du in der Schweiz bei Tante Lott lebtest, etwa ein Jahr nachdem ich dich dorthin gebracht hatte, da habe ich mich verheiratet. Tante Lott wußte es, sie riet mir, es dir zu verschweigen, weil ich dich nicht zu mir nehmen konnte. Wir dachten ja, du könntest immer bei ihr bleiben. Und nachher fand ich nicht den Mut, es dir zu sagen.«
»Warum nicht?«
Er sah düster vor sich hin.
»Ich hätte es vielleicht doch lieber tun sollen. Aber ich habe es gut gemeint, Kind. Hätte ich dich in meine Familie aufnehmen können, so hätte ich es dir gewiß nicht verschwiegen. Aber meine Ehe war eine Vernunftehe, die von den Verhältnissen geboten war. Und meiner jungen Frau wollte und konnte ich nicht zumuten, ein fremdes Kind aufzunehmen. Und später, als wir uns näherkamen – da war eben der rechte Augenblick verpaßt, und ich konnte meiner Frau nicht mehr von dir sprechen. Inzwischen hatte uns der Himmel ein Töchterchen geschenkt.«
Liane preßte erregt das Gesicht in die Hände.
»Eine Tochter hast du auch – eine richtige Tochter?« fragte sie mit versagender Stimme.
Liebevoll zog er ihr die Hände vom Gesicht.
»Ja Liane, eine sechzehnjährige Tochter – ein liebes, frisches, wildes Ding. Aber sieh, sie ist nun schon sechzehn Jahre alt und hat dir nichts von meiner Liebe genommen. Ich habe für euch beide genug. Es tut mir weh, daß dich das so sehr erschüttert. Beruhige dich! Das alles ändert doch nichts an unserem Verhältnis zueinander.«
Mit einem traurigen Blick sah sie ihn an.
»Doch, Onkel Joachim, für mich ändert das viel – sehr viel,« sagte sie mit tonloser Stimme.
Gramvoll sah er sie an.
»Hast du mich etwa nun nicht mehr lieb?«
Sie warf sich an seine Brust.
»Doch, du bist und bleibst der liebste Mensch, den ich auf Erden habe. Aber bisher habe ich geglaubt, daß ich auck für dich der einzige Mensch bin, den du liebst. Und nun weiß ich, daß ich dich mit anderen teilen muß.«
Er schüttelte den Kopf.
»Liebe teilt man nicht. Sie vermehrt sich ganz von selbst, wenn man sein Herz noch anderen Menschen erschließt. Man kann viele Menschen in gleich starker Weise lieben. Wenn ein Vater viele Kinder hat, liebt er nicht jedes mit der gleichen herzlichen Innigkeit? Und hast du je gemerkt, daß ich dich darben lasse an Liebe? In meinem Herzen liebe ich zwei Kinder, dich und meine kleine Steffie. Und für euch beide habe ich Liebe genug. Nie wird daran etwas geändert werden.«
Sie lächelte schmerzlich.
»Nur, daß ich jetzt weiß, daß ich nicht dein einziger lieber Mensch bin. Zürne mir nicht, Onkel Joachim, daß ich es dir so schwer mache. Sicher ist es schlecht von mir, daß ich mich nicht darüber freuen kann, daß du eine Frau und eine Tochter hast. Vielleicht lerne ich es noch. Aber jetzt – jetzt tut es mir so weh – weil ich nun kein Recht mehr an deine Liebe habe.«
Er streichelte ihr Haar und trocknete ihr die Tränen, die jetzt über ihre Wangen liefen. Mit herzlichen Worten tröstete er sie. Aber sie konnte das traurige Gefühl nicht aus ihrem Herzen bannen.
Liebevoll zog er sie zu sich nieder und suchte sie zu beruhigen. Und plötzlich richtete sie sich auf.
»Ach, nun weiß ich auch, was es mit deinen Reisen für eine Bewandtnis hat. Das sind gar keine Geschäftsreisen, die dich mir immer so lange fernhalten. Du hast ja hier bei mir gar keine Heimat. Deine Heimat ist bei deiner Frau und deiner Tochter. Zu mir kommst du nur zu Besuch, nicht wahr?«
Er seufzte.